Kapitel 23
Wieder einmal klingelte Beths Telefon. Erstaunt stellte sie fest, dass sie es doch noch geschafft hatte einige Stunden schlaf zu finden. Sie tastete nach der Ursache des Lärms und sah die französische Telefonnummer auf dem Display. Eigentlich wollte sie nicht rangehen, weil sie noch nicht bereit war, mit Jérémie zu sprechen. Als ihr dann aber der Gedanke kam, dass er Neuigkeiten im Zusammenhang mit der Wohnung haben könnte, hielt sie ihr Telefon doch ans Ohr. Aber es war nicht Jérémie.
„Du kleine Schlampe, was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Sei aber unbesorgt, das kommt kein zweites Mal vor.“ Dann herrschte Stille.
„Was…? Hallo?“ Doch es war nur noch das Freizeichen zu hören. So schnell, dass ihr schwindelig wurde, sprang sie aus dem Bett und zog sich eilig das am nächsten liegende an. Dann rannte sie die Treppe hinunter, griff sich in letzter Sekunde noch den Schlüssel am Brett neben der Haustür und stürmte zur Polizeiwache. Sie wirbelte ungebremst durch die Tür und sorgte damit für unnötig viel Aufmerksamkeit. Über Akten gebeugt stand Jérémie am Tisch von Irene und hob gleichzeitig mit den andern den Kopf, als Beth endlich zum Stillstand kam.
„Jérémie, ich muss mit dir reden.“
Abweisender hätte seine Haltung nicht mehr sein können. „Jetzt nicht, ich bin im Dienst.“
Madeleine warf Irene einen allessagenden Blick zu, den Irene mit einem kaum merklichen Kopfnicken quittierte.
Beth trat zu ihm und funkelte ihn entschlossen an. „Jetzt pack einmal kurz deinen verletzten Stolz weg. Es geht nicht immer nur um dich.“ Die Worte kamen leise über ihre Lippen, so dass nur er sie hören konnte, denn sie zweifelte keine Sekunde daran, dass er sie aus seiner Wache werfen würde, wenn sie ihn vor seinen Leuten blosstellte. Ein kaltes Kribbeln überzog seine Haut, als er ihre Nähe überdeutlich spürte. Er packte sie am Arm und zog sie in sein Büro. Auch als die Tür bereits hinter ihnen geschlossen war, liess er sie nicht los. Er drehte sie zu sich um. Ihre Gesichter waren sich so nahe, dass sie meinte seine Haut spüren zu können. Eine Mischung aus Aufregung, Empörung und wilder Entschlossenheit liess sie nur in schweren Zügen atmen. Er schaute ihr fest in die Augen, doch wieder hielt sie seinem Blick stand. Dann liess er sie so schnell los, als hätte er sich an ihr verbrannt. Wie aus einer Trance erwachend begann ihre Umgebung jetzt erst klare Formen und Linien anzunehmen. Schwer schluckend zwang sie sich zur Ruhe. „Verfluchte Anziehungskraft.“
„Was hast du gesagt?“
„Nichts. Aber ich habe eine Mitteilung zu machen. Ich habe heute nämlich einen äusserst charmanten Anruf erhalten. Man betitelte mich als Schlampe, ich wurde gefragt, was ich mir dabei gedacht hätte und mir wurde mitgeteilt, dass ich unbesorgt sein solle, weil das kein zweites Mal vorkäme.“
„Ach, und deshalb stürmst du die Polizeiwache? Da hat sich bestimmt jemand verwählt.“
„Jérémie, wo genau ist der Polizist in dir hingegangen? Hat der Ferien genommen? Hör mal, ich habe ja keine Ahnung, aber man verwählt sich doch nicht einfach zufällig auf ein englisches Mobiltelefon!“
Da musste er ihr Recht geben. Sich zu vertippen war eine Sache, sich gleich auch zufälligerweise noch mit der Vorwahl eines englischen Netzes einzuwählen war eher unwahrscheinlich.
