Kapitel 16

 

Der Tau auf den Blättern glitzerte sanft im ersten Licht des neuen Tages, während Nizza langsam aus der friedlichen Ruhe erwachte und sich den neuen Aufgaben stellte. Beth wurde von den ersten Sonnenstrahlen, die sich über ihr Gesicht legten, langsam aus ihren Träumen gekitzelt. Die Arme ausstreckend lockerte sie ihre Muskeln und setzte sich auf. Überrascht stellte sie fest, dass sie sich angenehm ausgeschlafen und erholt fühlte. Sie stand auf, wickelte sich in ihren Bademantel und schlurfte wie gewohnt als erstes in Richtung der Küche. Doch ihr Vorhaben wurde jäh vom Klopfen an die Wohnungstür unterbrochen. Verdutzt ging sie hin und schaute durch den Spion. Als sie das Gesicht erkannte, öffnete sie.

„Guten Morgen. Wie komme ich zu dem Vergnügen, dich bereits um diese Zeit anzutreffen? Ich dachte, die hustenden Würmer würden wir telefonisch klären?“ Sie liess Jérémie in die Wohnung. „Wie bist du eigentlich durch die untere Haustür gekommen?“

„Eine deiner Nachbarinnen kam im gleichen Moment heraus, wie ich hinein wollte.“

„Das ist aber praktisch. Es ist auch gut zu wissen, dass meine Nachbarn vertrauenselig alles hereinlassen, was unten vor der Tür herumlungert.“ Sie lächelte ihn herausfordernd an, aber als sie Jérémies versteinertes Gesicht bemerkte, machte ihr Lächeln einer unangenehmen Unruhe Platz.

„Was ist los?“

Jérémie fiel es sichtlich schwer, einen Anfang zu finden. „Vielleicht setzen wir uns besser. Machst du uns einen Kaffee?“

Der Klang seiner Stimme gefiel ihr nicht, aber sie ging in die Küche und setzte Kaffee auf. Sie füllte zwei Tassen und liess sich gegenüber von Jérémie in einen Sessel sinken. „Also, was ist los?“

„Ich hatte heute Morgen einen Anruf aus der Gerichtsmedizin.“

Mit einem Ruck setzte sich Beth kerzengerade hin. „Was haben sie gesagt?“

„Beth, das wird jetzt nicht leicht.“

„Wenn du um den heissen Brei redest, wird’s auch nicht leichter. Also, was haben sie gesagt?“, fragte sie mit Nachdruck.

„Deine Tante ist an einer Überdosis Medikamente gestorben.“

„Wie bitte? Medikamente? Was für Medikamente?“ Entsetzt riss Beth die Augen auf.

„In ihrem Körper wurde der Arzneistoff Diazepam gefunden.“

Beth war auf einmal, als würde jemand auf ihrem Brustkorb sitzen. Um diesem beklemmenden Gefühl entgegen zu wirken, begann sie die Luft so tief sie konnte einzuatmen. Diazepam? Valium? Das ist unmöglich, meine Tante nahm keine Beruhigungsmittel, sie nahm überhaupt keine Medikamente.“

Beths körperliche Reaktion auf diese Nachricht entging Jérémie keineswegs. Dennoch wusste er, dass er sie nicht schonen konnte. „Da sagen die zurzeit vorliegenden Autopsieergebnisse aber etwas anderes. Beth, es tut mir Leid, aber ich muss dich das jetzt fragen. Hat deine Tante vielleicht unter Schlafstörungen gelitten oder hat sie verdächtige Äusserungen über den Tod gemacht?“

Obwohl Beth ihren Ohren nicht traute, regte sich tief in ihrem Innern ein Verdacht, denn sie aber sofort energisch beiseite schob. Es konnte einfach nicht sein. Ohne, dass sie es wollte, schnürte es ihr die Kehle zu. Es entglitt ihr eine Träne, die sie wütend wegwischte. Um Fassung ringend biss sie die Zähne zusammen. „Was willst du damit andeuten? Willst du mir sagen, sie hat sich selbst umgebracht? Auf einem Friedhof? Nein, tut mir Leid, das ist unglich. Meine Tante war glücklich! Ich habe sie noch nie so strahlen gesehen, wie an dem Tag, als sie von Henry erzählte. Damals in London sagte sie, dass sie bei ihrer Sprachreise hierher, das Herz an diese Stadt verloren hatte. Nein, sie sehnte sich ganz bestimmt nicht nach dem Tod.“

