Kapitel 11

 

Jérémie kam sich vor wie ein Vollidiot. Was konnte sie dafür, dass sie einen Wunden Punkt getroffen hatte? War das ein Grund, seine gesamte Erziehung zu vergessen und sie einfach stehen zu lassen? Nicht einmal eine Erklärung hatte er sich ausgedacht! Wie der Hitzkopf, den er einst war, war er getürmt. Solche Ausrutscher konnte er sich nicht leisten. Schliesslich musste er beruflich mit ihr verkehren und wie sollte sie ihn als erprobten, professionellen Gesetzeshüter akzeptieren, wenn er bei der geringsten Erwähnung seiner Familie davonrannte? Irgendwie musste er das wieder hinbiegen. Die Frage war nur wie… Bevor er sich eine Erklärung einfallen lassen konnte, machte sich sein Handy bemerkbar. Er erkannte die Nummer der Notfallzentrale. „Inspecteur Jérémie Russeau, meldete er sich mit der gewohnten Routine. „Was gibt’s?“

„Eine Geiselname, Ihre Unterstützung wurde angefordert.“

Er erkannte die Stimme als diejenige der blonden Sara. Bin schon unterwegs. Ist bereits eine Verhandlerin vor Ort?“

„Ja. Madame Dore hat sich vor Ort eingefunden.“

„Gut. Geben Sie mir die genauen Koordinaten und sollte sich Madame Dore melden, sagen sie ihr, dass ich unterwegs bin.“ Ausnahmsweise war er froh um die Unruhe in seiner Stadt. Beth hatte ihn gründlich durcheinander gebracht, wenn er jedoch weiter an dem Fall arbeiten wollte, musste er den Kopf wieder frei bekommen und dies war die Gelegenheit dazu.

Als Jérémie vor dem Mehrfamilienhaus ankam, hatte die Verhandlerin die Zügel bereits fest in der Hand. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge, die sich wie eine Traube um die Absperrung scharrte und schlüpfte unter dem Band hindurch. Ein junger Polizist erläuterte ihm die Situation. Ein liebestoller Ex-Lover wollte seine Herzdame zurückgewinnen. Nur hatte die Frau bereits einen Mann und der fand das Theater überhaupt nicht witzig. Also schnappte er sich kurzerhand ein Küchenmesser und hält damit nun seine Frau und deren Ex-Affäre in Schach.“

„Verletzte?“ Fragte Jérémie knapp.

„Bisher noch nicht“, antwortete der junge Polizist.

„Sehr gut. Das wird auch so bleiben.“

Er ging auf Madame Dore zu, eine kleine, pummelige Frau mittleren Alters mit einem unglaublichen Verhandlungsgeschick. Auch wenn sie nicht sehr beeindruckend wirkte, sie konnte nur mit ihren Worten einen Nichtschwimmer dazu bewegen ins offene Meer zu plantschen und das ohne Schwimmhilfe. Sollte ihre Karriere bei der Polizei einmal enden, würden sich alle um sie reissen, die etwas verkaufen wollten, denn sie würde die Produkte garantiert umsatzstark an den Mann bringen.

Als Madame Dore ihn kommen sah, deutete sie ihm an, kurz zu warten. „François, ich weiss, dass Ihre Frau Ihnen schrecklich weh getan hat, aber glauben Sie mir, es ist keine Lösung, den Grund des Übels zu erstechen.“ Sie verstummte und hörte zu, was der Mann am anderen Ende der Leitung sagte. „Natürlich ist er ein schwanzloser Mistkerl, aber fänden Sie es nicht auch besser wenn er mit genau diesem Wissen weiterleben muss? Wenn Sie ihn jetzt töten, haben Sie ihn vor einem weiteren Leben als Witzfigur bewahrt. Können Sie das verantworten?“

Jérémie musste schmunzeln. Insgeheim hoffte er, dass sie bei der Polizei alt und grau wurde, denn auch er wäre ein Opfer ihrer Verkaufsstrategien.

Wieder schwieg sie. Dann legte sie den Knopf, den sie im Ohr hatte, beiseite. Scheinbar hatte der Mann am anderen Ende aufgelegt.

