Kapitel 13

 

„Verdammt noch mal! Mädchen, warum hast du so ein verfluchtes Telefon, wenn du die Anrufe doch nicht beantwortest! Ein Schwall nicht jugendfreier Flüche sprudelte Jake unkontrolliert über die Lippen, während er den Hörer wieder auf die Gabel des schwarzen Telefons schlug. Er hatte es aufgegeben, darüber nachzudenken, welche verseuchten und verschmutzten Hände diesen Hörer schon berührt hatten, ohne, dass ihm auch nur einmal das Vergnügen einer gründlichen Reinigung vergönnt war. Seit die Zollbeamten Jake und Susanna am Vortag aus der Autokarawane vor dem Verladen auf den Zug, der sie durch den Eurotunnel nach Frankreich bringen sollte, gepickt hatten, dachte er zur Ablenkung über die Verunreinigungen nach. Und Ablenkung benötigte er dringend. Denn er war inzwischen nicht nur wütend, sondern auch äusserst besorgt. Beth war zuverlässig, nie hatte sie ihr Mobiltelefon so lange aus den Augen gelassen. Wie die Dinge momentan aber lagen, war es durchaus möglich, dass er schlicht das Pech hatte, sie genau dann anzurufen, wenn sie nicht auf ihr Telefon schaute und es auch nicht hörte. Es war zum aus der Haut fahren. Langsam aber sicher machte er sich auch Sorgen um seine Beherrschung. Er hoffte sehr, dass er sich im Zaum halten konnte und nicht irgendwann genau gleich reagieren rde, wie seine Frau vor diesen ewig langen Stunden. Obwohl die Situation zum Heulen war, musste er rückblickend schmunzeln. Wie eine Furie war sie auf den Zollbeamten losgegangen. Auch nach dem tausendsten Mal flehen, Bitten und Betteln, hatten sich die Zöllner beim gemütlichen Ausführen ihrer Stichprobe, wie sie es nannten, nicht unterbrechen lassen. Zur Eile treiben liessen sie sich erst recht nicht und geführt hatte das Ganze zu noch mehr Verzögerung. Eigentlich hätte Jake es wissen müssen, dass nervöses auf und ab Laufen beziehungsweise Rollen und der Versuch die Beamten bei ihrer Arbeit voranzutreiben, genau das Gegenteil bewirkt. Aber auch ihm war der Geduldsfaden gerissen. Wie oft hatte er versucht, dem Herrn die Situation klar zu machen. Wie oft hatte er erklärt, dass seine Schwester gestorben war und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, seine Tochter in ihrer Trauer alleine gelassen in Nizza sass und auf ihre Eltern wartete. Nichts hatte gewirkt. Anstelle der mitfühlenden Anweisung zur Weiterfahrt hatte er ein müdes Lächeln kassiert. Jake hatte es schon masslos am Ego gekratzt, dass er von unten herauf mit dem Beamten sprechen musste, dass dieser Typ dann aber auch noch aus seiner Position einen Nutzen schlug und die Spitze der Herablassung anpeilte, war wirklich schier unerträglich. Was zuviel war, war zuviel. Tatsächlich ertappte er sich dabei, wie er Anstalten machte, seine Faust dem Beamten mitten in der Magengegend zu deponieren. Doch Susanna kam ihm zuvor. Sie stürzte sich so schnell mit fliegenden Fäusten auf den Polizisten, dass Jake es beinahe verpasst hätte. Hatte er aber nicht. Auch als er begriffen hatte, dass seine Frau wie eine Furie einen Beamten angriff, hielt er sie nicht auf. Die Konsequenzen waren ihm in diesem kleinen Augenblick der Genugtuung schlicht egal. Seiner Arroganz hatte es der Zöllner zu verdanken, dass er nun allen Kumpels erklären musste, dass das blaue Auge von einer zierlichen Frau stammte. Leider bescherte diese Tat eben dieser Frau und deren Gemahl eine Verhaftung. Jake überlegte sich, ob es das Wert gewesen war. Zähneknirschend entschloss er, dass er selbst nichts Besseres als die ehrliche Antwort verdient hatte. So brutal sie auch war. In Anbetracht der Situation hatte es sich natürlich nicht gelohnt. Es war eine ungeheure Dummheit und ein Ausraster aufgrund der angestauten Emotionen, der so nicht vorkommen darf. Aber es hatte gut getan, verflixt noch eins, es hatte gut getan. Dumm nur, dass der Puffer für den längst überfälligen Gefühlsausbruch ein Mensch war und nicht ein Boxsack. Und dann auch noch ein Mensch in Uniform… Nein, es war wirklich zu dämlich. Eigentlich lief sowieso alles schief, seit sie den geplanten Zug verpasst hatten.