„In Ordnung. Du hast Recht. Glaube mir, das ist aber nicht die einzige merkwürdige Erkenntnis der letzten Tage. Paul und ich haben Henry gefunden und wir waren bei ihm.“
„Ach was. Wann?“
„Vorgestern.“
„Was? Und warum sagst du mir das erst jetzt?“
„Oh, bitte entschuldige, dass es mir nicht danach gelüstete diese Information als erstes einer Frau unter die Nase zu reiben, die ich knapp vor dem Tod durch eine Gasvergiftung retten konnte.“
„Aber…“
„Willst du es jetzt hören oder nicht? Ich brauche es dir nämlich nicht zu erzählen. Es gehört zu meinen Ermittlungen und ich kann die stillschweigend weiterführen, wenn du dich nicht beherrschen kannst.“
Beth schnaubte, hielt dann aber schmollend den Mund.
„So ist es schon besser. Wir haben Henry gefunden und wir waren bei ihm. Wir haben auch seine Frau kennengelernt.“ Beth wollte etwas sagen, aber Jérémie hielt sie durch den drohend erhobenen Zeigefinger davon ab. „Ja, er ist verheiratet. Nach etwas gutem Zureden war er aber trotzdem geständig. Seine Frau schien von der Affäre zu wissen. Allerdings war sie etwas weniger gesprächig. Um nicht zu sagen, sie hat uns aus dem Haus geworfen, was auch ihr gutes Recht war. Als ich bereits wieder im Auto sass, kam Henry noch einmal heraus. Er eröffnete mir, dass Dina sich bei ihm nicht mit dem Namen Clement vorgestellt hatte, sondern mit dem Nachnamen Alert.“ Aus grossen Augen starrte Beth Jérémie an, sie hielt aber nach wie vor den Mund.
„Beth, das ist noch nicht alles. Ich habe den Autopsiebericht gelesen. Es wurde eine Haarprobe von Dina analysiert. Das Ergebnis lautet dahingehend, dass nur eine einmalige Aufnahme von Diazepam stattgefunden hat. Ausserdem wird in dem Bericht beschrieben, dass man am Hals deiner Tante, direkt über der Halsschlagader, eine kleine Einstichwunde gefunden hat, als wäre sie von einer Nadel gestochen worden.“
Jetzt konnte Beth einfach nicht mehr an sich halten. „Soll das etwa heissen, meiner Tante wurde verflüssigtes Diazepam per Spritze in die Hauptschlagader am Hals verabreicht?“ Beth wich alles Blut aus dem Gesicht und ihr wurde schwindelig.
Sicherheitshalber trat Jérémie wieder in Beths nähe. Die weisse Hautfarbe, die sie auf einmal angenommen hatte, gefiel ihm ganz und gar nicht. „Nun, ich kann niemandem etwas nachweisen. Aber wenn du mir versprichst, jetzt nicht umzukippen, erzähle ich weiter.“ Stumm nickte sie ihre Zustimmung. Jérémie war sich zwar fast sicher, dass es sie umhauen würde, so aschfahl wie sie war, aber er erzählte ihr dennoch auch von der letzten Erkenntnis. „Bevor ich das Haus der Depruits, das ist übrigens Henrys Familienname, verlassen habe, war ich noch in deren Badezimmer. Dort habe ich im Medikamentenschrank ein Röhrchen gefunden, dessen Inhalt aus unbekannten Tabletten bestand. Ich habe diese bereits im Labor analysieren lassen und das Resultat liegt vor. Es handelt sich um eine Arznei unter anderem zur Behandlung von Angstzuständen. Sie wird auch als Schlafmittel verwendet.“ Unsicher ob er weitersprechen konnte, warf Jérémie einen konzentrierten Kontrollblick auf Beth. „Ich erzähle erste weiter, wenn du mir versprichst, nicht ohnmächtig zu werden.“
„Valium.“ Auf einmal hatte Beth doch nichts mehr dagegen, sich hinzusetzen. Sie ahnte bereits, was folgen würde, forderte Jérémie aber dennoch auf, fortzufahren.