„Beth, dieser Henry, könnte es sein, dass er sie wieder verlassen hatte? Dass er verheiratet war oder sonst etwas, was deine Tante erfuhr und nicht ertragen konnte?“

„Sag nicht so etwas. Auch wenn Henry ein Geheimnis hatte und sie sich deshalb von ihm oder er sich von ihr trennen musste, wäre meine Tante nicht derart daran zerbrochen.“ Beth ereiferte sich derart, alles zu rechtfertigen, dass es sich selbst in ihren eigenen Ohren nur wie hohles Gerede anhörte.

Ihre Reaktion war für Jérémie zu erwarten gewesen und nur normal, deshalb wählte er seine nächsten Worte nicht schonender, aber vorsichtiger. „Weißt du eigentlich, was du mit dieser Aussage andeutest? Wenn deine Tante sich nicht selbst das Leben nahm, dann hat es jemand anderes getan und das kann ich beim besten Willen nicht glauben. Kannst du das verstehen?“

„Das glaube ich ja auch nicht, aber…“ Beth brach ab und die krampfhaft aufrechterhaltene Fassade zusammen. Verzweifelt schlug sie ihre Hände vor das Gesicht, während sie unkontrolliert zu schluchzen begann.

Jérémie stand von seinem Platz auf und setzte sich vor Beth auf den Wohnzimmertisch. Er fasste sie an den Handgelenken und zog sanft ihre Hände hinunter. Nebenbei stellte er beruhigt fest, dass ihr Puls zwar erhöht war, aber keine besorgniserregende Geschwindigkeit angenommen hatte. Er legte den Kopf schief, um unter ihren, über das Gesicht fallenden Haare, die Augen finden zu können. „Hör mal, ich werde mich jetzt daran machen, diesen Henry aufzuspüren.“ Beth starrte ins Leere, als wäre sie in einer anderen Welt. „Beth?“

Langsam hob sie den Kopf, schien aber durch ihn hindurchzusehen. Nach wie vor rannen ihr Tränen über das Gesicht, aber sie gab keinen Laut mehr von sich. Ihr Anblick brach Jérémie beinahe das Herz, aber er konnte nichts tun, um sie aufzuheitern. Deshalb nahm er sich vor, sie wenigstens ein bisschen abzulenken, indem er sie ein wenig beschäftigte. Schliesslich hatte er vor nicht allzu langer Zeit feststellen können, dass man mit der Beschäftigungstherapie bei ihr goldrichtig lag. Und wenn er es richtig anstellte, konnte es ihm sogar bei seinen Ermittlungen helfen. „Beth? Könntest du mir einen Gefallen tun?“

Sie reagierte nicht. Trotzdem sprach er weiter. „Könntest du deine Eltern anrufen? Wenn du möchtest, werde ich ihnen die Botschaft beibringen, aber ich wäre froh, wenn du anschliessend ein bisschen mit ihnen reden könntest. Einerseits denke ich, es wird dir helfen, andererseits ist mein Wunsch auch ganz egoistischer Natur. Möglicherweise haben deine Eltern Informationen über deine Tante, die du nicht kennst. Oder ihr findet zusammen etwas Hilfreiches heraus. Schliesslich kommt es vor, dass gewisse Dinge erst im Laufe eines Gesprächs ans Tageslicht befördert werden.“

Verständnislos schaute Beth ihn an. „Du nutzt mich aus?“

Immerhin scheint sie wieder unter uns zu sein, dachte Jérémie bei sich. Er war sich absolut bewusst, dass er sich auf dünnem Eis bewegte. „Auf der einen Seite: Ja. Auf der anderen Seite will ich dir helfen, so gut ich kann. Und dieses Aufbauprogramm beinhaltet nuneinmal ein Telefongespräch mit deinen Eltern und einen gesunden Aktionismus. Aber es sieht auf keinen Fall vor, dass ich einfach aufstehe, davon spaziere und dich deinem Elend überlasse. Sind wir uns einig?“

„Ich denke schon.“ Nach und nach brachte sie sich wieder unter Kontrolle.

