Kapitel 30

 

„Paul? Haben Sie etwas herausgefunden?“ Ein wenig verärgert darüber, dass er schon wieder so viel Zeit damit verloren hatte, sich um Beth zu kümmern, anstatt Nachforschungen anzustellen, bellte Jérémie Paul an.

„Alles in Ordnung, Inspecteur?“ Der raue Umgangston war Paul egal, aber er konnte zwischen grober Sprechweise und jemandem, der Frust ablassen musste, weil ihm eine Laus über die Leber gelaufen war, sehr gut unterscheiden. Und er kam zum Schluss, dass im Augenblick Letzteres auf Jérémie zutraf.

„Ja. Nun zeigen Sie schon.“

Da Jérémie nicht geneigt war, Paul eine Antwort auf seine Frage zu geben, schnappte sich jener seine Computermaus. „Das wird Sie interessieren. Weil das Originalfoto, wie Sie sagten, keinen Datumsaufdruck hatte, habe ich auf dem Bild selbst nach Anhaltspunkten für das Aufnahmedatum gesucht. Dabei habe ich Folgendes entdeckt.“ Paul zoomte einen Bildausschnitt heran, der langsam an Schärfe gewann. Jérémie verstand aber nicht, was Paul mit dem Ausschnitt bezweckte. Ratlos starrte er das Motiv an.

„Was ist damit?“

„Dieses Haus hier.“ Paul tippte auf den Bildschirm. „Es ist in ein Baugerüst eingepackt. Also habe ich nachgeforscht, wann dieses Haus zum letzten Mal renoviert wurde, einen neuen Anstrich verpasst erhielt oder sonstige bauliche Tätigkeiten stattfanden, die das Gerüst rechtfertigen würden.“

„Ah, verstehe. Und, haben Sie etwas?“

„Sicher. Nachdem ich die Adresse des Gebäudes eruiert hatte, hat mir die zugehörige Hausverwaltung mitgeteilt, dass das Haus in den letzten 30 Jahren drei Mal eingepackt wurde. Es wurden jeweils Arbeiten an der Fassade ausgeführt.“

„Also ungefähr alle zehn Jahre stand ein Gerüst um das Haus. Doch beim wievielten Mal wurde dieses Foto geschossen?“ Jérémie warf einen neugierigen Blick auf Paul, der sein Gesicht zu einer Fratze verzog, die an Einstein ohne Falten und graue Haare erinnerte. „Sagen Sie bloss, das wissen Sie auch schon?“

„Und ob. Es entstand vor nicht ganz dreissig Jahren. Hier.“ Er holte das Bild noch etwas näher heran. „Auch damals haben die jeweils arbeitenden Firmen Werbung an ihren Baugerüsten aufgehängt. Dieses Logo von der Malerfirma – sehen Sie es?“

Tatsächlich erkannte Jérémie etwas. „Ja.“

„Ich habe es im Internet gesucht und auch tatsächlich gefunden. Es stammt von einer Firma, die vor achtundzwanzig Jahren pleite gegangen ist. Was sagt uns das?“

„Die Arbeiten an dem Gebäude müssen vor der Pleite der Firma ausgeführt worden sein, also vor rund achtundzwanzig Jahren.“

„Genau so ist es.“

Das gibt’s doch nicht.“ Diese Erkenntnis wirbelten Jérémies Gedanken wie einen Strudel durcheinander. Er musste nachdenken, doch bevor er ging, klopfte er Paul auf die Schulter. „Gelobt seien das Internet und Ihre guten Augen! Gute Arbeit Paul.“ Dann stand er auf, drehte sich um und traute seinen Augen kaum. Auf wackeligen Beinen stand Beth in der Tür.

 

„Habe ich dir nicht gesagt, du sollst im Haus bleiben?“ Er wollte vor seinen Leuten keine Szene machen, konnte sich aber nur sehr schwer beherrschen.

„Ich weiss, aber ich kann nicht einfach tatenlos alleine herumsitzen, sonst werde ich noch wahnsinnig.“ Dafür konnte er allerdings ein gewisses Verständnis aufbringen. Aber bei ihrem Anblick hätte er heulen können. Die Schrammen und Kratzer, die ihr vom Kinn bis zum Hals reichten, waren zwar sauber versorgt, aber zusammen mit denjenigen, die ihre Arme und Beine zierten, wirkte Beth, als sei sie misshandelt worden.