„Er denkt gerade darüber nach, was ihm besser gefällt. Wenn der Ex-Lover seiner Frau auf ewig mit seinem kleinen Würstchen herumrennen muss oder wenn er dem armseligen Leben dieses Bastards ein Ende setzt.“

„Mir scheint, deine Sprache verkommt allmählich zu einem grausigen Slang. Davor musst du dich in acht nehmen.“

„Ja, ja du junger Springbock, du hast gut reden. Aber falls es dich interessiert, ich habe lediglich dieselben Worte verwendet, die mir gerade eben noch ins Ohr gebrüllt wurden. Also verzeih, wenn ich dich mit der wörtlichen Wiedergabe des von mir Vernommenen beleidigt haben sollte und dein feines Gehör jetzt unter Verunreinigung leidet.“

„Jep, dies kommt den gewählten Worten einer Dame schon viel näher. Das gefällt mir wesentlich besser. Und jetzt sag mir, holde Maid, wie schätzt du die Situation ein?“

„Es ist alles halb so wild. Der Kerl ist einfach wütend und fühlt sich verarscht. Das ist ja auch kein Wunder, in Anbetracht dessen, dass ihn seine Angetraute betrogen hat. Ich habe das Gefühl, er möchte seiner Frau verzeihen, aber der Nebenbuhler hat nicht aufgegeben und solange der immer wieder auf der Bildfläche auftaucht, kann unser François keinen Neustart wagen. Heute eskalierte die Situation, er schnappte sich ein Messer und da stehen wir nun. Ich denke aber nicht, dass er wirklich jemanden töten will sondern eher, dass er seinem Konkurrenten einen gehörigen Schrecken einjagen möchte. Das scheint ihm auch gelungen zu sein.“

„Wie lange meinst du, brauchst du noch?“

„Beim nächsten Anruf gibt er auf.“

„Die Wette gilt. Ich verlass mich auf dich!“

Da klingelte auch schon das Telefon.

Madame Dore hob den Knopf wieder ans Ohr. Mit einem Blick in die Runde vergewisserte sie sich, dass alle bereit waren. „Hallo François. Schön dich wieder zu hören.“

„Hier ist nicht François.“ Es war eine Frauenstimme und Madame Dore schärfte alarmiert all ihre Sinne.

„Wer spricht denn da?“

„Mein Name ist Melissa.“

„Hallo Melissa. Ich bin Margrethe Dore, Verhandlerin der Polizei. Sind sie François’ Frau?“

„Ja.“

„Wo ist François jetzt?“

„Er liegt vor mir auf dem Boden.“

Madame Dore biss sich auf die Unterlippe.

„Ist er verletzt?“

„Ja.“

„Blutet er?“

„Ja.“

Sie gab dem Rettungswagen ein Zeichen, dass sie sich bereithalten sollten. „Melissa, wie ist das passiert? Geht es Ihnen gut? Hat er Sie angegriffen?“

„Er hatte nicht auf mich hören wollen. Ich sagte ihm, er solle mir den Rücken nicht zudrehen, er hat es aber doch getan und da sprang ich auf und rammte ihm meine Nagelfeile in den Bauch.“

So ein Mist. Je nachdem wo sie ihn getroffen und welches Organ sie erwischt hatte, war er jetzt im Begriff zu verbluten. „Melissa, hören Sie mir jetzt genau zu. Sie wurden heute Opfer eines Verbrechens, Sie haben in Notwehr gehandelt und die Sache so zu einem Ende gebracht. Jetzt ist es aber vorbei und Sie sind in Sicherheit. Wenn Sie jetzt herauskommen würden, damit wir alle sehen könnten, dass es Ihnen auch wirklich gut geht, wäre das ganz toll. Es warten hier einige Polizisten. Damit diese wissen, dass Sie nicht bewaffnet sind, müssen Sie mit erhobenen Händen raus kommen. Aber ich versichere Ihnen, dass Ihnen nichts zustossen wird.“

Ich habe das gut gemacht, richtig?“

„Ja, Sie haben das gut gemacht. Kommen Sie jetzt zu uns an die frische Luft?“ Madame Dore notierte sich, dass Melissa in ein kindliches Verhalten abdriftet, womöglich ist sie in einem Schockzustand. „Hier draussen ist es viel schöner als dort drinnen. Die Sonne lacht und die Vögel zwitschern, das musst du dir anhören!“ Absichtlich sprach Madame Dore Melissa nun mit dem vertraulicheren ‚Du’ an.