„Sehr gut. Dann werde ich jetzt gehen. Sobald der Kontakt mit deinen Eltern stattgefunden hat, rufst du mich an. Oder besser noch, du kommst auf das Revier. Einverstanden?“

Der strenge Ton in seiner Stimme, liess an einen Grossvater erinnern, der seine Enkel für ein Vergehen rügte, das er nicht sonderlich schlimm fand, aber das einfach aus Prinzip geahndet werden musste.

Beth konnte darüber beinahe lächeln. Allmählich entspannte sie sich wieder. Seine Taktik war gut. Sie durfte sich nicht zu sehr ablenken, sonst würde sie nur alles verdrängen. Das war im ersten Moment vielleicht einfacher, aber die Wahrscheinlichkeit, dass alles zu einem späteren Zeitpunkt, in welcher Form auch immer, wieder zum Vorschein kam und im schlimmsten Fall über sie hereinbrechen würde, war gross. Aber ein bisschen Beschäftigung war auf jeden Fall besser, als nur herumzusitzen und Trübsal zu blasen.

„Einverstanden, sagte sie knapp. Erst jetzt fielen ihr die beiden Sorgenfalten zwischen seinen Brauen auf.

„Gut.“ Er stand auf und verliess ohne Abschiedsworte die Wohnung. Weshalb er sie alleine mit dieser Aufgabe zurückliess, vermochte er nicht genau zu sagen. Es schien ihm aber, dass es so besser für beide war, sei es auch nur, damit jeweils keiner von beiden vom anderen abgelenkt wurde. Nachdenklich nahm er Stufe für Stufe der Treppe zum Hausausgang in Angriff und fragte sich, warum ihm genau dieser Fall so unter die Haut ging. Hatte er nicht schon Schlimmeres erlebt? Er stellte fest, dass er die ganze Sache nicht so sehr an sich heranlassen durfte. Das behinderte seine Arbeit und benebelte seinen Verstand und das war nicht gut. Denn um erfolgreich ermitteln zu können, brauchte er einen kühlen Kopf.

 

Beth atmete mehrmals tief ein und wieder aus. Dann raffte sie sich auf und ging zum Telefon. Langsam aber sicher verfluchte sie Alexander Graham Bell für seine Erfindung. Sie hatte das Gefühl, seit drei Tagen nichts mehr anderes zu tun, als Telefonate entweder zu führen oder zu verpassen. Erschwerend kam dazu, dass sie immerzu schlechte Nachrichten verdauen musste. Während sie die Nummer ihrer Mutter eintippte, hoffte sie inständig, dass sie ihr Mobiltelefon bereits zurückerhalten hatte. Es knisterte in der Leitung und Beth war kurz davor wieder aufzulegen, als sie dann doch die vertraute Stimme ihrer Mutter vernahm. “Hallo?“

„Mama? Ich bin’s, Beth! Du hast also dein Telefon zurück?“

„Oh, hallo Liebes! Seit wann bist du zu dieser unchristlichen Zeit wach?“

„Wie bitte? Ach so! Mama, wir sind doch eine Stunde später dran! Aber das bringt mich darauf, dir diese Frage zurückzustellen. Was macht ihr jetzt schon auf den Beinen?“

„Ach, ich habe alle ein bisschen aufgescheucht. Ich wollte unbedingt meine Sachen wieder haben. Aber das ist unwichtig. Hast du gut geschlafen?“

„Ehm, ja. Geschlafen schon, nur das Erwachen war nicht sehr erfreulich.“

„Oh! Was ist passiert? Ist mit dir alles in Ordnung?“

Nichts ist in Ordnung. Mama, ist Papa auch da?“

„Ja. Soll ich ihn holen?“

„Das wäre wohl am einfachsten, denke ich.“

„Beth, ich mache mir allmählich Sorgen, was ist passiert? Weißt du etwas Neues über Dina? Ist es das?“

„Es geht tatsächlich um Dina. Aber hol jetzt bitte Papa und mach den Lautsprecher an.“

Sie hörte, wie ihre Mutter unnützerweise die Hand über das Telefon legte und nach Jake rief. Dann vernahm sie seine Stimme. Es tat so gut, dass ihr prompt die Knie weich wurden. „Reiss dich zusammen, du darfst jetzt nicht schlapp machen, mahnte sie sich selbst.