„Komm.“ Er führte sie in sein Büro und schob ihr den Stuhl richtiggehend unter ihr Hinterteil. „Wie soll ich dafür sorgen, dass dir nichts passiert, wenn du nicht auf mich hörst?“

„Lass dir was einfallen.“

„Wie nett. Du machst es dir ganz schön einfach. Einerseits nichts dazu beitragen, aber andererseits erwarten, dass ich mich um deine Sicherheit kümmere? Du sollst doch nur auf mich hören. Ist das denn zuviel verlangt?“

„Wäre es das nicht, wäre ich nicht hier, stimmt’s?“

„Ich sehe schon, das bringt nichts. Kannst du dich inzwischen wenigstens daran erinnern, was passiert ist?“

„Nicht so richtig. Ich hatte irgendwie auf einmal den Halt verloren. Einfach so. Dabei war ich doch auf einem ebenen, befestigten Weg, das will mir nicht so richtig in den Kopf.“

„Beth, denk nach. War jemand in der Nähe? Ich sage es geradeheraus: Wäre es möglich, dass dich jemand gestossen hat?“

Beth wollte schon protestieren und ihm sagen, wie albern das klang, doch sie besann sich eines Besseren. Mühsam versuchte sie einen Eindruck zu fassen, der ihr soeben wie ein Blitz durch die Gedanken zuckte.

Die Veränderung in ihrem Gesichtsausdruck ging nicht unbemerkt an Jérémie vorbei. „Was hast du?“ Aus Angst, dass sie vom Stuhl kippen könnte, behielt er sie genau im Auge.

„Ich weiss nicht.“ Beth hob ihre Hand an die Schulter und hielt sie fest umschlossen. „Ein schwarzer Handschuh. Ein heftiger Stoss.

Jérémie wartete angespannt, aber geduldig, bis sie weiter sprach.

Beth hob den Kopf um ihm ins Gesicht sehen zu können. „Ich glaube, mich hat eine Hand in einem schwarzen Handschuh an der Schulter gestossen. Es gab einen heftigen Ruck und dann segelte ich den Berg runter. Ich habe aber niemanden gesehen.“

Solange er es nur gedacht hatte, blieb die Hoffnung, dass es nicht der Wahrheit entsprach. Seinen Verdacht jedoch ausformuliert bestätigt zu hören, beunruhigte Jérémie zunehmends.

„Verstehst du jetzt, warum ich nicht wollte, dass du das Haus verlässt?“

„Ich denke schon.“

„Da es jetzt aber eh schon zu spät ist, wirst du stattdessen einfach hierbleiben, solange ich hierbleibe. Wenn ich zu einem Einsatz muss, wird Irene sich um dich kümmern. Wenn sie geht, werde ich wieder hier sein müssen, denn du wirst keine Sekunde mehr alleine bleiben. Hier wird nämlich niemand einfach umgebracht und schon gar nicht, wenn das Ziel bereits zum zweiten Mal knapp davongekommen ist. Solche Glückskinder sind eine bedrohte Spezies, die gilt es ganz besonders zu schützen.“

Die Erkenntnis brach über Beth herein, wie ein Gewitter. „Ich werde ab jetzt brav sein und mich nicht mehr widersetzen, grosses Indianerehrenwort.“ Und das meinte sie auch so.

„Sehr gut. Hast du wieder einmal mit deinen Eltern gesprochen?“

„Nein.“

Sie wirkte bedrückt und hilflos. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen und ihr gesagt, dass alles wieder gut würde. Er hielt sich aber zurück.

