Kapitel 35
Es bedurfte nur weniger Worte und Jérémie war kurze Zeit später mit einer ganzen Mannschaft bei sich zu Hause und damit bei ihr angekommen. Beth hatte man zwischenzeitlich auf das Sofa verfrachtet, nachdem sie einen kurzen anschaubaren Abriss davon gegeben hatte, wie und an welchen Orten sich der Angriff abspielte.
„Also, noch mal, er hat geklingelt, du hast geöffnet, er stürzte sich auf dich. Was hat er gesagt?“
„Er hat mir vorgeworfen, ich und meine Familien wären darauf aus, sein Leben zu zerstören.“
„Deine Familie? Hat er genauer gesagt, wen er damit meinte?“
„Das kann eigentlich nur Dina sein. Obwohl es ziemlich vermessen ist, sie als meine ganze Familie zu bezeichnen.“
„Hat er sonst noch etwas gesagt?“
„Er warf mir vor, das alles geplant zu haben.“ Beth machte eine ausladende Geste. „Er ist der festen Überzeugung, ich hätte euch infiltriert, um ihn und sein Leben zu zerstören.“ Ernst schaute sie Jérémie an.
„Er glaubt, du und Dina seid darauf aus, sein Leben zu zerstören. Zu dieser Überzeugung könnte er gelangt sein, weil Dina nach langer Zeit, wieder in seinem Leben aufgetaucht ist und es gründlich durcheinander gebracht hat. Womöglich ist er heute der Meinung, dass Dina ihn absichtlich ins Bett lockte, um seine Ehe zu ruinieren. Als die Affäre zu scheitern droht, stirbt Dina plötzlich und du tauchst auf der Bildfläche auf. Bisher hatte er nur von dir gehört, jetzt gehst du auf der Polizeistation ein und aus, wie es dir passt, du wohnst sogar bei dem ermittelnden Inspecteure. Dies dürfte in seiner Verzweiflung den Eindruck geweckte haben, dass du quasi Dinas Nachfolge angetreten hast und Henrys Leben systematisch weiter zerstören willst, indem du seiner Familie einen Mord an Dina anhängst. Oder, er glaubt, dass ihr vor nichts zurückschreckt um euer Vorhaben zu Ende zu bringen. Das würde bedeuten, er geht sogar davon aus, dass du Dina getötet hast, um ihm und / oder seiner Frau den Mord anhängen zu können.“
Beth war erstaunt darüber, wie Jérémie auf solche Gedanken kommen konnte. Gleichzeitig war sie auch schockiert über seine Ausführungen. Wenn sie sich Henrys Gesicht heraufbeschwor, wie er direkt vor ihr gestanden hatte und sie bedrohte, musste sie sich eingestehen, dass alles durchaus zutreffen konnte.
„Aber warum? Welche Motive könnte er haben, so etwas von uns zu glauben? Wir haben ihm, soweit ich weiss, nichts Schlimmes angetan. Oder ist das so ein Psychologieding? Er kommt nicht mehr damit zurecht, dass sein Leben in Scherben vor ihm liegt, ist vollkommen überfordert und weil er Schuldgefühle hat und die Last nicht mehr alleine tragen kann, suchte er sich jemanden, auf den er diese Verantwortung und die Schuld abwälzen konnte? Passenderweise sind das dann Dina und ich. Schliesslich war Dina Hauptbestandteil der Affäre, also eindeutig eine gute Mitschuldige. Jetzt wurde Dina ermordet und ich nehme ihren Platz als Verantwortliche ein.“
„Hast du neben deinem Architekturstudium noch Psychologie belegt?“
Beth war der Ansicht, einen Anflug von Spott in Jérémies Stimme hören zu müssen, aber sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte nichts dergleichen herausfiltern. „Was kuckst du so? Ich habe das sehr ernst gemeint. Diese Interpretation liegt durchaus im Bereich des Möglichen. Eine zweite Möglichkeit wäre, dass er es nie verkraftet hat, dass sie nach England verschwand, ohne einer Liebesbeziehung mit ihm auch nur den Hauch einer Chance gegeben zu haben. Dann stand sie nach so vielen Jahren wieder vor ihm mit dem Unterschied, dass diesmal er verheiratet war und sie sich in ihn verliebte. Es könnte sein, dass er seine Zeit gekommen sah, sich für die Abfuhr von damals zu rächen. Er ging die Beziehung mit ihr ein, wollte sie dann beenden, doch bevor er dazu kam, den Bruch endgültig herbeizuführen, war es schon wieder sie gewesen, die ihn verliess. Ich könnte mir vorstellen, dass das seinem Ego überhaupt nicht gut getan hat. Zu allem Übel ist jetzt auch noch Dinas Nichte da, die zulässt, dass Henrys Familie unter Mordverdacht gerät. Schätzungsweise ist er stinkwütend. Sogar seine Ehe hat er für den Racheplan riskiert. Aber es hat alles nichts gebracht, im Gegenteil; es wurde alles nur noch schlimmer. Erneut ging er als Verlierer aus dem Spiel.“
„So gesehen fällt er wenigstens als Dinas Mörder weg“, warf Paul ein, der, wie immer, alles geduldig anhörte und dann seine weiterführenden Schlüsse zum Besten gab.
