Kapitel 29

 

Sie kannte den Weg inzwischen auswendig, weshalb sie sich auf dem Berg angekommen ganz selbstverständlich bewegte. Zielsicher steuerte sie die Plattform an, von der aus man beide Seiten von Nizza sehen konnte. Was sie nicht wusste, war, dass sie nie dort ankommen würde.

Wie aus dem Nichts spürte Beth auf einmal, wie sie den Halt unter ihren Füssen verlor. Sie stürzte und dann rutschte sie, oder war es umgekehrt? Sie wusste es nicht. Ihr Instinkt zwang sie, ihre Hände nach etwas suchen zu lassen, an dem sie sich festhalten konnte. Es kam ihr vor, als wäre sie ewig gerutscht, bis sie endlich Halt fand. Staub wirbelte um sie herum, der ihr die Sicht vernebelte. Hustend und keuchend hielt sie sich an der rettenden Wurzel fest und versuchte, sich nach oben zu ziehen. Es wollte ihr aber nicht gelingen. Mit den Füssen fand sie keinen Halt, was ihre Lage noch verschlimmerte. Wild um sich strampelnd schwang sie ihre Beine hin und her, aber es half alles nichts. Tränen der Verzweiflung begannen sich in deutlichen Spuren einen Weg durch ihr staubiges Gesicht zu bahnen. So laut es ihr ihre trockene Kehle erlaubte schrie Beth um Hilfe. Aber sie bekam keine Antwort. Mehrmals wiederholte sie ihren Ruf, bis ihr schliesslich die Luft vollständig ausging. Das wars, dachte sie bei sich. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis entweder die Wurzel nachgab, oder ihre Kraft. Wo war denn ihr Retter jetzt? Im Kraftraum am Gewichte stemmen wahrscheinlich. Weitere Gedanken vermochte sie nicht mehr zu fassen, da selbst das zuviel kostbare Energie kostete, die sie dringend brauchte.

Obwohl sie sich verbissen dagegen wehrte, wurde sie schwächer und schwächer und allmählich liess der feste Griff um die Wurzel nach. Sie war schon im Aufgeben begriffen, als plötzlich etwas nach ihr griff. Zu schwach um zu reagieren oder gar zu erschrecken, liess sie es einfach geschehen.

Eine kräftige Hand umschloss ihre Gelenke. Kaum aufnahmefähig registrierte Beth knapp, dass es sich möglicherweise um einen Feuerwehrmann mit kompletter Ausrüstung zum Abseilen handeln könnte. Wenige Minuten später lag sie auf einer Steinbank mit eine Flasche Wasser in den Händen und einem kalten Lappen im Gesicht.

„Madame, können Sie mir sagen, was passiert ist?“

Beth murmelte beinahe unverständlich unter dem feuchten Tuch hervor. „Ich habe keine Ahnung. Abgestürzt, hängen geblieben, Panik, Schwäche, Aufgabe, Rettung.“

„Und weshalb oder wie sind Sie abgestürzt? Wurde Ihnen übel oder schwarz vor Augen? Sind Sie ausgerutscht?“

„Ich weiss es nicht, stammelte Beth halb verärgert, halb verzweifelt. „Ich weiss es wirklich nicht!“

„Schon gut. Sie haben grosses Glück gehabt.“

„Ja, das hast du wirklich.“

Das war der Tonfall, um ihre erschlafften Lebensgeister wieder in Schwung zu bringen. Diese Stimme kannte sie, glauben konnte sie es aber dennoch nicht, ohne nicht einen Blick riskiert zu haben. Mühsam hob sie eine Ecke des Lappens an und äugte darunter hervor. „Was machst du denn hier?“

„Der Polizist, der dir soeben die Fragen gestellt hat, hat dich wiedererkannt, weil du des Öfteren auf der Wache mit mir gesehen wurdest. Sich wie ein nervtötendes Anhängsel zu verhalten, hat dir also doch etwas gebracht.“

„Ja, es hat direkt nach einer Nahtoderfahrung auch noch dich auf das Parkett gezaubert. Als wäre der Absturz nicht schon schlimm genug gewesen.“

„Da spricht wohl jemand im Schockzustand. Wir bringen dich jetzt nach Hause. Kannst du aufstehen?“

„Ich denke schon.“ Langsam und vorsichtig half Jérémie Beth, sich erst aufzusetzen und dann aufzustehen. Als sie gleich wieder wegknickte, schlang er sofort seine Arme um ihre Taille und hielt sie fest. Sie konnte sich voll und ganz auf ihn stützen.

Unten am Berg hatte Jérémie ein Auto geparkt, in das er Beth einlud und zu seinem Haus fuhr. Ursprünglich war er nicht einverstanden damit, dass sie seinen Vorschlag, oder eher Befehl, sie ins Krankenhaus zu bringen, ablehnte. Am Ende liess er sich dann aber doch weichklopfen.

