Kapitel 34

 

Sich wohlig ausstreckend erwachte Beth langsam aus einem erholsamen Schlaf, um sogleich mit einem schmerzverzerrten Gesicht wieder zusammenzuzucken. Entnervt stellte sie fest, dass der Muskelkater seine volle Wirkung definitiv entfaltet hatte. Die zweite Feststellung an dem neuen Tag war, dass er schon relativ weit fortgeschritten war. Der Blick auf die Uhr über dem Kamin verriet ihr, dass es bereits zehn Uhr war. Erst jetzt begriff sie, dass sie das Sofa seit dieser ereignisreichen Nacht nicht mehr verlassen hatte. Dennoch hatte sich seit letzter Nacht etwas verändert. Sie brauchte einen Moment, bis sie darauf kam. Die Wärmequelle war nicht mehr dieselbe. Man musste kein Genie sein, um zum Resultat zu kommen, dass Jérémie inzwischen bereits seit einiger Zeit bei der Arbeit sein dürfte. Aber zuvorkommenderweise hatte er sie mit einer kuscheligen Decke zugedeckt, bevor er das Haus verlassen hatte. Ein seliges Lächeln breitete sich auf Beths Gesicht aus. Egal, was jetzt werden würde, die letzte Nacht würde sie nie vergessen. Im Gegenteil, sie schrie nach einer Wiederholung. Beschwingt schlang sich Beth die Decke um den Körper und wollte vom Sofa hüpfen. Die Schmerzen, die sich unmittelbar nach diesem Vorhaben mit ganzer Macht meldeten, sorgten für ein kleines Fluchkonzert und holten die Erinnerung daran zurück, dass der Tag gestern nicht nur Gutes zu bieten gehabt hatte.

Nach einer ausgiebigen Dusche schlüpfte sie in ihre Kleidung und war soeben damit beschäftigt ihr Haar mit dem Handtuch trocken zu rubbeln, als es an der Tür klingelte. Alle Vorsicht, zu der sie Jérémie gemahnt hatte, war vergessen, weshalb sie ganz automatisch zur Tür ging und öffnete. Der Mann, der vor der Tür stand, schlüpfte umgehend an ihr vorbei in das Haus, bevor Beth überhaupt reagieren konnte. Er schob sich zwischen sie und die Tür und schnitt ihr so den Weg nach draussen ab, um sie dann ohne ein Wort Schritt für Schritt in die Ecke zu drängen. Beths Instinkt riet ihr zur Flucht, doch die Angst lähmte sie zu sehr, als dass dies möglich gewesen wäre. Mit aller Macht zwang sie sich, wieder Herr über ihren Körper zu werden. Langsam nahmen ihre Sinne den Dienst wieder auf. So konnte Beth bei genauerem Hinsehen dann auch die Ähnlichkeit zwischen dem Gesicht, das sie auf dem Foto ihrer Tante gesehen hatte und dem Mann, der vor ihr stand, ausmachen.

„Henry?“, fragte sie vorsichtig.

„Kluges Mädchen.“

„Was wollen Sie hier? Inspecteur Russeau ist nicht da.“ Sie ging davon aus, dass er das sowieso schon wusste und genau dieses Wissen der Grund seines Eindringens war, aber sie musste Zeit gewinnen.

„Gut so, ich wollte sowieso zu dir.

Beth blickte ihm direkt in die Augen. Sie erwartete etwas wie Wut oder Aggression zu sehen, doch was sie sah, beängstigte sie weit mehr. Es waren Schmerz und blanker Hass.

„Ich wusste, ich sollte die Finger von deiner Tante lassen. Aber wie eine schwarze Witwe hat sie mich erst umgarnt und als sie mich wieder soweit hatte, begann sie, mich Stück für Stück aufzufressen. Schon mein ganzes Leben lang taucht deine Familie immer wieder auf und hinterlässt einen Pfad der Zerstörung. Könnt ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen? Was wollt ihr? Müsst ihr mich auch zuerst im Grab sehen, bevor ihr aufhört?“

„Henry, ich verstehe kein Wort!“ Sie wünschte, er könnte irgendwie sehen, dass sie absolut keine Ahnung hatte, wovon er sprach.

„Ach nein? Du gehörst genauso dazu! Auch du willst nichts anderes als mein Leben zerstören!, brüllte er sie an.

„Das ist doch überhaupt nicht wahr! Wie käme ich denn dazu?“ Verzweifelt wollte Beth Henry klar machen, dass sie keine bösen Absichten hatte. Inzwischen stand sie mit dem Rücken zur Wand, wie ein Tier in der Falle. Henry war wesentlich grösser als sie und stand bedrohlich über sie gebeugt, seine Arme seitlich ihrer Schultern an die Wand gestemmt.