„Stimmt, das ist wenigsten etwas. Nur hat er sich jetzt wegen versuchten Mordes an Beth schuldig gemacht. Ob es nun Absicht war oder nicht, es scheint tatsächlich sein Schicksal zu sein, von den Clement-Frauen ruiniert zu werden. Ironischerweise hat er sich den sprichwörtlichen Todesstoss selbst zuzuschreiben.“
„Diese Theorien sind sicherlich gut und vielleicht trifft ein bisschen von jedem zu. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir es nicht sicher wissen, bevor wir Henry festgenommen haben. Dies ist uns aber leider erst möglich, wenn wir in gefunden haben“, gab Paul zu bedenken.
Jérémie nickte zustimmend. „Zuhause ist er nicht?“
„Nein. Die Jungs, die seine Frau beschatten, haben gesagt, dass sie zuhause sei, Henry sei aber nicht aufgetaucht.“
„Möglicherweise hat Henry sie angerufen und nach ihrer Unterstützung verlangt. Es könnte also sein, dass sie in der nächsten Zeit das Haus verlässt. Wir müssen ihr nach wie vor auf den Fersen bleiben. Vielleicht führt sie uns zu ihm.“
„Und wenn nicht?“
„Dann klopfen wir an und fragen sie, ob sie etwas von ihrem Mann gehört hat. So einfach ist das.“
„Sie wird es uns nicht sagen.“
„Wahrscheinlich nicht, nein. Aber verloren haben wir dann auch nichts.“
„Und wenn die Tarnung unserer Ermittler auffliegt?“ Paul wollte kein Risiko eingehen.
In einem etwas gereizteren Tonfall als beabsichtigt holte Jérémie zu einer Antwort aus. „Dann sind sie dämlich und im falschen Beruf. Ich will nicht hoffen, dass sie bei Frau Depruit an die Tür klopfen werden und sich als ihre Beobachter vorstellen, die den Auftrag erhalten haben, sie zu fragen, ob sie von ihrem wild gewordenen Ehemann etwas gehört hat.“
„Nun ja, zugegeben, das wäre sehr ungeschickt.“
Die Feststellung, dass Paul auch nach dieser pampigen Antwort zu seiner Aussage stand, stimmte Jérémie deutlich milder. „So kann man es auch sagen. Und ich bin der Meinung keine ungeschickten Leute in meinem Team zu haben.“
Paul hatte das versteckte Kompliment genau verstanden, liess sich aber nichts anmerken.
