Kapitel 59
„Wo fahren wir hin?“ Susanna schaute sich um und wunderte sich, dass sie inmitten eines Wohnqartieres langsamer wurden.
„Sie bleiben im Wagen.“ Da Jérémie wusste, dass Susanna auch gleich aus dem Auto springen würde, sobald es still stand, wollte er diese Worte vorsichtshalber noch deponiert haben. Paul brachte indessen den Wagen zum Stehen und stieg aus. Dann folgte er Jérémie in das Innere des Gebäudes. Susanna war zwar dafür, auf Polizisten zu hören, aber nicht, wenn es um ihre Tochter ging und schon gar nicht, wenn sie so offensichtlich falsch lagen. Also betätigte sie den Türgriff - vergeblich. Frustriert liess sie sich im Sitz und zurückfallen und verschränkte schmollend die Arme.
„Denken Sie wirklich, sie bleibt im Auto sitzen, nur weil Sie sie darum gebeten haben?“ Verwundert über Jérémies offensichtliche Naivität rannte Paul direkt hinter ihm die Treppe hinauf.
Oben angekommen betätigte Jérémie die Klingel neben der Tür und wartete. „Wir fahren ein Polizeiauto, Zivil hin oder her.“ Er warf Paul einen bedeutungsschwangeren Blick zu.
„Ach so! Die Kindersicherung! Das grenzt an Gemeinheit.“
Ein fieses Grinsen huschte über Jérémies Gesicht. Dann widmete er sich wieder seiner eigentlichen Aufgabe. „Hallo? Ist da jemand?“ Lautstark polterte er an die Wohnungstür. „Polizei, öffnen Sie die Tür!“
Tatsächlich öffnete sich eine Tür, aber nicht die gewünschte. Eine etwas aufgewühlte krächzende Stimme liess die beiden auf dem Absatz Kehrt machen. „Das musste ja früher oder später kommen, ich habe immer gesagt, dass der Junge nur Schwierigkeiten macht. Wäre es nach mir gegangen, wäre er hier nie eingezogen!“
Paul und Jérémie musterten den alten Mann, der auf seinen braunen Holzstock gestützt, bekleidet mit einer grauen Bundfaltenhose und weissem Unterhemd vor ihnen stand. Das schüttere schlohweisse Haar stand wild von seinem Kopf ab. Sie konnten sich mühelos vorstellen, dass dieser Mann gegen Silvans Einzug gewesen war. „Wissen Sie, wo der Mieter dieser Wohnung jetzt ist?“
„Natürlich! Der verlässt das Haus immer mit einem Höllenlärm! Mein Flippi wird immer ganz panisch! Wenns den von seiner Stange haut, dann zeige ich den Jungen an, dass sag ich Ihnen!“ Drohend hob der alte Mann den Finger. Dabei wäre er beinahe umgekippt, weil er nur noch eine Hand auf den Stock stützen konnte. „Das heisst, er ist gegangen? War er in Begleitung? Hat er Ihnen gesagt, wohin er will?“
„Pah! Ich frag den doch nicht, wo er hingeht! Die jungen Küken, die immer bei ihm sind, wissen nicht worauf sie sich einlassen! Aber die sind ja auch nicht mehr wie früher…“
„Bestimmt. Aber können Sie mir sagen, wann er weggegangen ist?“
„Und ob er alleine war?“ warf Paul noch ein.
Der Alte schaute von einem Gesicht zum anderen. Langsam kniff er seine Augen zusammen, so dass sie unter den buschigen Brauen kaum mehr zu sehen waren. „Sind Sie wirklich von der Polizei?“ Als er den Stock anhob, um auf Jérémie und Paul zu zeigen, bekam Paul Angst, dass der Mann tatsächlich noch hinfallen würde.
„Ja, Monsieur.“ Jérémie zückte seine Dienstmarke und hielt sie ihm direkt unter die Nase.
„Junger Mann, ich bin vielleicht alt, aber nicht blind!“ Damit nahm der alte Mann die Marke in die Hand und hielt sie sich noch näher unter die Augen. „Naja.“ Grummelte er dann.
Langsam verlor Jérémie die Geduld. „Monsieur, wann ist der Mann aus dieser Wohnung,“ er zeigte auf Silvans Tür, „weggegangen und mit wem?“
„Am Morgen sind sie gegangen. Diesmal hatte er eine Brünette dabei, die war bestimmt auf Drogen, so aufgedreht wie sie war.“
„Beth.“
Paul quittierte Jérémies Feststellung mit einem Nicken. „Monsieur, wir danken Ihnen, Sie haben uns sehr geholfen.“
Das Krächzen des Mannes begleitete sie noch den ganzen Weg die Treppe hinunter, bis sich die Haupteingangstüre hinter ihnen schloss.
„Flippi? Ein Tier das so heisst, muss ja austicken! Was meinst du, was es für ein Vieh ist?“, fragte Jérémie grinsend.
„Gute Frage. So gesehen, hatte er vielleicht überhaupt kein Tier sondern seine Ehefrau gemeint.“
Als beide wieder im Auto sassen, meldete sich Susannas Stimme vom Rücksitz, was Jérémie an ihre Anwesenheit erinnerte. „Und?“
„Sie scheint hier gewesen zu sein und das Haus heute Morgen nicht alleine verlassen zu haben.“
„Also geht es ihr voraussichtlich gut.“ Susanna musste aufpassen, nicht von der Euphorie, die sie wegen diesem kleinen Erfolg befiel, übermannt zu werden.
„Es sieht ganz so aus.“
„Leider haben wir aber keinen Anhaltspunkt, wo sie jetzt sein könnte“, brachte Paul seine Bedenken mit ein.
Das verpasste Susanna wieder einen Dämpfer.
„Ich denke, ich weiss, wo sie noch sein könnte. Fahr los.“ Die kühle Sicherheit in Jérémies Stimme, liess Paul ohne zu zögern tun, was er sagte.