Kapitel 61
Silvan sprang panisch in den Busch neben dem Friedhofstor, als er die Schweinwerfer auf sich zukommen sah. Mit rasendem Puls, aber konzentriert spähte er aus seinem Versteck und versuchte angestrengt irgendetwas zu erkennen.
Paul hatte kaum angehalten, da stürzte Jérémie bereits aus dem Auto. „Paul, pass auf Susanna auf!“, schrie er noch über seine Schulter hinweg, dann rannte er wie ein Besessener zum Friedhofstor. Er streckte soeben die Hand nach dem Tor aus, als ihn ein Rascheln im danebenliegenden Busch innehalten liess. Er reagierte in Sekundenschnelle. Mit geübtem Griff zog Jérémie seine Waffe, entsicherte sie und richtete den Lauf in die Richtung des Geräuschs. Keine Sekunde zu spät, wie sich herausstellen sollte. Denn in diesem Moment sprang ihm eine grosse dunkle Gestalt entgegen. Überrascht konnte Jérémie gerade noch den Finger vom Abzug nehmen. Obwohl er auf solche Situationen trainiert war und ihn sein Reaktionsvermögen noch nie im Stich gelassen hatte, spürte er nach dieser Konfrontation besonders intensiv, wie sein Körper das Blut durch seine Bahnen pumpte. „Sag mal, bist du verrückt? Man springt nicht einfach vor einen Typen mit geladener Waffe!“
„Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber: Ich bin froh, Sie zu sehen!“ Silvans Worte sprudelten einfach so aus ihm heraus, noch bevor er den Ernst der Lage erfasst hatte. Als er dann die Pistole in Jérémies Hand entdeckte und ihm bewusst wurde, dass er soeben direkt in deren Mündung geschaut hatte, drohte sein Magen den Dienst zu quittieren.
„Ja, ja.“ Ungeduldig winkte Jérémie ab und steckte seine Waffe zurück in das Halfter. „Geht mir ähnlich. Wenn du hier bist, kann Beth hoffentlich nicht weit sein. Oder?“
„Die Annahme ist nicht schlecht. Sie ist da drin.“ Silvan zeigte auf den Friedhof.
„Wie lange schon?“
„Das weiss ich nicht genau, aber ich weiss, dass sie schon lange wieder zurück sein müsste.“ Besorgnis zeichnete sich in Silvans Zügen ab, was nicht zu Jérémies Beruhigung beitrug.
„Was wollte sie denn da drin?“
„Ihren Onkel sehen.“
„Um diese Zeit? Dieses verrückte…!“ Wohl wissend, dass seine persönlichen Gefühle nichts zur Besserung der Lage beitrugen, brachte er den Satz nicht zu Ende, sondern konzentrierte sich darauf, einen kühlen Kopf zu bewahren. „Okay. Silvan, du wartest bei Paul.“
Erneut griff er nach dem Tor. Dieses Mal öffnete er es und trat mit wachsendem Unbehagen ein.
Schnell hatten sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt, was ihm ein einigermassen zügiges Vorwärtskommen erlaubte. Allerdings glaubte er bei jedem Schritt ein anderes Geräusch aus dem Unterholz zu vernehmen. Obwohl er genau wusste, dass die Tiere der Nacht aus ihren Verstecken kamen, um die für sie angebrochene Zeit zu nützen, verfluchte er Beth bei jedem Rascheln und Quieken noch ein bisschen mehr. Froh darüber, sich noch gut an den Weg zum damaligen Tatort erinnern zu können, hatte er den ersten Anhaltspunkt nach kurzer Zeit erreicht. Er ging an der kleinen Holzbank vorbei, bog nach rechts ab und folgte dann dem Weg, um schliesslich erneut rechts abzubiegen. Doch auf einmal blieb er stehen. Nach kurzer Überlegung drehte er sich zu der Stelle um, an der er zum zweiten Mal rechts abgebogen war. Er musste zugeben, dass diese Rechtsbiegung jemanden, der es nicht besser wusste, äusserst verführerisch in die Irre leiten konnte. Aber Jérémie wusste es besser. Angestrengt konzentrierte er sich auf die Düsternis vor seinen Augen. Langsam nahm der von Verwucherung und frischer Erde getarnte Weg deutlichere Umrisse an. Trotz der zunehmenden Geräusche trat Jérémie ohne zu zögern in die dunkleren Schatten und ging weiter. Es dauerte nicht lange, bis er die Äste der Trauerweide wie Medusas Haar in den Himmel ragen sah. Als einer davon Jérémies Schulter beim Vorbeigehen streifte, zuckte er fast