„Nun denn.“ Jérémie stand auf. „Paul, wenn Sie hier alleine zurecht kommen, werde ich mich jetzt um Beths Sicherheit kümmern.“
„Kein Problem.“
„Was? Jérémie, was hast du vor?“
Mit Protest ihrerseits hatte er gerechnet, er duldete aber keine Widerrede. „Du packst jetzt einige Sachen und kommst mit.“
Sie spürte, dass Widerstand zwecklos war und folgte seinen Anweisungen. Mit gepackter Tasche sass sie einige Minuten später in seinem Auto. „Wo bringst du mich hin?“
„Das wirst du sehen. Die Fahrt dauert eine Weile, also mach es dir bequem.“
Schon bald konnte Beth feststellen, dass sie Nizza hinter sich gelassen hatten und immer weiter davon wegfuhren. Da sie das bedrückende Schweigen, das seit Beginn der Fahrt herrschte, sowieso nicht mehr aushielt, gab sie der brennenden Neugierde nach. „Wohin fahren wir? Ich meine, die Landschaft ist wunderschön hier, aber ich gehe nicht davon aus, dass du mir die Schönheiten der Umgebung zeigen möchtest.“ Gespannt auf eine Antwort wartend schloss sie den Mund. Sie wartete vergeblich. „Gut, du willst mir nicht sagen, wo es hin geht, du bist offensichtlich auch entschlossen, überhaupt nichts mehr zu sagen. Dann grummle wenigstens eine Antwort. Denn eigentlich ging ich davon aus, dass ich die Stadt nicht verlassen darf.“
„Ach, ist es dir auf einmal ein Bedürfnis, sich an dieses Verbot zu halten?“
Er hatte ihr ihren Ausflug nach Monaco noch immer nicht verziehen. Aber wenigstens hatte er etwas gesagt. Darauf liess sich aufbauen. „Ich kann wohl froh sein, dass du mich nicht verhaftet hast, als ich dir sagte, ich wäre trotz allem in Monaco gewesen.“
Frustriert registrierte sie, dass seine Antwort nur noch ein Schnauben war. Seine Gesprächsbereitschaft schien effektiv bei null zu sein.
„Hättest du mich verhaftet, wärest du jetzt nicht auf Mission ‚Sicherheit’, sondern könntest deine Verbrecher jagen.“
„Herzchen, jetzt halt die Luft an. Natürlich würde ich mich lieber persönlich darum kümmern, dass dieser Henry hinter Gitter kommt. Aber ich bin zuversichtlich, dass Paul mich würdig vertritt, bis ich wieder zurück bin. Was mich erstaunt, ist, dass du deinen Schnabel immer noch so frisch fröhlich aufreissen kannst. Wenn du es genau wissen willst, ich habe mir wirklich überlegt, dass es besser gewesen wäre, dich einzukerkern, dann wärst du vielleicht nicht drei Mal beinahe getötet worden!“ Ausser sich vor Wut trat Jérémie aufs Gas. Beth beobachtete beunruhigt, wie die Tachonadel stetig höher kletterte. So ruhig wie möglich versuchte sie auf seine Worte einzugehen.
„Du nimmst das persönlich, stimmt’s? Ich stehe unter deinem Schutz und du siehst es als persönliches Versagen an, dass du deinen Schützling drei Mal beinahe verloren hättest.“
„Natürlich tu ich das!“
„Ich muss meinen Schnabel so weit aufreissen. Das ist meine Art damit umzugehen, so wie es deine ist, wütend zu werden. Ich weiss nicht, wie ich das alles sonst verkraften soll. Ich habe Angst, dass ich zusammenbreche, wenn ich das alles nicht durch mein Geplapper so gut es geht auf Distanz halte.“
Das Auto verlor wieder an Geschwindigkeit. Beth schien die richtigen Worte gefunden zu haben. Dadurch motiviert, sprach sie weiter.
„Du hast nicht versagt, schliesslich lebe ich noch, oder?“
„Ja, aber nicht meinetwegen.“
„Natürlich deinetwegen! Darf ich dich daran erinnern, dass du es warst, der mich aus der Wohnung geholt hat?“
„Und die anderen beiden Male?“
„Habe ich mir selbst zu verdanken. Du hast mich bei dir wohnen lassen und du hast mir gesagt, ich darf das Haus nicht verlassen. Ausserdem hast du mir mitgeteilt, dass du mich nicht einsperrst, sondern etwas aussperrst. Und was tue ich? Dem ersten, der klingelt, mache ich die Tür auf. Das ist doch ziemlich fahrlässig.“
„Nein. Es war richtig dumm“, bestätigte Jérémie ihre Aussage und schien ein wenig ruhiger geworden zu sein.
