Kapitel 19
Larissa Depruit widmete sich dem Abwasch, als sie hörte, wie der Schlüssel in der Haustür gedreht wurde. Verwundert wischte sie sich die nassen Hände an dem über ihrer Schulter hängenden Tuch ab und ging in den Eingangsbereich. Vor Schreck hätte sie beinahe aufgeschrien. „Liebling, was machst du denn hier? Warum bist du nicht bei der Arbeit? Und wer sind diese Männer?“
Henry fasste seine Frau bei den Händen und zog sie ins Wohnzimmer. „Chérie, das ist Inspecteur Jérémie Russeau.“ Er zeigte auf Jérémie, der ihnen ins Wohnzimmer gefolgt war. „Die beiden Begleiter werden sich jetzt in unserem Haus umsehen und er selbst wird dir einige Fragen stellen. Ich bitte dich, diese so gut es geht zu beantworten.“
Larissa zupfte nervös an ihrem Abtrocknungstuch herum. „Was hat das alles zu bedeuten?“
„Madame Depruit, ich weiss, Sie stehen eine harte Zeit durch. Aber ich wäre ihnen dankbar, wenn Sie mir einige Fragen beantworten könnten, auch wenn es für Sie schwer werden dürfte, über die Affäre Ihres Mannes zu sprechen.“ Mit jedem von Jérémies Worten schien sich Larissas Miene noch mehr zu verdüstern. „Inspecteur, ich bitte Sie, mein Haus jetzt wieder zu verlassen.“
„Chérie, bitte, ein bisschen Kooperation deinerseits würde helfen, alles schnell hinter uns zu bringen. Dann könnten wir einen neuen Anfang machen. Das wäre doch schön!“ Sanft redete Henry auf seine Frau ein, aber sie blieb hart.
„Madame, Dina Clement, die Affäre Ihres Mannes, ist tot. Ich möchte diesen Fall gerne zu den Akten legen können, genauso, wie Sie den Fehltritt Ihres Mannes wahrscheinlich ad acta legen möchten. Deshalb frage ich Sie jetzt einfach. Haben Sie Dina Clement je kennengelernt?“
Aus düsteren Augen schaute Larissa Jérémie an. „Verschwinden Sie.“ Es war nicht mehr als ein Zischen, aber Jérémie verstand sehr gut. „In Ordnung, wir gehen. Darf ich vorher aber noch Ihre Toilette benützen?“
Henry deutete ein Kopfnicken an und erklärte Jérémie den Weg. Larissa schwieg, kochend vor Wut und Empörung.
Zurück im Auto zog Jérémie das Röhrchen mit den Tabletten, das er im Badezimmer der Depruits gefunden hatte, aus seiner Jackentasche. Paul liess sich auf den Beifahrersitz gleiten. „Was ist das?“
„Das weiss ich noch nicht, aber ich verwette meinen Hintern darauf, dass Larissa Depruit unsere Tote durchaus kennengelernt hat.“
„Das lesen Sie alles aus diesem Röhrchen?“, fragte Paul möglichst unschuldig nach.
„Nein, natürlich nicht. Aber dieses Röhrchen enthält nicht identifizierte Tabletten und auch wenn Frau Depruit meine Frage nicht beantworten wollte, war ihr Zusammenzucken, als ich sie auf das Kennenlernen ansprach, Antwort genug.“
Plötzlich liess Jérémie vor Schreck das Röhrchen fallen. Das Gesicht, das so unvermittelt vor seinem Fenster auftauchte, konnte er erst nicht zuordnen, doch dann erkannte er Henry. Bevor Jérémie das Fenster herunterliess atmete er noch zwei Mal ein und aus, um sich zu beruhigen.
„Inspecteur, mir ist noch etwas eingefallen. Wie haben sie gesagt, war der Nachname von Dina?“
„Clement. Warum?“
„Seltsam. Mir hat sie sich als Dina Alert vorgestellt.“
Mit einem Kopfnicken nahm Jérémie stirnrunzelnd diese Information zur Kenntnis. Er wusste noch nicht, wo er das soeben gehörte einordnen musste, aber es war klar, dass dieser Fall immer verwirrender wurde. „Danke Monsieur Depruit.“ Jérémie schloss das Fenster wieder, startete den Motor und lenkte das Auto in Richtung der Innenstadt zurück.
Nachdem Jérémie den Autositz wieder mit seinem Bürosessel getauscht hatte, schnappte er sich den Autopsiebericht und begann zu lesen. Wie immer verstand er am Anfang das medizinische Kauderwelsch nur schwer, aber mit der Zeit gewöhnte er sich an die Ausdrücke. Besonders ein Abschnitt weckte sein Interesse. Nach und nach bewegte sich sein Körper wie von Geisterhand geführt in eine aufrechte Position zurück.
„Das darf doch wohl nicht wahr sein.“ Wie vom Blitz getroffen schreckte er dann aus seinem Stuhl auf und stürmte aus dem Revier. Noch während er zu Beths Wohnung eilte, zückte er sein Telefon und versuchte sie auf jeder ihm bekannten Nummer zu erreichen. Vergeblich.