unmerklich zusammen. So gleichgültig wie irgend möglich trat er in den Schutz der Weide und auf das dahinter verborgene Grab zu. Wie der blanke Hohn leuchteten ihm die gelben Rosen entgegen. Sie war hier, das war nun gewiss, aber warum war sie nicht zurück zum Ausgang gekommen? Sich mit allerlei vernünftigen Erklärungen selbst beruhigend, wie derjenigen, dass sie sich schlicht verpasst hatten, Beth inzwischen freudestrahlend ihre Mutter begrüsst hatte und draussen auf ihn warten würde, trat er zurück auf den Weg. Zuerst ging er auf dem Pfad zurück, den er gekommen war. Dann kam er an eine Stelle, an der der Weg breiter wurde. Auf den ersten Blick keine ungewöhnliche Begebenheit, wenn man jedoch genauer hinsah, entdeckte man, dass der Weg sich dort teilte, zwar schlängelte er sich die ersten Schritte parallel zum anderen durch die Landschaft, dann jedoch setzte er sich in eine andere Richtung fort, fernab des Rückwegs. Bei Tag war diese Stelle gut sichtbar, aber bei Nacht reichte ein kurzer Moment der Ablenkung oder der Unachtsamkeit aus und dieser Ort wurde zur Falle. Jérémie entschied sich absichtlich für den falschen Weg. Je tiefer er in das Friedhofsgelände eindrang, desto dunkler wurde es. Immer vorsichtiger bahnte er sich einen Weg zwischen den Gräbern hindurch, bis er plötzlich einen kleinen Lichtschein in der Dunkelheit aufflackern sah. Um etwas Genaues zu erkennen, war er zu weit weg, doch der Schein reichte aus, um schattige Gestalten erscheinen zu lassen, die weder zu Tieren noch zu Pflanzen passten. Ausserdem hatte er das Gefühl, die Luft würde ihm Geräusche zutragen, die Fetzen einer Unterhaltung ähnelten. Alarmiert schlich er neugierig näher. In geduckter Haltung suchte er hinter den Grabsteinen Deckung, bis er nah genug war, um besser sehen und hören zu können. Und dann sah er sie. Beth. Das, was er zu sehen bekam, hatte er nicht erwartet, weshalb ihn der Anblick, der sich ihm bot, beinahe wütend aufschreien liess. Die aufkeimende Wut niederkämpfend und sich auf seine hart antrainierte kühle Vorgehensweise besinnend, zwang er sich, die Szene emotionslos zu betrachten. Er sah Beth, wie sie mit Handschellen an ein vermeintlich dekoratives Metallgestänge gefesselt vor einem Grabstein hockte. Schnell huschten seine Augen über ihren Körper, um so gut es in dieser Situation möglich war, sicherzugehen, dass sie nicht verletzt war. Sein Kontrollblick erreichte ihren Hals. Beinahe hätte er seinen Vorsatz der beruflichen Professionalität wieder vergessen. Das Blut lief von knapp unterhalb des Ohres ihren langen, zierlichen Hals hinunter. Ansonsten schien sie unverletzt, weshalb Jérémie seinen Fokus auf das Wesen vor ihr richtete. Er konnte aus seiner Position nicht viel erkennen, denn der Mensch hatte ihm den Rücken zugekehrt, dennoch schloss er aus der Statur und den Bewegungen, dass es sich um einen hageren Mann handelte, der irgendetwas fest zu umklammern schien, der eigentliche Gegenstand wurde aber vom Jackenärmel des Mannes verdeckt. Abwägend, was er tun sollte, legte Jérémie sicherheitshalber die Hand an seine Pistole. Kaum hatte er den Griff fest mit den Fingern umschlossen, entschied er sich dagegen. Er stufte den Mann als äusserst unberechenbar und hochgradig geistig verwirrt ein, weshalb der Entschluss nahe lag, dass er sich nicht durch ein einfaches ‚Polizei, lassen Sie die Waffe fallen’ von seinem Vorhaben abbringen lassen würde. Schiessen kam ausserdem nicht infrage, weil er von seiner momentanen Position aus nicht sicherstellen konnte, dass die Kugel nicht auch Beth traf. Während er noch überlegte, konnte er beobachten, wie sich die Lage dramatisch zuspitzte, denn auf einmal streckte der Wahnsinnige seinen Arm in die Luft, was den Blick auf den fest umklammerten Gegenstand freigab. Jérémie wusste, dass er handeln musste, und zwar unverzüglich.