Inzwischen war er abgebogen und sie fuhren eine kurvige Strasse entlang, die in die Abgeschiedenheit der Berge führte. Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend. Beth konzentrierte sich auf die wundervolle Umgebung. Erst, als die Strasse sich in einen Schotterweg verwandelte, brannten ihr wieder einige Fragen auf der Zunge, die sie aber tapfer hinunterschluckte. Der Umgebung zufolge musste es sich bei diesem Versteck um eine ziemlich traurige Hütte ohne fliessend Wasser und Strom handeln. Beth malte sich bereits aus, wie sie sich am eiskalten Wasser des Brunnens vor der Tür waschen musste. Nur schon bei der Vorstellung zitterte sie am ganzen Körper. Dies entging Jérémie nicht. „Ist dir kalt?“
„Eh, nein, ist schon gut, das passiert manchmal.“ Beim besten Willen fiel ihr keine plausible Ausrede ein, genauso ging es ihr aber gegen den Strich, ihm ihre Horrorvorstellungen offenzulegen.
Einige Kurven weiter, begannen sich die Bäume dann zu lichten. Angespannt schaute Beth aus dem Fenster. Vor ihr tat sich der Blick auf eine riesige graue Steinmauer auf. Verwundert wurde Beth Zeugin davon, wie einige Touristen mit Fotoapparaten aus dieser Mauer herauskamen und zu ihren Mietautos zurückkehrten. Verwirrt schaute sie Jérémie an, der wie selbstverständlich noch ein Stück weiter an den Touristen vorbei fuhr und das Auto dann um eine Ecke lenkte. Dort stellte er den Motor ab und stieg aus. Beth tat es ihm nach. Ihre Skepsis wuchs, als Jérémie auf die Mauer zuging. Erst bei genauerem Hinsehen konnte sie die schmale Holztür erkennen. Sie folgte ihm und als sie neben ihm zum Stehen kam, wurde die Tür von einer Frau geöffnet, die augenscheinlich eine Nonne war.
„Oh! Da seid ihr ja! Guten Tag, ihr Lieben, kommt herein!“ Überschwänglich begrüsste die Schwester die beiden Ankömmlinge mit strahlendem Gesicht, bevor sie von der Tür weg trat und so Platz zum Eintreten machte.
„Guten Tag.“ Mit einem warmen Lächeln erwiderte Jérémie den Gruss der Nonne. Beth war so damit beschäftigt, den neuen Gesichtsausdruck von Jérémie zu studieren, dass sie darüber ihre Manieren vergass. Grosszügig sprang Jérémie deshalb für sie ein.
„Schwester Johanna, darf ich ihnen Elisabeth vorstellen?“
„Es freut mich sehr, Kindchen. Ich habe gehört, was Sie alles durchmachen mussten, Sie armes Ding. Es ist nur gut, dass Sie jetzt ein bisschen bei uns bleiben. Die Ruhe und das Gebet werden Ihnen helfen, wieder zu sich selbst zurückzufinden. Das wird Ihnen bestimmt gut tun.“ Trotz der Herzlichkeit die ihr entgegengebracht wurde, hatte Beth das Gefühl die Flucht ergreifen zu müssen.
„Danke Schwester Johanna, das ist sehr grosszügig von Ihnen.“ Beth lächelte die Nonne an und wandte sich dann an Jérémie. „Kann ich dich für einen kleinen Moment sprechen?“
„Natürlich.“
Beth lenkte Jérémie ausser Hörweite der Nonne. „Bist du verrückt geworden? Die Ruhe im Gebet finden? Was fällt dir ein, mich hierher zu bringen?“, zischte sie ihm aufgeregt zu.