„Okay. Wenn man die Dosis dieser Arznei drastisch erhöhen würde, sie dann zum Beispiel mit einem Stössel, der in fast jeder Küche vorhanden ist, zerkleinerte und in einem Schlückchen Wodka auflösen würde, hätte man exakt die Wirkstoffzusammensetzung, die deiner Tante zum Verhängnis wurde. Da keine Anzeichen für Abwehrverletzungen gefunden wurden, hat sich Dina entweder nach der Injektion zum Grab geschleppt oder sie war schon dort und wurde festgehalten bis die Wirkung einsetzte.“
„Jérémie, mir ist schlecht.“
Alarmiert sprang Jérémie von der Tischkante weg, an die er sich zwischenzeitlich gelehnt hatte und besorgte Beth ein Glas Wasser in der Hoffnung, dass sie Ihren Mageninhalt bis zu seiner Rückkehr nicht in seinem Büro verteilt haben würde.
Seine Befürchtungen wurden nicht bestätigt. Stattdessen lag Beth auf dem Rücken, Arme und Beine von sich gestreckt auf dem Boden des Büros und starrte die Decke an.
„Was soll das darstellen?“ Jérémie ging neben ihr in die Hocke. „Hier, das Wasser müsste dir ein bisschen helfen.“
„Danke.“ Dann folgte erst einmal Schweigen. „Jérémie?“
„Ja?“
„Du musst es aussprechen, bitte. Willst du mir damit erklären, dass…“
Er unterbrach sie. „Du hast gesagt, ich soll es aussprechen. Dass deine Tante umgebracht wurde. Ja, das will ich dir sagen. Im Augenblick sieht es auch so aus, als wäre das Motiv die Eifersucht.“
„Warum wurde Frau Depruit - Dieser Name stimmt doch, oder?“ Jérémie nickte. „Also, warum wurde Frau Depruit denn noch nicht verhaftet?“
„Sie wird jeden Moment hier sein. Kurz bevor du die Bude gestürmt hast, habe ich das Testergebnis der Inhaltsstoffe des Medikaments bekommen und sofort zusammen mit Irene für einen Haftbefehl gesorgt.“ Ein kleines, aufmunterndes Lächeln konnte er sich nicht verkneifen. Es war auch ein Bild für Götter, wie sie so dalag, mitten in seinem Büro.
Auch Beth brachte knapp ein schiefes Lächeln zur Erwiderung des seinen zustande. Es ging ihr durch denn Kopf, dass sie sich nie hätte träumen lassen, einmal auf dem Steinboden im Büro eines Inspecteurs zu liegen.
Irene traf genau den richtigen Zeitpunkt, um leise an die Tür des Büros zu klopfen. „Jérémie?“
„Ja?“
Vorsichtig wagte es Irene die Tür einen Spaltbreit zu öffnen. „Madame Depruit sitzt jetzt im Verhörraum. Sie wollte einen Anwalt, der ist aber noch nicht da.“
„Ich werde mein Glück trotzdem versuchen. Danke Irene.“
Nachdem Irene dir Tür genauso leise wieder geschlossen hatte, kehrte sie zu ihrem Schreibtisch zurück, wo bereits Madeleine wartete. „Und?“
„Beth lag auf dem Boden und Jérémie hockte daneben, sie lächelten sich so richtig nett an. Sie scharrt an seinem Panzer, das spür ich einfach. Ein Blinder hätte gesehen, dass es gefunkt hat!“ Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem breiten Grinsen, aber Madeleine blieb nach wie vor skeptisch.
Die Bürotür öffnete sich wieder und Madeleine huschte wie ein gescheuchtes Reh an ihren eigenen Platz zurück.