„Liebling? Bis du da? Hörst du uns?“ Jake klang erfreut, aber auch unruhig.

Bevor sie antwortete, wappnete sich Beth mit tiefen Atemzügen für das bevorstehende Gespräch. „Ja, ich bin da. Hallo Papa!“

„Hallo Schatz. Schön, dich zu hören!“

„Ja ebenso.“ Auf einmal wurde Beth von der Ungeduld gepackte. Sie wollte ihre schlechte Nachricht endlich loswerden. „Mama, ich glaube, es ist besser wenn du dich hinsetzt. Und bitte, hört beide einfach kurz zu. Heute Morgen war der Polizist bei mir, mit dem Mama schon einmal telefoniert hat.“

„Oh, war er etwa die ganze Nacht schon bei dir?“

„Mama!“ Streng rief Beth ihre Mutter zur Ordnung.

„Entschuldige, antwortete Susanna kleinlaut.

„Also, er klopfte heute Morgen an meine Tür. Frage beantwortet?“ Niemand sagte etwas. „Gut. Er sagte mir, dass die Gerichtsmedizin ihn angerufen habe, weil Autopsieergebnisse vorlägen.“ Um den Mut nicht zu verlieren sprach Beth ohne Luft zu holen weiter. Es wurde ihm ebenfalls mitgeteilt, dass Dina an einer Überdosis von Medikamenten gestorben ist.“ Nervös horchte sie auf die Reaktion ihrer Eltern. Aber es kam nichts. „Hallo? Seid ihr noch da?“

Dann vernahm sie ein leises Rascheln und zögerlich kam eine Antwort ihres Vaters. „Ja. Wir sind noch da. Beth, das ist unmöglich. Dina nahm keine Medikamente. Sie war physisch wie auch psychisch kerngesund. Sie hatte nicht einmal eine Allergie!“

„Bist du ganz sicher, dass sie nichts nehmen musste oder heimlich genommen hat? Hat sie in der Vergangenheit nie Probleme gehabt, keine Schlafstörungen, überhaupt nichts?“

„Nein! Für sie gab es nie einen Grund, diese Chemie in sich hinein zu stopfen. Über welche Medikamente reden wir hier überhaupt?“

Beth beantwortete die Frage nicht direkt, doch ihre Gegenfrage schien aussagefähig genug. „Papa, bei dir fehlte nie merklich eine Tablette oder eines der Röhrchen?“

Die Antwort fiel kurz und wütend aus. „Nein, verdammt.“

„Oh Papa, es tut mir leid. Ich wollte es doch auch nicht glauben und wenn ich ehrlich bin, glaube ich es auch jetzt noch nicht. Aber warum sollte Jérémie mir falsche Informationen übermitteln?“ Sie dachte auf einmal an den Vorabend und an das seltsame Aufblitzen in seinen Augen, als sie angesprochen hatte, wie gut er sich trotz seiner Vergangenheit entwickelte hatte. Schnell schob sie den Gedanken wieder beiseite. Er hatte keinen Grund so etwas Schreckliches zu tun.

„Ich weiss es nicht. Dann hat sich eben die Gerichtsmedizin geirrt. Sie müssen das noch einmal nachprüfen. Das kann so nicht stimmen.“

„Papa, du weißt aber schon, dass wenn einerseits das Resultat doch richtig ist, du aber andererseits der Meinung bist, Dina hätte selbst kein Valium eingenommen, es ihr jemand anderes verabreicht haben muss? Und, bei allem Respekt, das ist nun wirklich absurd.“

Es folgte wieder Schweigen. Diesmal aber etwas ausgedehnter. Jake schien sich das Szenario durch den Kopf gehen zu lassen. „Da hast du allerdings auch wieder Recht.“

Dann schaltete sich Susanna wieder in das Gespräch mit ein. „Aber vielleicht hatte sie eine Erkältung oder so etwas, ging in die Apotheke und bekam die falschen Tabletten. Im Zusammenhang mit der empfohlenen Dosierung hat das Diazepam dann vielleicht zum Tod geführt.“

„Ja, vielleicht, gab Beth ihr Recht. „Auf diese Idee bin ich noch nicht gekommen.“

„Mein Gott, das ist alles so schrecklich!“ Es war nur eine leise Bemerkung von Susanna, aber es schien, als hätte sie mit diesen Worten alles Unausgesprochene zusammengefasst.

