Kapitel 38
Es hatte zu regnen begonnen und Paul verfluchte den Tag, an dem er die Polizeischule bestanden hatte. Niemand hatte in vorgewarnt, dass die einzigen Regenschauer dann über die Küste hinwegziehen, wenn er aus ermittlungstechnischen Gründen in der Finsternis quer durch die Wälder stapfte. Dankbar darüber, dass er wenigsten an die Jacke gedacht hatte, schlug er den Kragen hoch, damit sich die Tropfen nicht mehr als nötig einen Weg unter seine Kleidung bahnen konnten. Wäre er ehrlich zu sich selbst gewesen, hätte er dies genauso gut bleiben lassen können, denn er war bereits durchnässt bis auf die Knochen. Dennoch führte er die Suche unbeirrt fort. Soweit sein Auge reichte blitzten überall im Wald immer wieder Scheinwerferpegel auf, die die anderen Suchtrupps über das Dickicht huschen liessen. Inzwischen hatte er sich an die Reflektionen des Wassers gewöhnt und zuckte auch nicht mehr jedes Mal zusammen, wenn etwas einen Schatten warf oder es im Unterholz raschelte. Dennoch, die Nerven waren zum Zerreissen gespannt und die Sinne aufs Äusserste geschärft. Schritt für Schritt bewegte er sich vorwärts. Das Licht seiner Taschenlampe zerriss immerzu streifenweise die Dunkelheit. Hin und her, hinauf und hinunter. Gerade als er sich die Regentropfen mit seiner freien Hand von der Nase streifen wollte, meinte er eine Bewegung zu seiner Linken wahrgenommen zu haben. Instinktiv schwenkte er das Licht der Taschenlampe auf die Stelle. Was er sah, liess ihn zusammenzucken und gleich darauf erleichtert ausatmen. Ausgiebig mit dem Bau ihres Netzes beschäftigt seilte sich eine Spinne von einem Blatt ab. Paul musste zugegeben, dass die Spinne gross war, aber nicht gross genug, um sich wie ein Mädchen erschrecken zu lassen. Er musste an seine Schwester denken, die bei diesem Anblick kreischend Luftsprünge genommen hätte und in Windeseile davongerannt wäre. Schmunzelnd liess er die Taschenlampe sinken und drehte sich um. Dann wurde es dunkel.
Währenddessen blätterte Jérémie konzentriert seit einiger Zeit jede Seite des Dossiers um und studierte dessen Inhalt. Bei den Fotos angekommen, warf er noch einmal einen genauen Blick auf jedes einzelne, immer und immer wieder. Alles, was in den letzten Tagen geschehen war, liess er noch einmal Revue passieren. Gedankenverloren drehte er eines der Fotos in seinen Händen herum.
Entgegen allen Bemühungen war Henry noch nicht gefunden worden. Während Paul und die anderen draussen nach ihm suchten, versuchte Jérémie mit Hilfe der Akten auf einen möglichen Aufenthaltsort zu stossen. Während er das Foto weiter in den Händen drehte und darauf starrte, ohne etwas zu sehen, fasste er den Entschluss, die Akten ruhen zu lassen und mit Hilfe der Datenbanken im Computer in den Untiefen von Henrys Leben nach einer Lösung zu suchen. Als würden sich Nebelschwaden über einem See langsam auflösen, klärte sich sein Blick allmählich und gab die bewusste Sicht auf das Bild in seinen Händen frei. Und dann kam ihm eine Idee. Hektisch suchte er nach einer Lupe und führte sie über das Foto. Bevor er aber erkennen konnte, was diese ihm offenbaren wollte, flog seine Bürotür auf. Aufgrund der geringen Lichtquelle auf seinem Schreibtisch konnte Jérémie nur dunkle Umrisse einer offenbar triefend nassen und schwer atmenden Person im Türrahmen erkennen.
„Inspecteur, wir haben ihn gefunden.“ Sofort schoss Jérémie das Adrenalin ins Blut.