„Wo steckst du denn jetzt schon wieder!“ Fluchend und etwas ausser Atem kam er bei dem Mehrfamilienhaus an. Vor den Messingschildern blieb er stehen und suchte den passenden Namen. Beim letzten Mal hatte er Glück gehabt, dass die Nachbarin herausgekommen ist, diesmal musste er wohl wie jeder andere auch an der Tür klingeln. Doch die Suche verlief ergebnislos. Er besann sich auf den Nachnamen und schaute noch einmal und tatsächlich, er wurde fündig. Leider brachte ihn auch das dem Ziel nicht näher. Jérémie wandte sich bereits zum Gehen, als er sich aus einem Bauchgefühl heraus noch einmal umdrehte und willkürlich bei irgendwelchen Hausbewohnern zu klingeln begann. Irgendjemand schien erbarmen zu haben, denn auf einmal gab das Türschloss unter lautem Summen nach. Jérémie nutzte die Chance und eilte die Treppe hinauf. Die von aufgeschreckten Mietern durch den Hausgang hallenden Fragen nach den Motiven seiner Anwesenheit ignorierend, polterte er an Beths Tür. Es tat sich nichts. „Mensch Mädchen, kannst du nicht einmal zu Hause sein?“ Hin und her gerissen, ob er noch warten oder kapitulieren sollte, liess er seinen Blick über den Türrahmen wandern. Prompt entdeckte er einen Spalt. Neugierig liess er einen Finger hineingleiten. Der Gegenstand, den er ertastete zog er heraus und traute seinen Augen nicht. „Wie verantwortungslos! So kann doch jeder dahergelaufene Penner herein kommen!“ Kopfschüttelnd steckte er den Schlüssel in das Schloss und betrat die Wohnung. Sofort bemerkte er einen seltsam vertrauten Geruch, der dünn in der Luft hing. „Beth? Bist du da?“ Er hörte kein Geräusch, weder fliessendes Wasser, noch klappernde Töpfe und auch keinen Fernseher. „Scheinbar bist du tatsächlich ausgeflogen.“ Der Blick ins Wohnzimmer war durch eine Schiebetür versperrt, die Jérémie kurzerhand aufzog. Beinahe hätte es ihn umgeworfen. Die Woge des unangenehm beissenden Geruchs verschlug Jérémie den Atem. Mit dem Arm vor Mund und Nase und zusammengekniffenen Augen bahnte er sich dennoch einen Weg in das Wohnzimmer. Und dann sah er sie. Regungslos lag sie auf dem Sofa. „Beth!“
Das entwichene Gas flimmerte in sichtbaren Wellen durch den Raum. Jérémie eilte in die Küche. Dort drehte er die Herdplatten ab und kehrte dann sofort ins Wohnzimmer zurück. Er hob Beth hoch und trug sie aus dem Wohnzimmer in den Hausgang. Dort schloss er die Tür der Wohnung wieder und beugte sich dann über Beth. Hastig suchte er nach einer Regung ihres Pulses. Erleichtert stellte er fest, dass ihr Herz noch schlug. Während er die nötigen Massnahmen ergriff, die Beth aus der Bewusstlosigkeit holen sollten, tippte er die Nummer der Polizeistation in sein Mobiltelefon ein und klemmte es sich zwischen Ohr und Schulter. Schnell wurde das Freizeichen durch eine männliche Stimme ersetzt. Kurz und knapp gab Jérémie die nötigen Informationen durch, dann legte er wieder auf, um sich voll und ganz Beth zu widmen. Erleichtert stellte er fest, dass die Mund-zu-Mund-Beatmung bald ihre Wirkung zeigte. Nach Luft schnappend kam Beth hustend und orientierungslos blinzelnd wieder zu sich. Doch anstelle von Mitgefühl und Mitleid wurde sie von kalter Strenge begrüsst.
“Elisabeth Clement, wage es nicht, mir jemals wieder einen solchen Schrecken einzujagen!”
Verwirrt blickte Beth um sich. „Warum liege ich im Gang? Was ist passiert?“
Jérémies Antwort wurde von den näher kommende Sirenen verschluckt die schliesslich vor dem Haus verstummten. Einige Männer kamen bereits die Treppe herauf gerannt, als Jérémie Beth half, sich auf die Stufen zu setzen, damit sie niemandem im Weg war.
„Kann es sein, dass Kochen nicht zu deinen Hobbys zählt?“ Absichtlich einen heiteren Ton anschlagend, wollte Jérémie Beth die gewünschten Informationen entlocken.
„Kochen? Wieso?“ Verständnislos starrte Beth Jérémie an.
