Kapitel 53

 

Den Rest der Nacht hatte Beth mit offenen Augen dagelegen. Sie war zu aufgekratzt gewesen, um schlafen zu können. Als Silvan das Wohnzimmer betrat, stand bereits ein reichliches Frühstück auf dem Küchentisch, dessen Tischplatte unter der Last der Nahrungsmittel zusammenzubrechen drohte. Beth stand am Tresen und war dabei neuen Kaffee aufzusetzen, da sie die erste Kanne bereits alleine geleert hatte.

„Guten Morgen.“ Misstrauisch schaute sich Silvan um. Die Wohnung war aufgeräumt und sauber. Verstohlen strich er mit dem Zeigefinger über die Oberkante des Bilderrahmens zu seiner Rechten und stellte fest, dass seine Fingerkuppe nicht die Spur eines Staubkörnchens aufwies. „Sag mal, wann bist du heute aufgestanden?“

„Hm?“ Beth drehte sich mit glühendem Gesicht zu Silvan um. „Ah! Guten Morgen! Lass mich überlegen… Der Laden um die Ecke hat 24 Stunden offen, also bin ich so gegen… Ich habe keine Ahnung!“ Überdreht grinste Beth ihn an und wandte sich wieder ihrem Kaffee zu.

Der Laden? Dachte mir schon, dass du das alles nicht aus meinem Kühlschrank gezaubert hast.

Als Beth sich wieder umdrehte, um die frisch gefüllte Kanne auf den Tisch zu stellen, stellte sie fest, dass Silvan nur in Boxershorts und T-Shirt vor ihr stand. Sie konnte sich gut vorstellen, dass diese nicht wirklich verdeckenden Shorts für Silvans Verhältnisse bestimmt mehr waren, als er sonst morgens in seiner Wohnung zur Schau trug. Es schauderte sie ein wenig, als ihr die Vorstellung seines nackten Hinterns durch den Kopf huschte. „Neue Gedanken, neue Gedanken…“

„Wie bitte?“

„Nichts!“ Leicht errötend drehte sie sich von ihm weg, um sich über das Brot herzumachen. „So, das Buffet ist eröffnet! Setz dich!“

Silvan tat wie geheissen und liess dabei seinen Blick über den Tisch schweifen. Es gab Eier in allen Varianten, jegliche Arten Brot, Konfitüren von Rabarber bis Passionsfrucht, alle erdenklichen Sorten Aufschnitt, Honig, Lachs… „…Liebe Güte, du hast dich richtig ins Zeug gelegt!“

„Ich hatte grade nichts Besseres zu tun. Könnte sein, dass es ein bisschen viel ist, aber jetzt hast du wenigsten die nächsten Tage etwas Leckeres zum Essen zu Hause.“

Silvan äusserte nicht laut, dass diese Mengen für die nächsten Jahre reichen dürften. „Danke für deine Mühe. Auch dafür, dass die Wohnung jetzt glänzt. Eigentlich könnten wir vom Fussboden essen, richtig?“

„Nun, obwohl ich geputzt habe, würde ich das nicht empfehlen. Ich weiss nämlich nicht, ob ich alles erwischt habe, da die Wohnung so aussah, als hätte schon länger keiner mehr Hand angelegt.“ Beth blickte Silvan herausfordernd an. Dieser senkte aber nur den Kopf über seinen Teller und konzentrierte sich mehr als nötig auf das Bestreichen eines Vollkornbrötchens. „Das alles hier war das mindeste, was ich als Dank für deine Gastfreundschaft tun konnte. Du hast dich schliesslich in Gefahr begeben.“

„Ich habe einer liebestollen Putzfee Unterschlupf gewährt. Es gibt wirklich Schlimmeres. Wenn dieser Jérémie heute Nacht angeklopft hätte, wäre ich bestimmt mit ihm fertig geworden.“

„Bestimmt. Aber die Sache mit dem liebestoll nimmst du bitte zurück, sonst verwüste ich deine Wohnung gleich wieder.“

„Das wäre schade, aber tu, was du nicht lassen kannst. In einer Woche sieht es sowieso wieder aus wie vor deiner Reinigungsattacke. Aber sag, was hat dich so früh aus den Federn geholt?“