„Wo?“
„Im Wald.“
„Bringen Sie mich zu ihm.“ Jérémie sprang auf, schnappte sich seine Jacke und rannte in Richtung des Ausgangs. Wie erwartet stand ein Auto direkt vor der Tür. Er stieg auf der Beifahrerseite ein und wartete, bis Paul neben ihm Platz genommen hatte. Erst jetzt bemerkte er die schmutzige Taschenlampe auf dem Armaturenbrett. „Paul?“
„Inspecteur?“
„Was haben Sie mit ihrer Taschenlampe angestellt?“
„Nun, sie ist mir aus der Hand gerutscht. Der Regen, Sie wissen schon.“ Paul wollte sich nicht vor seinem Chef die Blösse geben, zu erzählen, dass er vor Schreck die Taschenlampe fallen gelassen und die Suche nach ihr in der darauffolgenden Dunkelheit beinahe vergeblich gewesen wäre, weil er gezittert hatte wie Espenlaub.
Jérémie befand die Geschichte für etwas dünn, fragte aber nicht weiter nach. Seine gesamte Konzentration wollte er auf die folgende Konfrontation richten. Die Ablenkung durch Pauls Fahrkünste war dann aber doch zu gross.
„Paul, welchen Wald meinten Sie nochmal?“
„Er ist nicht mehr im Wald.“
„Was soll das heissen? Zu uns gebracht habt ihr ihn auch nicht. Also, wo ist er?“
„Krankenhaus.“
Jetzt verstand Jérémie nichts mehr. „Weshalb im Krankenhaus? Was zur Hölle ist passiert?“
„Ich habe Herrn Henry Depruit mit den Füssen nach unten von einem Baum baumelnd gefunden. Sofort trommelte ich die Suchtrupps aus der Umgebung zusammen und…“ Paul unterbrach sich, riss das Lenkrad herum und steuerte den Wagen beinahe ungebremst um eine Strassenecke. Überrascht griff Jérémie nach der nächstbesten Möglichkeit um sich festzuhalten. „…sorgte dafür, dass man Henry vorsichtig herunterholte. Er war bewusstlos, aber sein Genick schien nicht gebrochen und ich konnte einen schwachen Puls ertasten. Abgesehen davon machte es den Anschein, dass Unterkühlung drohte. Ich funkte die nötigen Rettungskräfte an und begann an Ort und Stelle mit Wiederbelebungsmassnahmen. Diese führten aber zu keinem akzeptablen Resultat.“
„Okay. Wissen Sie, ob er inzwischen ansprechbar ist?“
„Leider habe ich keine Ahnung.“
„Rasen wir in diesem Affentempo durch die Strassen, weil wir nicht wissen, ob er überhaupt überlebt?“
„So ist es.“
Mit quietschenden Reifen brachte Paul das Auto vor dem Krankenhaus zum Stehen. Mit etwas weichen Knien befreite sich Jérémie aus dem Sicherheitsgurt und stieg aus. „Sind Sie einst Rallyes gefahren?“
„Nein, warum?“
„Sollten Sie aber. Könnte sein, dass Sie den ein oder anderen Preis abstauben.“
Am Empfang des Krankenhauses wiesen sich die beiden Polizisten aus und erfuhren, wo genau in der Notaufnahme sich der Gesuchte befand und wie man dorthin kam. Da die Untersuchungen und die lebensrettenden Massnahmen noch in vollem Gange waren, blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten, bis ein Arzt auftauchte, der zuständig genug aussah, um ihnen mitzuteilen, was Sache war. Kaum war Jérémie das dritte Mal den Gang hinuntergelaufen, flog eine der Flügeltüren auf und ein Herr im weissen Kittel trat ihm entgegen.
„Inspecteur Russeau, stimmts?“ Der Arzt war gross gewachsen und das Silbergrau an seinen Schläfen liess auf ein gewisses Alter, wie aber auch einen hohen Erfahrungswert schliessen.