Entsetzt schrie Beth auf, als der Mann nun seine Hand in den dunklen Himmel erhob. Das Messer glitzerte bedrohlich im Schein der Kerze. Erneut durchbrach er die Stille der Nacht mit seinem beschwörenden Ruf. „Sterben!“ Dann durchschnitt das Messer die Luft und sauste nieder. Direkt auf sie zu. Auf einmal fühlte Beth nichts mehr. Sie schloss die Augen und drehte ihren Kopf zur Seite, beinahe so, als könnte sie ihr Schicksal damit abwenden und sich vor dem Unheil schützen. Eigentlich hätte sie erwartet, dass gemäss allen Erzählungen ihr ganzes Leben vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen würde. Aber es geschah nichts dergleichen. Einzig eine friedliche Leere breitete sich in ihr aus. Entgegen ihrem Gefühl, dass bereits Minuten hätten verstrichen sein sollen, spielte sich alles innert Sekundenbruchteilen ab. Plötzlich brach ein Tumult los, der sie aufschrecken liess. Anfangs war sie durch und durch erstaunt, weil sie weder Schmerz empfand, noch ein Messer oder Blut an ihrem Körper entdecken konnte. Verwirrt schaute sie auf. „Oh mein Gott!“ Sie verspürte gleichzeitig unheimliche Angst und wahnsinnige Erleichterung.
Jérémie hatte seine Deckung verlassen und preschte auf den Mann zu. Noch bevor dieser verstand, was geschah, hatte Jérémie ihn bereits von hinten angegriffen. Seinen Arm fest in Händen drehte er ihn auf den Rücken, damit der Mann das Messer fallen liess. Die anfängliche Überraschung wich aber schnell aus dessen hageren Gliedern. Mit voller Wucht rammte er Jérémie den Ellbogen in die Magengrube. Dies führte dazu, dass sich der Griff um das Handgelenk lockerte, was der Mann sofort ausnutzte. Blitzschnell riss er sich frei und drehte sich um, damit er sich seinem Angreifer frontal stellen konnte. Leicht gebeugt, den Arm vor den Magen geschlagen, registrierte Jérémie die Bewegung. Es schoss ihm durch den Kopf, dass die Aufmerksamkeit dieses Psychopathen nun wenigstens nicht mehr nur auf Beth lag. Seine gebeugte Position ausnützend stürmte Jérémie wie ein Footballspieler auf den Mann los. Er erwischte ihn mit seiner rechten Schulter auf der Höhe des Brustkorbes, schlang die Arme um seine Taille und riss ihn zu Boden. Der Mann prallte hart auf der Erde auf. Nur um Haaresbreite verfehlte er mit seinem Kopf einen spitzen Stein. Jérémie dagegen war auf den Aufprall gefasst und benützte den Körper des anderen als Schutzschild. Beinahe gleichzeitig brachte er sich in eine stabilere Position auf und zog seine Pistole. Er zielte direkt auf das Gesicht seines Gegners.
Wie in Trance beobachtete Beth das Geschehen. Krank vor Angst um Jérémie jaulte sie immer wieder auf, wenn er getroffen wurde. Hektisch begann sie das für sie erreichbare Terrain nach einem nützlichen Gegenstand abzusuchen, um die Handschellen aufzubrechen. Aber sie fand nichts. Das einzige, was sie sah, war das Messer, das für sie in unerreichbarer Ferne auf der Erde lag. Das schien ihr das passende Gerät zu sein, um wenigstens Jérémie zu helfen, doch dafür musste sie sich wiederum aus den Handschellen befreien. Wie wild begann sie deshalb an ihren Ketten zu zerren und zu reissen. Ihr Handgelenk begann bereits zu bluten, doch es half alles nichts. Verzweifelt aufheulend liess sie sich gegen den Grabstein fallen. Sie war wütend, schmutzig, verletzt und sie konnte überhaupt nichts tun. Das brachte sie schier um den Verstand.