Beth biss genüsslich in ihr dick mit Butter beschmiertes Brötchen. Mit vollem Mund setzte sie dann zu einer Antwort an. „Zuerst hatte ich einen absolut seltsamen Traum. Es war, als würde mich irgendjemand mit aller Gewalt zwingen wollen, etwas zu sehen, was für mich oder den Fall wichtig sein könnte und ich bisher nicht beachtet habe.“

„Ach ja? Und hat das geklappt?“

„Erstaunlicherweise ja. Ich habe dir doch von dem Streit in Jérémies Büro erzählt, bevor ich mich in den Zug setzte?“ Sie wartete Silvans zustimmendes Nicke ab. „Also, bevor ich das Büro verliess, habe ich die Akte von Dina auf seinem Tisch ausgebreitet liegen gesehen. Ich war so wütend, dass ich mir überlegte, einfach alles von der Platte zu fegen. Ich habe mich dann aber nicht dazu hinreissen lassen und bin stattdessen einfach gegangen.“

„Ja, das hast du mir gestern bereits erzählt.“

„Genau. Aber jetzt halt dich fest. Jérémie wollte mir noch mehr erklären. Er sagte auch, dass es da noch mehr gäbe. In meiner Rage ist mir aber überhaupt nicht richtig aufgefallen, dass er bei diesen Worten auf ein Bild gezeigt hatte, das auf dem Tisch lag.“

Jetzt wurde Silvan erst richtig neugierig. „Und was war auf dem Bild?“

„Es war ein Foto vom Tatort. Dina, wie sie tot über dem Grab liegt.“

„Das ist ja schrecklich!“

„Und ob! Aber darüber hatte ich noch keine Zeit nachzudenken. Denn ich wurde von etwas abgelenkt, das noch viel erschreckender ist.“

„Mach es nicht so spannend! Was war da noch abgebildet?“

„Der Grabstein.“

Jetzt war Silvan verwirrt. „Der Grabstein? Was ist daran so besonders? Schliesslich geschah alles auf einem Friedhof!“

„Es geht doch nicht um den Stein selbst, es geht um den Namen darauf!“

„Aha. Und der ist etwas Besonderes?“

„Und ob!“

Okay. Wie lautet der Name?“

„Pierre Clement.“

„Pierre Clement? Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, was du mir sagen möchtest.“ Und genauso schaute er sie auch an - verständnislos.

„Der Tote in diesem Grab trägt meinen Familiennamen, aber ich habe noch nie von ihm gehört. Er ist hier in Nizza beerdigt worden und meine Tante wurde an seinem Grab ermordet. Also, wer ist er? Das kann doch alles kein Zufall sein!“

„Aha.“ Langsam erhellte sich Silvans Gesichtsausdruck wieder. „Und was hast du jetzt vor?“

„Ich gehe in die Bibliothek und forsche nach.“ Mit einem kurzen Blick auf die Uhr sprang Beth auf und eilte in Richtung Ausgang.

„Hei warte! Du bist mir ein bisschen zu schnell!“ Silvan konnte Beths Tempo kaum folgen, aber so leicht liess er sich nicht abschütteln. „Ich komme mit.“

Noch bevor Beth etwas dagegen einwenden konnte, hatte sich Silvan bereits in seine Jeans gezwängt und bemühte sich, während dem Gehen, mit einem Brötchen zwischen den Zähnen die Hose zu schliessen und gleichzeitig in seine Schuhe zu schlüpfen. Obwohl die Hose zu lang war, brachte er das Kunststück schlussendlich ohne hinzufallen fertig.

 

Beth hatte nicht auf ihn gewartet. Sie war im Treppenhaus schon fast unten angekommen, als Silvan sie einholte. „Mensch, deinen Gedankengängen und anschliessend dir zu folgen, ist echt eine Herausforderung!“

„Ich habe auch nicht gesagt, dass du mitkommen sollst.“ Sie nahm ihm das Brötchen aus der Hand und biss selbst hinein.

