Kapitel 52

 

Silvan hatte alles gegeben, um Beth bei Laune zu halten. Dafür war sie ihm auch dankbar. Mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht dachte sie an das Brettspiel zurück. Das lustigste war, wie Silvan zu schmollen begann, als er dahinter kam, dass er verlieren würde.

Schon seit einer Stunde versuchte Beth mit schönen Gedanken leichter Schlaf zu finden. Doch es wollte ihr nicht gelingen. Die Zeit verging nur schleichend und sie musste bereits zum dritten Mal den unter ihrem Kopf liegenden Arm wechseln, weil er taub geworden war. Als Beth dann ein erneutes Mal den linken Arm unter dem Kopf hervorzog, um den Rechten darunter zu schieben, fiel sie in einen unruhigen Halbschlaf. Ihre angenehmen Gedanken wurden von düsteren Gestalten verdrängt. Als sie sich umsah, war sie plötzlich von vielen toten Menschen umgeben, die ihr unaufhörlich zuflüsterten, sie solle zum Stein gehen. Gleich, als sie Fragen wollte, welcher Stein denn gemeint war, wichen die Toten zur Seite und Beth konnte sehen, dass sie auf einem Friedhof war. Es war kalt und dunkel. Nebelschwaden zogen über die frischen Gräber hinweg. Irgendwo raschelte es im Unterholz und der Wind liess die Äste an den knorrigen alten Bäumen tanzen. Ängstlich sah sich Beth um. Einen Schritt nach dem anderen ging sie voran, immer mit dem Ziel, einen Weg raus aus diesem unheimlichen Ort zu finden. Plötzlich strich ihr etwas die Haare aus dem Nacken. Doch als sie sich umblickte, war da nichts. Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken, doch sie mahnte sich zur Ruhe. Langsam drehte sie sich wieder um und ihr blieb beinahe das Herz stehen. Sie blickte direkt in zwei weit aufgerissene dunkle Augen. Beth wollte schreien, doch sie bekam keinen Ton heraus. Stattdessen spürte sie, dass sie die Macht über ihren Körper verloren hatte. Aus dem Augenwinkel konnte sie zusehen, wie sich ihr eigener Arm ohne ihr Zutun anhob und ihr Finger in eine Richtung zeigte. Ihre Augen folgten der angezeigten Richtung. Dann fiel ihr Blick auf einen Grabstein. Ein Blitz zuckte am Himmel auf und plötzlich fand sie sich in Jérémies Büro wieder. Als wäre sie in die Vergangenheit zurück geschickt worden, sah sie als dritte Person noch einmal den Streit mit Jérémie vor sich, kurz bevor sie aus seinem Büro stürmte. Doch es war, als hätte jemand die Szene eingefroren. Beth sah sich selbst wutentbrannt dort stehen, während Jérémie irgendwie fast verzweifelt wirkte. Als Beth genauer hinsah, bemerkte sie, dass er auf etwas zeigte, aber sie war zu weit weg, um es genau sehen zu können. Sie versuchte näher an die Szenerie heranzutreten, aber ihre Füsse wollten ihr nicht gehorchen. Angestrengt versuchte sie sich fortzubewegen, bis ein stechender Schmerz sie zusammenzucken liess.

„Auauau!“ Sie fasste sich an ihr Wadenbein und begann es zu massieren. Langsam löste sich der Krampf wieder und die Erinnerung kehrte zurück. Verdutzt stellte Beth fest, dass sie aufrecht auf Silvans Sofa sass. Langsam begann sie ihre Umgebung wieder wahrzunehmen und mit einem Schlag kehrte der Traum in ihr Bewusstsein zurück und damit auch das Wissen um den Gegenstand, auf den Jérémie damals sowie auch im Traum gezeigt hatte.

„Ich weiss es! Das gibt’s nicht!“ Aufgeregt suchte sie irgendetwas, das eine Zeit anzeigte, nur um enttäuscht festzustellen, dass sie noch einige Stunden warten musste, bis sie in Aktion treten konnte.

 

Laut fluchend schlug Jérémie die Tür hinter sich zu. „Verfluchtes Weibsbild!“ Er zog sein Mobiltelefon hervor. „Paul? Beth ist weg. Mach dich am Flughafen, am Bahnhof, an den Taxiständen, einfach überall wo sie eine Möglichkeit finden könnte, aus der Stadt zu kommen, schlau und finde heraus, ob sie jemand gesehen hat.“ Als er das Telefon wieder zurück in seine Hosentasche steckte, blieb er für einen Moment einfach still stehen und dachte nach. Eigentlich glaubte er nicht ernsthaft daran, dass sie die Stadt verlassen haben könnte. Er hatte deshalb vor, sich persönlich um die Suche innerhalb der Stadt zummern. Aber nicht sofort. Wenn sie noch in der Stadt wäre, dann würde sie sich wie eine angefahrene Hündin verstecken und ihre Wunden lecken. Er traute ihr ohne weiteres zu, ein Versteck zu suchen, in dem er sie nicht so schnell finden würde. Und wenn er sie nicht finden konnte, konnte es auch niemand anderes, davon war er überzeugt. Diese Zuversicht bekam zusätzlich Auftrieb, als er daran dachte, dass die eigentliche Gefahrenquelle, nämlich die Familie Depruit, handlungsunfähig war. Dazu kam noch, dass er keine Lust hatte, sie zu sehen. Er war immer noch wütend, weil er nach wie vor keine Ahnung hatte, ob Beth ihm etwas verheimlicht und ihn an der Nase herumgeführt hatte. „Und wenn du dich nicht versteckt hast, bist du wenigstens in Gesellschaft. Das will ich dir zumindest geraten haben, sagte Jérémie laut und schloss damit seine Gedankengänge. Mit dem Vorhaben, sich ein wenig mit den anderen aufgelaufenen Fällen, um die er sich wegen dem Clement-Fall nicht mehr gekümmert hatte, zu befassen, marschierte er aus dem Haus, setzte sich in seinen Wagen und fuhr los.

 

 

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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