Beim Haus angekommen, öffnete er die Beifahrertür und wollte ihr beim Aussteigen helfen. Doch sie war während der Fahrt eingeschlafen. Weil er sie nicht wecken, aber auch nicht im Auto liegen lassen wollte, schob er seine Arme unter ihren Körper und hob sie hoch. Diese Handlung bereute er sofort. Ihr Haar kitzelte an seiner Hand, ihr weicher Körper schmiegte sich ganz selbstverständlich in seine Arme und ein sanfter, angenehmer Geruch von Sonne und Erde stieg in seine Nase. Am liebsten hätte er sie auf der Stelle fallen gelassen - was zuviel war, war zuviel. Seinem Impuls nicht nachgebend trug er sie aber stattdessen in das Haus, die Treppe hinauf bis in ihr Schlafzimmer. Während er sich wegen des Zudeckens über sie beugte, schaute er auf sie hinunter. „Ja, schlaf schön und tank neue Kraft. Du wirst sie noch brauchen.“

 

Jérémie wollte das Zimmer schon wieder verlassen, als er den braunen Umschlag entdeckte. Kurzerhand nahm er ihn an sich. Auch er schaute sich die Gegenstände darin genau an und stiess auf das Foto. „Na wen haben wir denn da?“ Eingehend betrachtete er das Bild. Gleichzeitig nahm er sein Telefon und wählte die Nummer des Polizeireviers.

„Paul, Sie müssen da was überprüfen.“ Sprach er schnell in die Muschel und erklärte Paul, was er zu tun hatte. „Ich komme später noch einmal vorbei.“

Weil sich schlechte Nachrichten schnell verbreiteten, nutzte Paul noch die Gelegenheit und fragte Jérémie nach Beths Zustand.

„Sie schläft. Es scheint ihr aber nichts Schlimmeres passiert zu sein. Ein paar blaue Flecken, Schürfwunden und einen brutalen Muskelkater wird sie noch einige Zeit als Souvenir mit sich herumtragen.“ Paul schien erleichtert über die Nachricht, also verabschiedete sich Jérémie und schmiss ihn aus der Leitung.

 

Beth öffnete die Augen und wollte sie sofort wieder schliessen. Alles tat ihr weh und sie spürte Körperstellen, von deren Existenz sie bis zu diesem Zeitpunkt nichts wusste. Zu allem Übel kehrte langsam auch die Erinnerung aus der Dunkelheit des Unterbewusstseins zurück. „Oh Scheisse!“

„Das kannst du laut sagen.“

Erschrocken fuhr Beth hoch und bereute die schnelle Bewegung sofort wieder. Sie hatte nicht bemerkt, dass Jérémie im Zimmer auf einem Schaukelstuhl sass und sie beobachtete. Ob der Schaukelstuhl wohl aus dem Kinderzimmer war? Ging es Beth durch den Kopf. Aber sie hatte jetzt wichtigere Probleme, als die Herkunft eines Schaukelstuhls.

„Was tust du hier?“

„Wohnen.“

„Witzig. Du weißt was ich meine.“ Zum Scherzen war sie zurzeit ganz und gar nicht aufgelegt.

„Warten, bis du wach wirst und dich im Auge behalten, damit du nicht auch noch schlafwandelst und die Treppe hinunterfällst oder gar den Kamin anfeuerst, dich hineinlegst und kläglich verbrennst, wie es Hexen manchmal zu tun gedachten.“

„Soweit ich mich erinnere, haben sich die Hexen eigentlich nie selbst ins Feuer gelegt. Und seit wann fröne ich der Zauberei?

„Zum zweiten Mal beinahe umgekommen, zum zweiten Mal überlebt. Entweder Katze oder Hexe. Da Katzen zwar neun Leben haben, was passen würde, aber auch immer auf den Füssen landen, was bei deinem Freihängeakt nicht unbedingt der Fall war - so wurde mir zumindest die Geschichte zugetragen - habe ich mich für Hexe entschlossen. Es grenzt an Magie, dass du bereits den zweiten Angriff auf dein Leben so gut wie heil überstanden hast.“

„Hei, ich lebe noch, das könnte man auch als ‚auf den Füssen gelandet’ interpretieren. Dann wäre es wieder die Katze, was mir wesentlich besser gefällt.“

„Nach deinem Mundwerk zu schliessen, scheint es dir wieder gut zu gehen. Deshalb werde ich mich jetzt auf den Weg zur Wache machen. Du ruhst dich aus und ich warne dich.“ Drohend hob er den Zeigefinger. „Auf gar keinen Fall verlässt du das Haus. Ich habe alles abgeschlossen und verriegelt und ich möchte, dass das so bleibt.“

„Wie bitte? Warum? Sperrst du mich jetzt hier ein oder wie soll ich das verstehen?“

„Nein, ich sperre andere aus.“

„Was meinst du damit?“

„Beth, wie gesagt, du entkamst bereits zum zweiten Mal dem Tod. Kannst du mir jetzt und hier sagen, was auf dem Berg passiert ist?“

„Nein, das kann ich nicht, gestand Beth nach kurzem Nachdenken ein.

„Eben. Solange das so ist und wir keine Ahnung haben, was dich an diese Wurzel gehängt hat, werde ich kein Risiko eingehen. Und ich dulde keine Widerworte. Verstanden?“

„Sir, ja, Sir!“ Gehorsam sass Beth im Bett und salutierte.

„Gut so.“

Ungefähr so stelle ich mir ein Erziehungscamp vor.“

„Du hast ja keine Ahnung.“ Jérémie schloss dir Tür hinter sich und Beth konnte wenig später hören, wie er das Haus verliess.

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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