„Stimmt, aber du warst so schnell aufgestanden, dass ich dir meine Fragen nicht mehr stellen konnte, also beschloss ich kurzerhand mitzukommen.“

„Musst du denn nicht arbeiten?“

„Nein, heute nicht.“ Zu Beths Leidwesen schien Silvan diese Tatsache sehr zu erfreuen. „Also. Frage eins. Warum gehen wir nicht einfach zu Jérémie? So wie du die Situation in deiner Erzählung beschrieben hast, scheint er noch mehr zu wissen.“

„Genau darum wollte ich so schnell aufbrechen, um dieser Frage aus dem Weg zu gehen. Aber da du dich nun mal nicht abschütteln lässt, sag ich’s dir. Und wehe du kommst mir wieder mit diesem Liebesmist.“ Drohend die Faust erhebend sah sie zu Silvan hoch. „Weil ich ihn nicht sehen will.“

„Ja klar. Darum machst du dir die Mühe Dinge nachzuforschen, die dir ein anderer einfach erzählen könnte.“

„Das wissen wir doch überhaupt nicht! Vielleicht wollte er mir etwas ganz anderes sagen. Schon einmal daran gedacht? Und abgesehen davon, er glaubt, meine Eltern wären Drogenkuriere. Glaubst du, er würde mir restlos alles, was er herausgefunden hat, wahrheitsgetreu erzählen? Nachdem, was wir zusammen erlebt haben, im Vergleich dazu, was er jetzt über meine Eltern herausgefunden zu haben glaubt, muss er doch denken, ich hätte ihn nach Strich und Faden belogen.“

„Oder zumindest einiges verheimlicht. Das kann ich irgendwie nachvollziehen.“

„Und deine zweite Frage?“

„Ah, die hätte ich fast vergessen. Passiert dir das öfter?“

„Was?“

„Diese Träumerei?“

„Nein. Zumindest hatte ich das früher nie. Aber seit ich hier bin, träume ich immer wieder einmal. Was eigentlich kein Wunder ist. Ich habe in dieser Stadt Einiges erlebt und muss die ganzen Eindrücke irgendwie verarbeiten. Das gibt meinem Unterbewusstsein einen Haufen zu tun. Ich könnte mir vorstellen, dass das ein Grund ist, warum ich nur hier so viel träume. Allerdings finde ich es auch ganz praktisch, denn offensichtlich werden so dann noch Dinge zu Tage befördert, die ich nicht auf Anhieb erkannt habe.

„Wie einen Namen auf einem Grabstein.“

„So ist es.“

 

In der Zwischenzeit hatten sie die Bibliothek Louis Nucera erreicht. Beth musste als Nichteinheimische eine Mitgliedschaft lösen, während Silvan die Räumlichkeiten umsonst nutzen durfte.

„Wo fangen wir an?“ Silvan fand die ganze Situation sehr aufregend und konnte es kaum erwarten, alles nach Hinweisen zu durchstöbern.

„Ich habe keine Ahnung.“

Das war nicht die Antwort die er hören wollte. Mit hochgezogener Augenbraue schaute er Beth an. „Gestatte mir den Hinweis, dass dies keine gute Voraussetzung ist.“

„Danke, das weiss ich selbst. Ich bin hier aber auch nicht der Einwohner, der gratis rein durfte.“

Dieser Seitenhieb sass. „Schon gut. Ich denke, wir müssen runter.“ Zugeben, dass er noch nie in dieser Bibliothek war, kam auf keinen Fall in Frage. Zu Silvans Glück war der Ansatz nicht einmal schlecht.

„Wir machen uns jetzt erst einmal über die digitalisierten Informationen her.“

„Du meinst Internet? Dafür hätten wir aber zu Hause bleiben können.“

Beth schenkte Silvan einen bösen Blick. „Das World Wide Web ist eine hervorragende Erfindung, es taucht aber auch viel Müll auf. Deshalb steh ich auf Bibliotheken. Die hier gesammelten Werke und Informationen, die grossen Archive und all ihre Inhalte beherbergen zwar auch viel Müll, aber der ist wenigsten ein bisschen besser gefiltert und man kann zielgerichteter arbeiten. Ausserdem wird im Internet manchmal auch auf ein Buch Bezug genommen, das ich zuhause dann eigentlich nie zur Hand habe. Wenn ich direkt in der Bibliothek sitze, kann mir das kaum passieren.“

„Klingt logisch. Aber was machst du, wenn das Buch ausgeliehen ist?“

Musst du immer ein Aber anfügen?