 

Es dauerte noch einige tröstenden Worte, Tränen und verzweifelte Wutausbrüche, bis Beth mit leuchtend roter Nase und verquollenem Gesicht das Gespräch beendete.

Schniefend ging sie ins Badezimmer und begann in ihrer Ratlosigkeit energisch jedes einzelne Schränkchen zu öffnen. War der Inhalt nicht zufriedenstellend, wurde das Türchen mit Gewalt wieder zugeknallt. Dass dabei Einiges zu Bruch ging und meist der zu schliessende Gegenstand aufgrund des grossen Kraftaufwandes wieder aufflog, wurde ignoriert. Beth durchsuchte jeden Winkel und jede Ecke. Keine Toilettentasche, kein Körbchen, genauso wenig die Päckchen und Säckchen, waren sicher vor ihr. Sie drehte jeden Gegenstand um, doch sie fand nichts. Achtlos liess sie die Dinge in einem wilden Durcheinander zurück und steuerte in Dinas Zimmer. Sie wiederholte die Prozedur in jedem Raum der Wohnung, aber sie blieb erfolglos. Nicht einmal Antibabypillen fand sie.

„Verdammt!“ Kochend vor Wut schnappte sich Beth die vor ihr stehende Vase und warf sie mit ganzer Kraft gegen die Wand. Laut klirrend brach das Gefäss in tausend Stücke. Schwer atmend liess Beth sich auf den Boden sinken. Mit dem Kopf in die Hände gestützt und dem Gefühl elender Hilflosigkeit fragte sie sich, wie all das möglich sein konnte. Die Situation erschien ihr dermassen unrealistisch, dass sie sich unweigerlich einzureden begann, dass alles nicht wahr sein konnte und solche Dinge nur im Film passierten. Dann blieb sie eine Weile einfach sitzen und dachte überhaupt nichts mehr.

 

Jérémie eilte den Flur der Polizeistation hinunter, zwischen den Tischen durch, direkt auf sein Büro zu. Noch bevor er die Türklinke erreicht hatte, hallte der Tenor seiner Stimmer wie ein Erdbeben durch den Raum. „Paul, ich brauche Sie und zwar jetzt!“

Paul, ein junger Polizist, frisch aus der Akademie geschlüpft, sprang auf und eilte Jérémie hinterher in das Büro. Es hätte nur noch das Halsband gefehlt und ein Hund wäre vor Neid grün angelaufen.

„Schliessen Sie die Tür.“

Paul tat, was ihm gesagt wurde. Jérémie ging auf seinen Schreibtisch zu und entdeckte sofort den Umschlag. Das musste der Autopsiebericht von Dina sein. Den würde er lesen, wenn die nötigen Schritte Henry zu finden, eingeleitet waren. Er hoffte fest, dass Beth inzwischen mit ihren Eltern gesprochen hatte. Warten, bis sie im Revier war, wollte er aber auch nicht, vor allem nicht, weil Paul bereit stand, um in Aktion zu treten. Also griff er nach dem Telefonhörer. Mit einem Fingerzeig deutete er Paul an, sich zu setzen, während er selbst darauf wartete, dass das Freizeichen in der Leitung durch Beths Stimme ersetzt wurde.

 

Wieder klingelte das Telefon. Konnte man sie denn nicht eine Sekunde in Ruhe lassen? Noch nicht ganz aus ihrer Lethargie erwacht, hob sie den Hörer von der Gabel. „Ja?“

„Beth?“ Sie klang schrecklich, dachte er bei sich, stellte aber trotzdem auf den Lautsprecher um, damit Paul mithören konnte. „Ich brauche den Ort, an dem deine Tante Henry getroffen hat. Weißt du bestimmt nicht, wo sie immer ihren Kaffee holte?

„Was?“ Langsam aus ihrem Dornröschenschlaf erwachend, setzten sich ihre Hirnzellen wieder in Bewegung. „Eh, nein. Aber das habe ich dir doch schon gesagt. Obwohl, einen Moment mal - es gibt da so einen Take Away, der ist nur zwei Strassen weiter von Louis. Ich habe sie mal dort abgeholt.