„So ein Gasherd hat seine Tücken, das wissen wir alle, du musst dich dafür nicht schämen.“
„Jérémie, was zum Teufel willst du mir sagen?“ Sie war so ehrlich entrüstet, dass Jérémie an keine seiner Theorien mehr glaubte. Darüber hätte er eigentlich froh sein sollen, denn er hatte inständig gehofft, dass sie den Herd nicht absichtlich angelassen hatte, weil ihr alles über den Kopf wuchs. Zumal er die Möglichkeit, dass sie zufällig vier Platten gleichzeitig vergessen hatte auszuschalten, nicht ernsthaft in Betracht gezogen hatte. Über die Bedeutung der dritten und scheinbar richtigen Lösung, wollte er aber noch nicht nachdenken. Der Sanitäter holte Beth ab, womit die Unterhaltung zwangsweise unterbrochen wurde. Während Jérémie sich einen Überblick, über die Situation verschaffte und mit einigen Leuten Rücksprachen hielt, wurde Beth ins Krankenhaus gefahren, damit festgestellt werden konnte, wie viel Schaden das Gas ihrem Körper zugefügt hatte.
„Madame Clement, Sie hatten grosses Glück. Es ist soweit alles in Ordnung. Es fehlen zwar noch Testergebnisse, aber ich kann Ihnen bereits sagen, dass Sie mit etwas Ruhe schon bald wieder vollständig auf den Beinen sind.“ Der Arzt steckte seinen Kugelschreiber zurück in die Brusttasche seines Kittels, nahm das Klemmbrett unter den Arm und ging aus dem Raum. Beinahe wäre er mit Jérémie zusammengeprallt.
„Hei. Wie geht es dir?“ Fürsorglich trat er zu Beth ans Bett und fasste sie an der Schulter.
„Soweit eigentlich gut. Wenn du mir jetzt noch erklären kannst, warum ich überhaupt hier bin, ginge es mir vielleicht sogar noch ein bisschen besser. Du hast mir etwas mitgebracht?“
„Eh, ja. Das macht man doch so, wenn man jemanden im Krankenhaus besucht.“ Verlegen drehte Jérémie die Pralinenschachtel in den Händen herum. Die unbeholfene Art entlockte Beth ein breites Lächeln. Sie nahm ihm die Schachtel aus der Hand und stopfte sich eine Praline in den Mund. „Vielen Dank. Sie sind sehr lecker und genau das Richtige.“ Um Jérémie aus seiner Verlegenheit herauszuhelfen, lächelte sie ihn aufmuntert an.
„Eh ja. Dann ist der Sinn und Zweck ja erfüllt.“ Er zog einen Mundwinkel nach oben, was ihm etwas grimassenhaftes verlieh. „Hör mal, Beth, du weißt ja inzwischen, wie das läuft…“
„… du musst mir einige Fragen stellen, richtig?“, beendete sie seinen Satz.
„Richtig. Das Schema F kennst du inzwischen wahrscheinlich auswendig, also mach ich es kurz. Gibt es irgendetwas, was du mir erzählen möchtest? Hast du etwas gesehen, bemerkt oder ist etwas Besonderes vorgefallen?“
„Nun, ich stand heute Morgen auf, ging wie gewohnt in die Küche, bereitete mir meinen Kaffee vor, nahm die gefüllte Tasse, ging zum Sofa und das nächste woran ich mich erinnere ist der Hausgang und dein Gesicht über mir.“
„Dir ist kein Gasgeruch aufgefallen?“
„Soweit ich mich erinnere nicht, nein.“
„Du hast den Herd nicht selbst angemacht oder angelassen? Du hattest auch keinen Besuch?“
„Nein. Aber apropos Besuch; wie bist du eigentlich in die Wohnung gekommen?“
„Ich habe das Schlüsselversteck gefunden. Eigentlich würde ich mich für das unerlaubte Eindringen entschuldigen, so wie die Dinge nun liegen, unterlasse ich das aber. So gesehen, hätte jeder in die Wohnung kommen können. Für mich war es schliesslich auch kein Problem.“
„Was willst du damit andeuten?“ In Beths Kopf schrillten die Alarmglocken.
„Noch nichts. Aber sobald du die Wohnung wieder betreten kannst, musst du unbedingt nachsehen, ob etwas fehlt.“ Jérémie sah, wie Beth Mühe hatte, ihre Augen offen zu halten, weshalb er beschloss, sie nicht mit noch mehr Fragen zu löchern, sondern ihr die wohlverdiente Ruhe zu gönnen. „So, ich werde jetzt gehen. Ruh dich erstmal aus. Wir reden weiter, wenn du wieder auf den Beinen bist.“ Zum Abschied hob er die Hand und ging zur Tür.
„Jérémie?“
Es lag eine Sanftheit in ihrer Stimme, die ihm einen Stich versetzte. Er wagte es nicht, sich noch einmal umzudrehen. aber er hielt in seiner Bewegung inne. „Ja?“
„Danke.“ Beth hörte noch das Rascheln seiner Kleider, als Jérémie die Tür öffnete, dann schnappte die Tür zurück ins Schloss und im Wissen, dass er gegangen war, glitt sie in einen tiefen traumlosen Schlaf.