„Willst du mich für dumm verkaufen? Hinterlistig hast du dich nach und nach inmitten der operierenden Zelle geschlichen und verseuchst sie von innen. Jedes Mittel scheint dir recht zu sein, vor nichts machst du halt. Aber eines muss ich dir lassen, du scheinst dein Spiel zu beherrschen, der kleine Bulle mag vielleicht anfällig sein auf eine kleine Hure wie dich, aber sowenig Verstand, dich in sein Bett zu lassen, hätte ich ihm nicht zugetraut.“ Er schrie jetzt nicht mehr. Doch die tiefe Drohung, die in den vermeintlich ruhig ausgesprochenen Worten lag, schüchterte Beth nur noch mehr ein. Sie musste sich beherrschen, um nicht gnadenlos in Heulkrämpfe und Panik auszubrechen, denn dann hätte sie auf jeden Fall verloren.

„Henry, ich…“

Aber Henry wollte nichts mehr hören. Schon gar nicht von ihr. Sie hatte das Wort ergriffen und damit einen grossen Fehler begangen. Die Quittung bekam sie umgehend zu spüren. Unvermittelt griff er nach ihrem Hals und drückte zu. Beth umklammerte seine Handgelenke, um ihn daran zu hindern, sie noch fester zu würgen, aber sie hatte keine Chance. Sie bekam kaum mehr Luft und ihre Umgebung begann vor ihren Augen zu verschwimmen.

Du bist ein intrigantes Miststück! Aber dein Plan wird nicht aufgehen.“ Bevor er sein Werk beenden konnte, sammelte Beth ihre letzten Kräfte und rammte ihr Knie inmitten zwischen Henrys Beine. Mit schmerzverzerrtem Gesicht lockerte er seinen Griff um Beths Hals und wich torkelnd zurück. Nach Luft japsend vergewisserte sich Beth, dass ihr Hals noch an der richtigen Stelle sass. Geschwächt lehnte sie sich an die Wand, um wieder zu Atem zu kommen. Sie blieb aber aufmerksam, denn sie wusste, es war noch nicht ausgestanden. So schnell es ging, rappelte sie sich wieder auf und wankte zum Telefon. Warnend hob sie den Hörer und wollte Jérémies Nummer wählen. Aber sie kam nicht dazu. Henry war wieder aufgestanden und stürzte auf sie los, sie verlor das Gleichgewicht, stiess gegen ein Tischchen und stürzte. Bevor Henry aber nachsetzen konnte, liess sich ein kratzendes Geräusch aus der Richtung der Tür vernehmen. Dadurch aufgeschreckt liess Henry überraschend von Beth ab und ergriff überstürzt die Flucht durch die Hintertür.

Erschöpft blieb Beth einen Moment liegen, bevor sie sich am Treppengeländer hochzog. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten und musste sich an allen möglichen Hilfsmitteln abstützen, um die Tür zu erreichen. Der Schreck noch deutlich im Nacken, fasste sie sich ein Herz und öffnete, aber nur einen Spalt breit. Was sie sah, hätte sie beinahe in hysterisches Gelächter ausbrechen lassen. Die Vorderläufe an der Tür, auf den Hinterläufen hockend, wetzte ein junges Kätzchen, das aussah, als wäre es in einen Farbtopf gefallen, in aller Seelenruhe ihre Krallen. Sowie sie Beth bemerkte, drehte sie den Kopf und blickte sie aus grün funkelnden Augen keck an. Vorsichtig öffnete Beth die Tür noch ein Stück, schaute sich zögerlich um und trat dann zu dem Kätzchen. Als dieses keine Anstalten machte wegzulaufen, hob Beth sie hoch und kraulte sie hinter den Ohren. Leise schnurrend liess sich das Fellbündel alles gefallen und wehrte sich auch nicht, als Beth die Türe hinter sich wieder schloss. Sie holte sich erneut das Telefon und lehnte sich dann mit der Katze im Arm und dem Telefon in der Hand an die Wand hinter sich und glitt daran herunter, bis sie sitzend auf dem Boden ankam. Den Kopf legte sie zurück und schaute an die Decke. Einen kleinen Dank schickte sie in Richtung des Himmels und schenkte ihre Aufmerksamkeit dann wieder dem Tier, das drauf und dran war, sich auf Beths Beinen häuslich niederzulassen.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal zu einer Katze sagen würde. Aber weißt du eigentlich, dass du mir das Leben gerettet hast?“ Ein aufsässiges Maunzen war die Antwort, das sogleich wieder in ein zufriedenes Schnurren überging. Irgendwie begann diese Ruhe auch auf Beth abzufärben. Nachdem sie dann endlich auch Jérémies Stimme hörte, meinte sie vor Erleichterung zusammenbrechen zu müssen.

Jérémie, ich schätze, es gab hier ein kleines Problem.“

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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