Jérémie trat auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. „Stimmt. Wie geht es dem Patienten?“
„Nun, er lebt. So gesehen hatte er grosses Glück.“ Der Arzt hielt kurz inne. „Obwohl, von seinem Standpunkt aus gesehen ist es wohl eher Pech.“
„Können wir mit ihm sprechen?“
„Leider nein. Er liegt im Koma, aber seine Vitalfunktionen sind soweit gut, es ist also nur eine Frage der Zeit, bis er aufwacht.“
„Da lässt sich nichts machen. Können Sie mir wenigstens sagen, wo sich die Kleidung und die Dinge die er bei sich hatte, befinden?“
„Natürlich, ich werde sofort veranlassen, dass Sie diese Sachen bekommen.“
„Dann warten wir in der Empfangshalle. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“
„Schon in Ordnung.“ Der Arzt ging wieder seiner Wege und veranlasste die Aushändigung von Henrys persönlichen Gegenständen, um sein Versprechen einzulösen.
Sobald der Arzt ausser Hörweite war, wandte sich Jérémie an Paul. „Was meinen Sie, warum hat er das getan?“
„Wer? Was?“ Verständnislos starrte Paul Jérémie an.
„Henry, sich aufgehängt?“, zischte Jérémie leicht entnervt zurück.
„Ach so! Ich weiss nicht…“ Paul dachte kurz nach. „Elisabeth Clement ist nicht so leicht zu beseitigen, wie es ihre Tante gewesen war. Vielleicht bekam er nach drei gescheiterten Anschlägen das Gefühl, dass Elisabeth ihm überlegen ist. Deshalb fiel sie als Schlusspunkt für die Geschichte weg. Aber für seinen Seelenfrieden brauchte die Geschichte ein Ende. Wenn Elisabeth diese Position nun aber nicht einnehmen kann, wer könnte es also sonst noch tun?“
„Er selbst.“
„Ganz genau. Es war zwar sicher nicht so geplant, aber es ist eine alternative Lösung. Die Geschichte kann ohne Hauptdarsteller nicht mehr weiter gehen.“
„Interessanter Aspekt. Mal sehen, was er uns zu erzählen hat, wenn er die Augen wieder öffnet. Vorerst gebe ich mich mit seinen Sachen zufrieden.“
Paul murmelte Zustimmung und dachte nach. „Eigentlich könnte Beth auch wieder zurückkommen. Frau Depruit ist in Gewahrsam und Herr Depruit liegt hier ziemlich komatös herum. Sie wäre also wieder in Sicherheit.“
„So wie die Dinge liegen, können wir Larissa Depruit wegen der Drogensache nicht mehr lange festhalten. Ohne stichhaltigen Beweis im Zusammenhang mit dem Mord an Dina oder den Anschlägen, die auf Beth ausgeübt wurden, müssen wir Larissa schon bald gehen lassen. Dies würde wiederum bedeuten, dass Beth erneut in Gefahr geriete.“
„Solange Larissa aber eingesperrt ist, könnte Beth wieder herkommen.“
Jérémie schaute Paul schief von der Seite an. „Paul, was wollen Sie damit andeuten? Vermissen Sie sie etwa jetzt schon?“
„Nein, Inspecteur, ich nicht.“
Für diesen Spruch kassierte Paul einen Hieb in die Rippen, womit für Jérémie das Thema beendet war.
Wie sie es dem Arzt mitgeteilt hatten, traten Paul und Jérémie zurück in die Eingangshalle und warteten. Es dauerte einen Moment, bis Eine Frau mit einem Bündel auf dem Arm auf sie zutrat und ihnen die Dinge übergab. Dann fuchtelte sie mit einer Aufstellung von Henrys Eigentum vor Jérémies Gesicht herum, mit der Aufforderung, jene zu unterschreiben, was er auch tat, nachdem er sie mit einiger Mühe aus den Händen der Schwester entrissen hatte.