Beth richtete sich an einem freien Platz ein, öffnete die Suchmaschine und tippte den Namen ‚Pierre Clement’ in das Suchfeld ein. Der Computer durchforstete allerlei Dateien, doch zum Erstaunen von Beth und Silvan, behauptete die Maschine, nichts gefunden zu haben.

„Seltsam…“ Murmelte Beth und drückte damit aus, was Silvan dachte.

„Du, wenn Zeitungsartikel oder so etwas geschrieben werden, wird der Name doch manchmal von der Redaktion geändert.“

„Guter Einfall. Dennoch, der Typ ist tot. Also muss es doch irgendetwas geben. Eine Todesanzeige, einen ärztlichen Bericht, ein Datum für die Abdankung. Irgendetwas muss doch da sein!“

„Den Bericht bekommst du wahrscheinlich nur im Krankenhaus. Also ich hätte keine Freude daran, dass alle nach einem einzigen Bibliotheksbesuch meine gesamte Krankengeschichte kennen würden.

„Ja, schon klar. Aber du verstehst was ich meine?“ Gab Beth ungeduldig zurück.

„Denke schon. Gib doch mal den Namen deiner Tante ein.“

Beth tat wie geheissen. „Nichts.“

„Das ist doch eigentlich positiv. Jetzt wissen wir wenigstens, dass die Polizei dicht hält.“

„Bringt mir jetzt nur nichts.“

„Sagtest du nicht, Dina und ihr Lover kannten sich schon von früher? Versuch es doch mal mit seinem Namen. Wie hiess der noch mal?“

„Was? Henry. Aber ich glaube nicht, dass das etwas bringt. Der steht ja eigentlich nicht richtig mit uns im Zusammenhang.“

„Okay. Und wenn du die Namen ohne Gänsefüsschen noch einmal eingibst? Für den Namen Clement tauchen bestimmt einige Treffer auf, aber es hat auch niemand gesagt, es würde schnell und einfach gehen.“

Lass mich nachdenken. Da ich geneigt bin, die voraussichtlich weniger resultatträchtigen Dinge zuerst auszuprobieren, um nachher die Aufmerksamkeit alleine auf den grossen Haufen richten zu können, versuche ich es trotzdem mit Henry. Denn in Verbindung steht er mit der Clement Familie, wenn auch nur in dünner, weshalb wir ihn trotz allem nicht einfach vergessen dürfen.“

„Sag ich doch. Bist du eine von denen, die zuerst das isst, was sie weniger mag, um sich dann voll und ganz auf den Genuss des geliebten Nahrungsmittels zu konzentrieren?“

Beth war bereits dabei, Henrys Namen in das Suchfeld einzugeben. Silvans Kommentar bekam sie nur nebenbei mit, aber dennoch konnte er sie damit ablenken. „Was? Warum? Was hat Essen mit dieser Sache zu tun?“ Sie drückte die Enter-Taste und drehte sich vom Bildschirm weg.

„Das Auswahlverfahren. So wie du mir jetzt aufgezeigt hast, wie du vorgehen möchtest, das Kleine zuerst, damit der Kopf für das Grosse bereit ist, hat es mich an solche Essgewohnheiten erinnert.“

„Du hast seltsame Gedankensprünge, aber sie sind ziemlich treffend. Tatsächlich esse ich… Silvan?“ Beth brach ab, als sie bemerkte, dass Silvan ihr nicht mehr zuhörte. Mit starren Augen und offenem Mund fixierte er den Bildschirm.

Das musst du dir ansehen.“ Neugierig folgte Beth seinem Blick.

„Mein Gott…“ Sie wusste sofort, was Silvan so gefesselt hatte.

Eine beinahe unzählbare Anzahl an Suchresultaten wurde vor ihren Augen eine nach der anderen aufgelistet und in allen kam der Name Henry Depruit vor. Doch auf den zweiten Blick war zu erkennen, dass nicht nur sein Name in beträchtlichem Ausmass aufgelistet war. Immer und immer wieder tauchte auch ein weiterer Name auf, vor dessen Erscheinen sich Beth weitaus mehr erschreckte. Jake Clement, ihr Vater.

 

 

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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