Ungehalten fuhr Jake den neben sich stehenden Polizisten an. „Was wird weiter geschehen? Wir sitzen hier bereits eine Nacht und einen Tag fest, wir wurden befragt, unsere Personalien wurden überprüft und unser Auto wie auch das Gepäck haben Sie bestimmt schon dutzende Male auseinandergenommen und durchforstet. Sie haben mir eingebläut, dass meine Frau angezeigt wird wegen Körperverletzung und Sie haben mit gesagt, dass ich wegen unterlassener Hilfeleistung dran kommen werde. Nicht zu vergessen, dass Sie mich über meine Rechte aufgeklärt haben, deren Umsetzung ich aber nur äusserst schleppend durchführen kann. Was also noch? Worauf warten Sie? Weshalb sitzen wir hier immer noch fest? Der Ärger in Jakes Stimme war deutlich zu hören.

„Sie haben diese Unannehmlichkeiten Ihrem eigenen Verhalten zuzuschreiben. Wer einen Fehltritt begeht, muss bestraft werden. So dachten Sie doch bestimmt auch. Nun, jetzt, da es Sie selbst erwischt hat, soll es plötzlich anders sein? Das könnte Ihnen so passen. Sie haben es versaut, wir haben Sie erwischt und jetzt werden Sie zur Rechenschaft gezogen. Ganz einfach. Im Übrigen scheinen Sie noch einen wichtigen Punkt vergessen zu haben. Sie haben zwei Anzeigen am Hals. Oder wollen Sie mir mitteilen, dass Sie keine grosse Menge rezeptpflichtiger Medikamente mitführten?“

„Was? Das ist doch Blödsinn! Sind Sie etwa blind? Sie sehen doch, ich sitze im Rollstuhl, diese Medikamente sind für meinen eigenen Gebrauch. Ich muss diese Dinger fressen! Glauben Sie mir, ich wünschte, es wäre anders, ist es aber nicht. Das darf doch alles nicht wahr sein! Und weswegen genau zeigen Sie mich an? Mitführen unbedeutender Mengen von Arzneien oder was fällt Ihnen sonst ein?

Passen Sie auf, was Sie sagen.“ Drohend hob der Beamte den Finger. „Überführen rezeptpflichtiger Arzneien ins Ausland zum Beispiel. Einige der Tablettendöschen sind nicht angeschrieben, also unidentifiziert. Was für Wirkstoffe darin sind, wissen wir nicht und abgesehen davon bleibt uns diese Information auch bei den angeschriebenen Döschen vorenthalten. Wer sagt uns, dass in den Döschen drin ist was drauf steht? Und wer sagt uns, dass Sie hier nicht kleine Mengen für den Test schmuggeln, aber eigentlich im grossen Rahmen auf dem Schwarzmarkt mitmischen? Die Laborergebnisse müssen abgewartet werden und auch hier werden die weiteren Untersuchungen über Ihr Schicksal entscheiden. Genügt das fürs Erste?“

Jake konnte nicht antworten, er war damit beschäftigt seinen Ärger herunterzuschlucken.

Ach und bevor ich es vergesse, Sie dürfen morgen wieder einen Versuch starten, Ihre Tochter zu erreichen, um ihr mitzuteilen, dass sich Ihre Ankunft wohl etwas verzögern wird. Ich nehme an, Sie werden ihr sagen, dass etwas dazwischen gekommen ist. Sie könnten ihr aber auch mitteilen, dass ihre Rabeneltern unfähig sind, den in dieser angeblich schweren Zeit nötigen Beistand zu leisten, da sie einen Gefängnisaufenthalt vorziehen. Dies aufgrund unkontrollierter Wutausbrüche und illegalen Medikamentenhandels. Das ist nicht übel in Anbetracht der von Ihnen geltend gemachten Umstände. Übrigens, auch wenn Sie bald wieder auf freiem Fuss sein sollten, dürfen Sie das Land aufgrund der laufenden Ermittlungen nicht verlassen. Ich bitte hierbei um Ihr Verständnis für die Justiz. Sie handelt im Namen der Gerechtigkeit, so gesehen halte ich diese Massnahme für angebracht. Wir wollen ja nicht, dass Sie untertauchen.“ Mit einem selbstgefälligen Lächeln schloss der Beamte seine Ausführungen.

Kochend vor Wut hätte Jake am liebsten diesem fetten Arschloch die gelben Zähne demoliert.

„Ich verstehe, brachte Jake gepresst hervor. „Und wann kann ich mit meiner Frau sprechen?“

„Vorerst überhaupt nicht. Das Risiko einer situationsangepassten Absprache ist zu hoch.“

Jake hatte das Gefühl wörtlich vor Wut zu rauchen. „Verstehe ich das richtig, ich darf nicht einmal mit meiner eigenen Frau sprechen?“

„Ihr Gehirn scheint noch vernünftig zu funktionieren. Darüber bin ich froh.“ Wieder grinste dieser sogenannte Gesetzeshüter. Er schien mit sich selbst und seiner Leistung äusserst zufrieden zu sein. Irgendwie wurde Jake beim Anblick dieses Kerls an einen verfressenen Kater erinnert, der soeben einen riesigen Fisch verspeist hatte. Die Vorstellung, dass man diese Vierbeiner früher in Säcke gesteckt hatte, um sie dann zu ertränken, stimmte Jake ein klein wenig ruhiger.