„Warum nicht?“

„Immer noch der selbe Grund. Sie würden mir sofort anhören, dass etwas nicht stimmt. Ich will ihnen aber keine Sorgen bereiten, denn sonst würden sie trotz allen Verboten um jeden Preis versuchen hierher zu kommen und wenn sie schwimmen müssten, was in Anbetracht des Zustandes meines Vaters ein verlorenes Unterfangen wäre. So absurd das klingen mag, sie würden sich nur in weitere Schwierigkeiten manövrieren und sich unendlich Vorwürfe machen, davon haben wir alle nichts.“

„Also lässt du sie lieber im Ungewissen, wie es dir geht, indem du dich überhaupt nicht meldest. Meinst du, auf diese Art machen sie sich weniger Sorgen?“

Das leuchtete ein. „Du hast Recht. Ich werde sie heute noch anrufen. Aber ich muss mich zuerst sammeln und mir überlegen, was ich ihnen sagen soll.“

„Die Wahrheit?“

„Auf keinen Fall!“, rief Beth entsetzt aus.

„Schon gut. Das würde sie in Angst versetzen und auf die Bildfläche rufen. In Anbetracht ihrer eigenen Lage wäre das eine Dummheit vor der du sie beschützen möchtest. Ich habe verstanden. Mach es wie du möchtest, aber ruf sie an.“

Das Klopfen an der Tür unterbrach ihr Gespräch. Ohne hereingebeten worden zu sein, streckte Paul den Kopf durch den Türspalt. „Inspecteur, ich hab da was, das Sie interessieren könnte.“

„Wir waren sowieso fertig. Kommen Sie herein.“

„Wie Sie gesagt haben, habe ich in den Sprachschulen von damals nachgeforscht, um herauszufinden, wo sich Dina Clement eingeschrieben hatte.“

„Was? Moment mal, worum geht es hier?“ Für Beth ergab es keinen Sinn, dass Dina auf Listen von Sprachschulen gesucht wurde.

„Paul, geben Sie mir das Foto, bat Jérémie und legte es Beth vor.

„Das habe ich in dem Umschlag in deinem Zimmer gefunden. Ich habe Paul gebeten, herauszufinden, wann es aufgenommen wurde. Nebenbei gesagt, weiss ich auch, dass Irene dir die Sachen überlassen hat, dass ich mit dieser Handlungsweise nicht einverstanden bin, muss ich dir, nehme ich an, nicht mehr sagen.“

„Musst du wirklich nicht. Warum wolltest du wissen, wann es aufgenommen wurde? Das Bild entstand eindeutig in Nizza und dieser Mann“, Beth tippte auf das Foto, ist Henry. Also kann es kaum älter als drei Wochen sein. Obwohl ich zugeben muss, dass die Aufmachung der beiden etwas seltsam ist.

Stimmt, es ist Henry. Und genau wie du hatte ich das Gefühl, die Personen sehen jung und altmodisch zurechtgemacht aus. Das hat mich stutzig gemacht. Jérémie machte eine Pause und sah Beth ernst an. „Beth. Dieses Bild ist ungefähr achtundzwanzig Jahre alt.“

Völlig vor den Kopf gestossen starrte Beth von Jérémie zu Paul und zurück. „Das ist vollkommen unmöglich. Sie haben sich doch eben erst hier kennengelernt!“

„Ganz genau, sie haben sich hier kennengelernt, aber nicht erst kürzlich. Du hast mir erzählt, Dina sei vor langer Zeit zu einem Sprachaufenthalt hier gewesen.“

Nach und nach fügte sich Teilchen für Teilchen des kleinen Puzzles zusammen und Beth begann zu verstehen, welche Theorie die Polizisten verfolgten.

„Willst du damit andeuten, dass Dina und Henry sich damals schon kennengelernt haben?“

„Genau das.“

„Das ist unmöglich!, flüsterte Beth kaum hörbar und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Ich kann mir vorstellen, dass es dir schwer fällt, das zu glauben. Wenn du einen Moment brauchst, um deine Gedanken zu ordnen, dann werden Paul und ich dich alleine lassen.“

„Nein, es ist schon gut. Es ist nur eine ganz Menge an Information. Hat das, was Sie jetzt mitteilen möchten, auch mit meiner Tante zu tun?“ Die Frage richtete sie direkt an Paul. Dieser nickte nur.