„Beth, glaube mir, es klingt schlimmer, als es ist. Die Schwestern sind sehr nett. Und was viel wichtiger ist, du bist hier vorerst in Sicherheit. Solange Henry noch frei herumrennt und seine Frau nicht von jeder Schuld befreit ist, schwebst du in höchster Lebensgefahr. Ich möchte mir nicht mehr andauernd Sorgen um dich machen müssen. Ich möchte dich in Sicherheit wissen, damit ich mich voll und ganz auf die Arbeit konzentrieren kann. Das hat den Vorteil, dass wir vielleicht schneller vorankommen und du bald wieder nach England zurückkehren könntest.“
Beth verspürte bei diesen Worten einen unerwarteten Stich. Ungeduldig schob sie das Gefühl beiseite. „Aber…“
„Kein Aber. Du wirst hier bleiben. Wenn alles gut läuft, ist es doch nur für einen oder zwei Tage. Diese Zeit in absoluter Abgeschiedenheit ist ideal zum Geniessen und neue Kraft tanken. Du hast wirklich viel durchgemacht, gib dir diese Zeit.“
Zugegebenermassen klang es verlockend. Beth dachte daran, dass Jérémie nach seiner Zeit bei der Polizei in die Werbung gehen könnte, in Anbetracht dessen, wie er ihr diese Auszeit schmackhaft gemacht hatte. „Das mit der völligen Abgeschiedenheit stimmt aber nur bedingt, ich gehe davon aus, dass du die Touristen vorhin auch gesehen hast?“
„Ja. Aber die kommen nur in kleine Teile des Klosters. Du wirst sie nicht einmal bemerken. Und sie dich auch nicht.“
Jérémie führte Beth zurück zu Schwester Johanna und übergab sie ihrer Obhut. Schwester Johanna begann ihr sofort einige Regeln zu erklären, noch während Jérémie daneben stand. „Als erstes werden Sie mir all Ihren technischen Schnickschnack geben. Ihr Mobiltelefon, den iPod und solche Sachen. Das brauchen Sie hier nicht, denn Sie sollen zuhören, was Ihr Körper und Gott zu sagen haben und nicht die Musik aus Lautsprechern.“
Nachdem Beth das gehört hatte, warf sie Jérémie einen eindringlichen Blick zu.
„Jérémie...“ Langgezogen presste sie seinen Namen zwischen zusammengebissen Zähnen hervor.
Dieser wusste allerdings nichts besser, als Anstalten für einen schnellen Aufbruch zu machen. „Es sieht ganz danach aus, als würdet ihr beide gut miteinander zurecht kommen. Schwester Johanna, ich würde gerne noch bleiben, aber ich muss wieder zurück. Ich danke Ihnen ganz herzlich dafür, dass Sie Beth bei sich aufnehmen.“
Dann wandte er sich an Beth. „Ich weiss, das Ganze fällt dir schwer, aber es ist wichtig, dass ich mich auf dich verlassen kann.“
„Die wollen mir mein Mobiltelefon wegnehmen! Wir kann ich dann meine Eltern erreichen oder dich? Und was ist, wenn doch der Notfall eintritt?“
„Die Schwestern haben ein Telefon. Deine Eltern kannst du unbesorgt mir überlassen. Wenn ich etwas Neues habe, melde ich mich bei dir und wenn die Gefahr in Nizza gebannt ist, werde ich dich hier abholen lassen.“
„Aber du weißt doch überhaupt nicht, was ich meinen Eltern schon gesagt habe! Geschweige denn, welche Geschichten du ihnen zumuten kannst! Ich habe dir auch noch nichts von dem Gespräch erzählen können, dass ich als Letztes mit ihnen führte. Mein Vater hat nämlich bestätigt, dass Dina aus einer Protestphase heraus geheiratet hatte, sich dann aber scheiden liess und nach London zurückkam.“
„Deine Eltern werden nichts erfahren, was nicht dringend notwendig ist. Haben dir deine Eltern irgendetwas erzählt, was uns nützlich sein könnte und wir noch nicht aus eigenen Recherchen wissen?“
„Nein.“ Niedergeschlagen starrte Beth auf den Boden. Da setzte Jérémie einen Finger unter ihr Kinn und zwang sie mit sanftem Druck ihn anzusehen. Er sah ihr fest in die Augen.
„Vertrau mir.“ Dann liess er sie los, drehte sich um und war im nächsten Moment durch die Tür verschwunden.
„So habe ich ihn noch nie gesehen.“ Beth hatte nicht bemerkt, dass Schwester Johanna näher gekommen war. Es hätte Beth sehr interessiert, was die Nonne damit meinte, aber sie kam nicht dazu, Fragen zu stellen. Mit erstaunlich festem Griff schnappte sich Schwester Johanna Beths Oberarm und führte sie durch die Klostermauern. Dabei bekam Beth die Schlafkammer, die Kapelle, den Esssaal und den Garten gezeigt, um dann am Ende eines langen Rundgangs festzustellen, dass die Drohung wahr gemacht wurde und ihr sämtliche technischen Mittel abgenommen wurden, die einen Kontakt zur Aussenwelt hätten herstellen können. Die Situation war für Beth neu und ungewohnt, aber sie besann sich auf Jérémies Worte und hielt sich daran fest. Mit der Zeit siegte dann auch die Neugier darüber, wie es in diesen Mauern weiterginge und was noch alles auf sie zukommen würde.