 

Zurück in der Zelle dachte er über eine Taktik nach. Sein Anwalt und zum Glück auch Familienangehöriger tat im Hintergrund bestimmt schon alles, damit wenigstens diese Gitterstäbe Vergangenheit werden konnten. Aber wenn er und Susanna draussen waren, was dann? Sie durften das Land nicht verlassen, noch nicht. Sollten sie es trotzdem riskieren? Und wenn sie ertappt würden? Dann wäre es endgültig vorbei mit der Reise nach Frankreich und im Knast halfen sie niemandem. Im Gegenteil, sie würden nur noch mehr Unannehmlichkeiten und Sorgen verursachen. Wenn sie allerdings erfolgreich wären, könnten sie bei Beth sein und er könnte seine Schwester noch einmal sehen. Jake kam mit seinen Gedanken zu keinem akzeptablen Ergebnis. Egal wie er es drehte und wendete, es gab immer einen Haken, der ins Gewicht fiel. Kurz vor der Verzweiflung besann er sich auf etwas, dass er schon Ewigkeiten nicht mehr ausprobiert hatte, weil es ihm nie gelungen war. Er versuchte zu meditieren.

Ohne es von Jake zu wissen, tat Susanna es ihm gleich. Nach einem weiteren Mal der immer gleichen Fragen war sie zurück in ihre Zelle gebracht worden. Sie war kurz davor gewesen, sich für diese Handlung zu bedanken, denn sie hätte beinahe wieder eine Dummheit gemacht und diesen arroganten Beamten erneut verprügelt. Während sie mit ineinander verschränkten Beinen, die Hände auf ihren Knien ruhend, auf dem Boden sass, erinnerte sie sich mit einer gewissen Genugtuung zurück an ihre zweite Begegnung mit dem Wiesel. So hatte sie den geprügelten Beamten schon vor ihrer Attacke getauft, als ihr sein Gesicht in der ursprünglichen Form zum ersten Mal richtig auffiel.

Als dieser Kerl den Verhörraum zum ersten Mal betrat, hätte sie beinahe laut losgelacht. Das Auge war fast vollständig zugeschwollen und erinnerte langsam an einen kreisrunden Regenbogen. Dazu kam noch eine dicke Schicht kühlendes Gel, das speckig glänzend ihr Werk verzierte. Sie malte sich aus, wie diese kleine Memme von seiner Mami einen Packen tiefgekühlter Erbsen hatte vorbeibringen lassen, um sein Wehwehchen zu versorgen. Ein wenig schämte sie sich für den Stolz, den sie bei ihrer ausführlichen Betrachtung des Auges empfand, aber er hatte es nicht besser verdient. Die Strapazen, die jetzt auf sie zukamen, hatte sie allerdings auch nicht besser verdient, dessen war sie sich schmerzlich bewusst. Dieses Bewusstsein drang beim Gedanken daran sofort wieder an die Oberfläche und der soeben ergriffene Strohhalm, der wenigstens ein bisschen Ruhe versprach, entschlüpfte wieder.

„Einatmen, ausatmen… Verdammt, warum klappt das nicht?“ Susanna wurde ungeduldig, versuchte es aber erneut mit ruhigen Atemübungen. Nach einer Weile gab sie es auf. Sie stand auf und begann wie ein Hampelmann auf und ab zu hüpfen.

Sie hatte keine Vorstellung davon, wie lange sie sich diesem ausgiebigen Fitnessprogramm gewidmet hatte. Die Zeit schien aber verstrichen zu sein, denn auf einmal kam eine Beamtin und öffnete ihr die Zelle. „Was hat das zu bedeuten?“

„Sie können gehen. Auf weitere Einvernahmen wird vorerst verzichtet, aber Sie müssen sich zur Verfügung halten.“

„Und mein Mann?“

„Bei ihm sieht es gleich aus. Er erwartet Sie bereits draussen.“

Beinahe wäre Susanna vor Erleichterung hingefallen. Schnell verliess sie die Zelle. Als sie am Ende des Ganges ankam und Jake dort sitzen sah, kamen ihr die Tränen. Sie stürmte ihm in die Arme und schluchzte hemmungslos. Jake ging es nicht besser.

„Komm, lass uns gehen, bevor sie es sich noch einmal überlegen.“

„Du hast recht.“ Sie löste sich aus seiner Umarmung und nebeneinander bewegten sie sich auf den Ausgang zu. „Weißt du was?“, fragte Susanna ihren Mann.

„Nein, was?“

„Ich kann jetzt den Handstand.“

Jake schaute ungläubig zu Susanna hoch. „Echt?“

Jawohl. Ich hatte genügend Zeit zum Üben.“

Beide prusteten gleichzeitig los. Dann schloss sich die Tür hinter ihnen und sie waren wieder freie Menschen. Zumindest beinahe.

 

 

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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