Zum ersten Mal sahen sich die beiden Männer direkt in die Augen. Den Bruchteil einer Sekunde starrte Jérémie sein Gegenüber ungläubig an. Er kannte ihn. Und auf einmal hatte das Gesicht einen Namen. Die Gewissheit traf Jérémie vollkommen überraschend. Der Flughafenpolizist, Henrys Tod... „Sie…! Dann starb Henry überhaupt nicht eines natürlichen Todes!“ Ein teuflisches Grinsen breitete sich auf Bertrands Gesicht aus, aber er sagte nichts. Stattdessen machte er sich genau diesen kurzen Augenblick der Unaufmerksamkeit zu nutzen. Flink holte er mit dem Arm aus, schlug Jérémie die Waffe aus der Hand, hob sein Bein in einem Halbkreis über seinen liegenden Körper, so dass er mit dem Fuss neben dem Oberschenkel des anderen Beines aufsetzte. Er verlagerte sein ganzes Gewicht auf diesen Fuss und stand mit dem Schwung der Bewegung auf. Mit dem Bein, das so nicht belastet wurde, holte er erneut aus und traf Jérémie mit einem präzisen Schlag am Kiefer. Dieser taumelte und stürzte. Mit irrem Blick sammelte Bertrand noch einmal alle Kräfte, um zum letzten Schlag auszuholen. Er stürzte sich mit seinem gesamten Körpergewicht auf Jérémie, die Hände nach seinem Hals ausgestreckt. Dann ging alles ganz schnell. Unbewusst konnte Jérémie Beths Angstschrei hören, er konnte sich aber nicht darum kümmern. Gleichzeitig sah er im Augenwinkel etwas aufblitzen. In der aufgewühlten Erde neben ihm lag das Messer. Angestrengt streckte er die Finger danach aus, da sah er auch schon seinen Gegner auf sich zustürzen.
Ein einziger gellender Schrei hallte durch die Nacht, dann wurde alles still. Blut tränkte die Erde und Beth weinte bittere Tränen. Sie wusste nicht, wen es getroffen hatte, sie konnte aber auch nichts tun, denn sie war immer noch gefesselt wie ein Tier in der Falle. Als wären sie weit entfernt, drangen dumpfe Geräusche an ihr Ohr. Doch sie waren nicht fern. Sie waren in unmittelbarer Nähe. Stimmengewirr, Rufe und Schritte, ein Klicken und schliesslich sank ihr Arm schwer wie Blei zu Boden. Ein kurzer Impuls liess sie wissen: Sie war frei. Verschwommen bemerkte sie ein Gesicht vor sich, das scheinbar etwas zu sagen versuchte. Sie kannte diesen Menschen, aber sie war nicht fähig, ihn einzuordnen, es war ihr auch egal. Blind vor Tränen stolperte sie so schnell sie konnte zu Jérémie, der immer noch unter dem anderen Körper auf dem Boden lag. Sie suchte seine Hand, versuchte den anderen von ihm zu stossen. Aber es wollte ihr nicht gelingen. Dann plötzlich, ein leises Stöhnen, eine Bewegung und der obere Körper rollte wie von Geisterhand zur Seite.
„Verfluchte Scheisse noch Mal! Ich werde nie wieder versuchen eine Frau zu retten!“ Schwerfällig rappelte sich Jérémie auf seine Ellbogen. Vor Erleichterung aufschluchzend riss ihn Beth mit einer stürmischen Umarmung gleich wieder zu Boden.
„Au!“ Es klang wie das Jaulen eines verletzten Hundes, aber er liess sie gewähren. Dann umschloss er sie mit seinen Armen, vergrub sein Gesicht in ihrem Haar und sog tief ihren süssen Geruch ein. Seine feinen Fältchen an den Augen vertieften sich, als sich ein Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. Ganz sanft strich er ihr erst über das Haar, bevor er seine Hand flach in ihren Nacken legte und sie mit leichtem Druck zwang, ihn anzusehen. Er schaute ihr tief in die Augen, aber das neckische Funkeln verschwand nicht. „Du bist mir nicht mehr böse?“
„Das weiss ich noch nicht, aber ich bin vorerst einfach froh, dass du noch lebst.“
„Du hast mir eine Heidenangst eingejagt, weißt du das?“
„Stimmt, deine Falte wurde tiefer.“ Beth strich mit dem Finger die Falte zwischen seinen Augenbrauen nach. „Also habe ich mein Ziel erreicht.“ Jetzt musste auch sie lächeln.
„Du kleines…“ Mit einem plötzlichen Ruck wechselte Jérémie die Position. Nun konnte er auf sie hinuntersehen. Den Satz beendete er trotzdem nicht. Das Lächeln verschwand aus beiden Gesichtern und sie verloren sich in den Augen des anderen. Ein Blick, der alles preisgab. Die Erleichterung, die Erschöpfung, die Freude, die ausgestandene Angst, die Trauer, die Wut, die Verwirrung, die Hilflosigkeit.
