Kapitel 42
„Das ist lächerlich!“, brummelte Jérémie. Wieder verschaffte er seiner Unruhe Luft, indem er noch während des Telefonats mit Beths Eltern aufgestanden war und erneut den Versuch gestartet hatte, Schneisen in den Boden zu laufen. Seine Gedanken kreisten schon wieder um genau das Thema, von dem er sich eigentlich ablenken wollte. Sollte er Beth zurückholen oder nicht? Den Anschein von Entschlossenheit heraufbeschwörend, ging er erneut um seinen Schreibtisch herum. Doch anstatt die Nummer des Klosters zu wählen, streiften seine Finger nur über die Ziffern der Wählscheibe und umschlossen dann das Säckchen daneben. Vorsichtig öffnete er es und nahm eine der Tabletten heraus. Ganz kurz nur ging ihm durch den Kopf wie es wäre, eine davon einzunehmen. Eigentlich hätte er erwartet, diesen Gedanken als erschreckend und abstossend abzutun, aber es stellte sich ein ganz anderes Gefühl ein. Zufriedenheit. Er war einfach nur zufrieden darüber, dass er den Konsum von Drogen nicht mehr nötig hatte und dieses Entspannung bringende Etwas mit rein beruflichem Interesse betrachten konnte. Während er die Tablette zwischen seinen Fingern hin und her rollte und darauf starrte, wurde er stutzig. Die meisten Pillen, Tabletten und Kapseln sind irgendwie markiert durch eine Prägung oder einen Aufdruck. Nicht so diejenige in seiner Hand. Neugierig geworden drehte er sich zu seinem Computer und durchforstete die interne Datenbank. Als er nicht fündig wurde, weitete er seine Suche auf andere ihm zur Verfügung stehende Datenbanken aus. Auch dieser Versuch erbrachte nicht die gewünschten Erkenntnisse. Nachdem er dann die gesamte Côte d’Azur, soweit es möglich war, erfolglos durchforstet hatte, machte sich Ratlosigkeit breit. Sich damit zufrieden zu geben, dass nichts über eine Tablette ohne Prägung bekannt und vorhanden sein soll, kam nicht in Frage. Drauf und dran, sich als nächstes erneut in die dunklen Gassen seiner Vergangenheit zu begeben und seine Kontaktpersonen aufzusuchen, begann er zu zweifeln. Sollte er nicht vorher die ihm sonst noch zur Verfügung stehenden weitreichenden Informationsquellen anzapfen? Doch dann fasste er einen Entschluss, mit dem er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte. Hatte er nicht selbst erklärt, dass er am meisten erfahren würde, wenn er eine nette Frau vorzuweisen hatte?
Sich die Nummer des Klosters ins Gedächtnis rufend, streckte er immer noch etwas widerwillig seinen Arm aus, um nach dem Telefonhörer greifen zu können.
Doch noch bevor seine Hand den Hörer vollständig umschlossen hatte, erstarrte er. Sein Blick verharrte auf dem Foto, welches er vor Pauls Erscheinen und dem überstürzten Aufbruch in die Klinik in Händen gehalten hatte. Es zeigte Dinas Leiche am Fundort auf dem Friedhof. Langsam glitt seine Hand vom Telefon hinunter und wanderte wie von einem Geist gesteuert zu dem Foto. Er zog es unter den neu ausgebreiteten Papieren hervor und hielt es hoch. Daran erinnert, was er vor einigen Stunden mit dem Bild hatte tun wollen, griff er nach der etwas angeschlagenen Lupe, die noch genau dort lag, wo er sie hingelegt hatte. Erneut schob er sie über das Foto und erkannte etwas, dem er bisher möglicherweise zuwenig Bedeutung beigemessen hatte.
Entrüstet über sich selbst knallte er das Foto zurück auf den Tisch und liess sich ungläubig in seinen Stuhl zurückfallen. Mehrere Male atmete er tief ein und durch zusammengebissene Zähne zischend wieder aus. Als sein Puls wieder einen einigermassen normalen Rhythmus angenommen hatte, stürzte er sich auf seine Computertastatur und hackte gnadenlos auf sie ein. „Wir haben bei euch ja nun schon einige Leichen im Keller gefunden, mal sehen, was du uns zu erzählen weisst.“ Einige Meldungen erschienen auf dem Bildschirm und je mehr Text Jérémie las, desto eher glaubte er seinen Augen nicht mehr trauen zu können.
„Mein Gott!“ Mit weit aufgerissenen Augen vertiefte er sich in die Lektüre der verschiedenen Dateien. Er konnte kaum glauben, was er las. Viel Zeit war verstrichen, als er sich endlich wieder aufrecht hinsetzte und seine verspannte Rückenmuskulatur dehnte. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und es geschah etwas ganz Seltenes; er wusste nicht wohin mit all den neuen Erkenntnissen. Und was noch viel schwerer ins Gewicht fiel, er wusste nicht mehr, ob Beth wirklich diejenige war, die sie zu sein schien.
„Okay, Junge, du musst einen kühlen Kopf bewahren, sortieren, ablegen, dirigieren, handeln. Ganz einfach“, redete er sich selbst gut zu. Tatsächlich schienen seine Bemühungen, sich selbst zur Ruhe zu zwingen, Früchte zu tragen. Einem Impuls folgend wandte er sich eifrig wieder seinem Computer zu und fütterte ihn mit Daten. Er wusste nicht genau, ob er sich freuen oder eher niedergeschlagen sein sollte, als er seinen Geistesblitz vor sich bestätigt sah. Aber etwas war sicher; diesmal griff er zielstrebig und entschlossen nach dem Telefon.