„Sehr gut, danke.“ Jérémie kritzelte auf den Block vor sich die Worte ‚Henry finden drehte die Notiz zu Paul und deutete ihm an, sich auf den Weg zu machen. Dieser begriff sofort, sprang auf und eilte davon. Jérémie drückte abermals die Taste für den Lautsprecher. „Beth? Hast du schon mit deinen Eltern gesprochen?“

„Eh, ja.“

„Schön. Und wann war das?“

„Vor, nun…“ Sie schaute auf die Uhr, „einer Stunde?“

„Und warum bist du dann noch nicht hier? Ich dachte, wir hätten eine Abmachung?“

Schlagartig erwachte ihr Kampfgeist wieder zum Leben. „Weil ich nicht springe, nur weil du pfeifst!“

Zufrieden grinste Jérémie sein Telefon an. So war es doch schon viel besser. „Bis gleich also.“

Bevor sie noch etwas erwidern konnte, hatte er aufgelegt. Beth starrte ihr Telefon an. Was für eine bodenlose Frechheit. Typisch Mann, er hatte überhaupt nicht zugehört! Wütend stand sie auf, schälte sich aus ihrem Bademantel und ging unter die Dusche. Nebenbei stellte sie fest, dass sie noch Einiges aufzuräumen hatte. Aber das konnte warten. Genüsslich liess sie sich mit geschlossenen Augen das Wasser abwechselnd auf Kopf und Nacken prasseln. Die wichtigen Dinge hatten ihren Lauf genommen. Sie hatte Jérémie verraten, was er wissen wollte und sie ging davon aus, dass er jemanden in das Kaffee geschickt hatte, der die Arbeit vor Ort für ihn erledigen sollte. Entsprechend nahm sie an, dass er auf sie wartete. Also liess sie sich Zeit. Alle Informationen, die sie besass, konnte sie problemlos noch eine Stunde bis zur Weitergabe für sich behalten. Doch dann, wie vom Donner gerührt, hielt sie inne. Erstarrt stand sie mit weit aufgerissenen Augen einfach da. Nur um dann in Windeseile über den Badewannenrand aus der Dusche zu hüpfen, sich hastig ihre Jeans und ein Trägertop überzuziehen und beinahe gleichzeitig ihr Mobiltelefon zu suchen. Als sie es dann endlich in den Händen hatte, verwarf sie die Idee wieder und rannte los.

Wenn nichts mehr ist, wie es war
titlepage.xhtml
part0000_split_000.html
part0000_split_001.html
part0000_split_002.html
part0000_split_003.html
part0000_split_004.html
part0000_split_005.html
part0000_split_006.html
part0000_split_007.html
part0000_split_008.html
part0000_split_009.html
part0000_split_010.html
part0000_split_011.html
part0000_split_012.html
part0000_split_013.html
part0000_split_014.html
part0000_split_015.html
part0000_split_016.html
part0000_split_017.html
part0000_split_018.html
part0000_split_019.html
part0000_split_020.html
part0000_split_021.html
part0000_split_022.html
part0000_split_023.html
part0000_split_024.html
part0000_split_025.html
part0000_split_026.html
part0000_split_027.html
part0000_split_028.html
part0000_split_029.html
part0000_split_030.html
part0000_split_031.html
part0000_split_032.html
part0000_split_033.html
part0000_split_034.html
part0000_split_035.html
part0000_split_036.html
part0000_split_037.html
part0000_split_038.html
part0000_split_039.html
part0000_split_040.html
part0000_split_041.html
part0000_split_042.html
part0000_split_043.html
part0000_split_044.html
part0000_split_045.html
part0000_split_046.html
part0000_split_047.html
part0000_split_048.html
part0000_split_049.html
part0000_split_050.html
part0000_split_051.html
part0000_split_052.html
part0000_split_053.html
part0000_split_054.html
part0000_split_055.html
part0000_split_056.html
part0000_split_057.html
part0000_split_058.html
part0000_split_059.html
part0000_split_060.html
part0000_split_061.html
part0000_split_062.html
part0000_split_063.html
part0000_split_064.html
part0000_split_065.html
part0000_split_066.html
part0000_split_067.html