„Auch du hast mir eine Heidenangst eingejagt.“
Warm umfasste Jérémie Beths Wange. Er liess seine Finger sanft in Ihr Haar gleiten und beugte sich über sie, bis sich ihre Lippen berührten. Eine Berührung, die sich von einem zärtlichen Bekenntnis in eine heisse Offenbarung wandelte. Die ganze Welt schien still zu stehen.
„So, genug jetzt, ihr zwei! Bevor es nicht mehr jugendfrei ist.“
Den Mund noch nicht ganz vom anderen gelöst, mussten Beth und Jérémie unwillkürlich lächeln. Es fiel ihnen schwer, doch sie lösten ihre Blicke voneinander, um die Köpfe dem Störenfried entgegenzuheben. Paul stand wie ein Sittenpolizist mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihnen und Silvan direkt daneben. Dieser hatte aber die Arme vor seinem Körper verschränkt und schien es fast ein wenig zu bedauern, dass die Vorstellung schon beendet worden war, bevor sie richtig begonnen hatte.
„Spassverderber“, grummelte Jérémie und hievte sich schwer auf die Beine. Er bot Beth seine Hand an, die sie dankbar ergriff und sich daran hochzog.
„Ihr seht aus, als wärt ihr Tarzan und Jane persönlich“, kommentierte Silvan ihr Aussehen.
Beth und Jérémie musterten sich gegenseitig von Kopf bis Fuss. Die zerrissenen, schmutzigen Kleider, die zerzausten Haare und die verkrusteten Wunden wirkten tatsächlich nicht sehr zivilisiert. Bevor Jérémie aber etwas erwidern konnte, drängte sich eine Frau zwischen Silvan und Paul hindurch.
Beth überlegte kurz, ob sie zu allem Übel auch noch an Wassermangel gelitten hatte und dies nur eine Fata Morgana war, aber als die Frau sie fest in die Arme schloss, musste sie daran denken, dass Fata Morganas sich normalerweise beim Näherkommen auflösten, was hier nicht der Fall zu sein schien. „Mama!“ Erleichtert aufatmend liess Beth sich in die Arme ihrer Mutter sinken.
„Oh, mein Liebes! Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung? Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“
„In Ordnung ist wohl nicht ganz richtig, aber ich denke, es geht mir ganz gut. Zumindest bin ich noch in einem Stück. Aber wie kommst du hierher?“
„Ach Kleines, das ist eine lange Geschichte.“
Während Susanna einen Kurzabriss ihrer langen Geschichte gab, wandte sich Jérémie an Paul. „Warum hat das denn so lange gedauert! Beinahe hätte ich ins Gras gebissen!“ Er zeigte auf den Leichnam, der immer noch im Dreck lag.
„Sie können froh sein, dass wir schon da sind. Eigentlich hätte ich noch länger gewartet, wäre da nicht der Anruf vom Revier gekommen.“
„Was haben die gesagt?“
„Dass Henry keines natürlichen Todes gestorben ist. Beim Gedanken daran, wer uns damals diesen Bären aufgebunden hat, schrillten meine Alarmglocken und das offensichtlich zu Recht.“ Paul schaute Jérémie ernst an.
„Ja, eindeutig zu Recht! Und wissen Sie was noch? Ich könnte schwören, Larissa Depruit kannte den Kerl ebenfalls.“
„Nicht ihr Ernst! Sie denken doch nicht etwa, er war der Zwischenhändler?“
„Ich denke es nicht nur, ich bin mir ziemlich sicher. Larissa und Henry waren doch wie geschaffen dafür, ihnen den Mord an Dina in die Schuhe zu schieben. Abgesehen davon, hat mir ein Vögelchen aus der Unterwelt mal was von einem Neuling mit einer Stimme ohne Stimmbruch gezwitschert und dem Typen der da liegt, hat’s beim Hauseinsturz die Eier zerquetscht.“ Die Daumen in die Jeans eingehakt stand Jérémie breitbeinig neben Paul und starrte den im Schmutz liegenden Leichnam an. „Er hätte sein Vorhaben beinahe zu Ende führen können.“
„Worum geht’s hier eigentlich? Wer ist das? Ich kapier nichts!“ Silvan, dem die beiden den Rücken gekehrt hatten, meldete sich aufgeregt und neugierig zu Wort.
„Wir werden einen Bericht schreiben, den du dann lesen darfst. Jetzt ist erst einmal aufräumen angesagt.“
Paul klopfte Jérémie freundschaftlich auf die Schulter. „Chef, ich glaube, Sie haben heute genug getan.“