„Beth?“

Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf Jérémie. „Ja?“

„Nach diesen Erkenntnissen wird Henry noch einmal befragt werden. Damit ich dieser erneuten Konfrontation mit einem einigermassen schlüssigen Bild über die Datumsangaben begegnen kann, habe ich Paul gebeten herauszufinden, an welcher Schule sich Dina eingeschrieben hatte.“ Jérémie liess seinen Blick zu Paul wandern und erteilte ihm das Wort. „Paul?“

Inspecteur. Unter dem Namen Dina Clement habe ich in dem vorgegebenen Zeitraum keinerlei Eintragungen gefunden.“ Obwohl niemand etwas sagte, war das Erstaunen deutlich zu spüren. „Ich erinnerte mich dann aber noch an das was Henry sagte, als wir das Haus verliessen. Also habe ich nach Dina Alert geforscht.“

„Und?“ Beth ertrug es nicht, auch nur eine Sekunde länger auf die Information zu warten.

„Auch dieser Name taucht auf keiner der Anmeldelisten der Schulen auf.“

„Dann war sie vielleicht nicht an einer Sprachschule? Vielleicht hat sie einfach gearbeitet und sich die französische Sprache auf diese Art angeeignet?“

„Beth, ich glaube, Paul war noch nicht fertig.“ Der strenge Ausdruck in Jérémie Gesicht, hätte zu einem Lehrer gepasst, der einen Schüler für ungehorsames Verhalten zurechtwies. „Paul, bitte fahren Sie fort.“

„Eh, ja. Dieser Name tauchte aber in einem anderen Zusammenhang auf.“

„In welchem?“ Diesmal kam die Unterbrechung von Jérémie.

Auf dem Trauschein hinterlegt im Zivilstandesamt. Dieser Heiratsurkunde ist zu entnehmen, dass eine gewisse Madame Dina Clement vor geraumer Zeit einen Monsieur Daniel Alert geheiratet hat.“

Es dauerte einen Moment, bis diese Neuigkeit verdaut war und eingeordnet werden konnte. Nach dem Blick der beiden zu urteilen, hatte Paul das Gefühl, er hätte offenbart, dass er regelmässig rosarote Elefanten sähe und gerne nackt über saftig grüne Wiesen rannte.

Tief luftholend presste Beth jedes einzelne Wort langsam und deutlich heraus. „Soll das heissen, meine Tante war eine verheiratete Frau und die Hochzeit hatte hier in Nizza stattgefunden?“

Da Paul nicht wusste, was er tun sollte, rührte er sich nicht.

Ich denke, es darf sogar davon ausgegangen werden, dass sie im Endeffekt hier als Einwohnerin gemeldet war.“

Dankbar um Jérémies Hilfe atmete Paul erleichtert aus. Genau darauf kam er im Zuge seiner Nachforschungen auch.

„Ich glaube, ich muss mich gleich übergeben.“ Mit dieser Reaktion von Beth hatte Jérémie nicht gerechnet.

„In der Tat, das ist eine äussert interessante Mitteilung. Sonst noch etwas?“

„Nein, das ist alles für den Augenblick.“

„Gut. Gib mir Bescheid, wenn ihr wisst, wann Henry hier sein wird.“

„Wird gemacht.“ Womit Paul wie ein Schatten bereits wieder verschwunden war.

„Geht es dir gut?“ Irgendwie wirkte es, als wäre noch mehr Farbe aus Beths Gesicht gewichen, obwohl das kaum möglich war.

„Wenn du es genau wissen willst, nein, es geht mir nicht gut. Jeder einzelne Teil meines Körpers tut weh, das verdanke ich irgendjemandem da draussen, von dem ich nicht weiss, was ich ihm angetan habe und jetzt erfahre ich auch noch, dass ich eigentlich nicht die geringste Ahnung habe, was meine Tante alles getrieben hat, bevor ich auf die Welt kam. Wenn ich es genau betrachte, will ich es möglicherweise auch nicht wissen. Denn ich habe das Gefühl, je tiefer ich in ihre Vergangenheit eintauche, desto mehr werde ich persönlich attackiert und das gefällt mir nicht.“ Erschöpft atmete sie aus. „Ich glaube, ich brauch jetzt einen Moment Pause und einen starken Drink.“

Ich werde mal sehen, was ich tun kann.

Kaum hatte Jérémie einen Fuss vor seine eigene Bürotür gesetzt, wurde er von Irene aufgehalten. „Du kommst wie gerufen. Henry ist hier.“

Hervorragend.“

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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