„Was singen die Vögel denn?“

„Was möchtest du denn, das sie singen?“

„We are the Champion von Queen. Weil ich nämlich gewonnen habe.”

„Ich weiss nicht ob die Vögel das können, aber ich und all die anderen die hier draussen auf dich warten, werden es für dich singen, wenn du zu uns kommst.“

„Wirklich?“

„Ja wirklich.“

Jérémie belauschte konzentriert das Gespräch über einen zweiten Knopf. Bei der Bemerkung, dass alle singen müssten, wenn sie raus kam, zog er eine Grimasse. Das war wirklich nicht sein Tag.

Plötzlich war die Leitung tot. Jérémie legte den Knopf beiseite. „Macht euch bereit, sie kommt raus.“

Ein Polizist, der direkt neben ihm stand fragte: „Müssen wir wirklich singen?“

„Ich fürchte ja.“

„Ich wusste, ich hätte das Bett heute nicht verlassen dürfen.“ Angewidert schüttelte der Polizist den Kopf.

„Glauben sie mir, dieser Gedanke ging mir gerade eben auch durch den Kopf.“

Langsam öffnete sich die Tür des Hauses. Jérémie erkannte einen roten Lockenkopf. Man konnte die Spannung, die in der Luft lag, beinahe greifen. Der Lockenkopf schob sich mit erhobenen Händen aus der Tür - und Madame Dore begann zu singen. „We are the Champions, we are the Champions, no time for looser, cause we are the Champions…“

Die Polizisten warfen sich untereinander hilflose Blicke zu, setzten dann aber in den Gesang mit ein. Tatsächlich zeichnete sich unter den vielen Sommersprossen ein Lächeln ab. Einige Polizisten gingen auf Melissa zu und fassten sie am Arm. Sie liess sie gewähren. Der Gesang verstummte und eine weitere mit schusssicheren Westen ausgestattete Truppe rannte in das Haus. Erst als diese nach draussen riefen, dass das Haus sicher sei, folgten die Sanitäter. Sie fanden den Ex-Lover zitternd wie Espenlaub im Kleiderschrank kauernd vor. Er war unverletzt. François fanden sie im Wohnzimmer vor dem Sofa. Er lag in einer Lache seines eigenen Blutes. Für ihn kam jede Hilfe zu spät.

 

Es war bereits sehr spät am Abend, als Jérémie zurück in sein Büro kam. Wie immer kam am Ende des Tages der Schreibkram an die Reihe. Im Allgemeinen war dies eine der unliebsamsten Arbeiten, aber auf Jérémie wirkte sie irgendwie beruhigend. Heute allerdings hätte er auch gerne darauf verzichtet. Lieber hätte er sich im Fitnessraum abreagiert und seine Wut in Schweiss umgewandelt. Er hasste es, wenn jemand ums Leben kam und es war ihm erst Recht zuwider, wenn er ein Teil des zuständigen Einsatzteams war. Melissa war verhaftet worden, aber wenn sie einen guten Anwalt fand, der die Notwehr plausibel erklären konnte, würde man sie gehen lassen. Ihr Ex-Liebhaber würde sich hüten, noch einmal eine verheiratete Frau anzufassen. Jérémie liess sich in seinen Stuhl fallen, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte Löcher in die Luft. Im Grossen und Ganzen war es ein grauenvoller Tag gewesen. Allerdings konnte er sich nicht über den Abwechslungsreichtum beschweren.

Sein Blick glitt über den dunkelbraunen Schreibtisch sowie die darauf befindlichen Artikel und blieb an der Akte Clement haften. Während er den braunen Umschlag anstarrte, kam er zum Schluss, dass er Melissa noch seinen Dank schuldete. Sie hatte ihn wenigstens vorübergehend abgelenkt und darüber war er nicht unbedingt unglücklich. Denn so sehr er sich auch bemühte, er wurde das ungute Gefühl nicht los, dass hinter diesem Fall mit der Leiche auf dem Friedhof noch mehr steckte. Grimmig wandte sich Jérémie der Akte zu, um sich an deren Studium zu machen. Der Bericht im Fall Melissa musste warten.

 

 

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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