Kapitel 32
Zur gleichen Zeit wie Paul instruiert wurde, hatte Beth nervös die Nummer ihrer Mutter gewählt und wünschte fast, dass niemand rangehen würde. Ihre Hoffnung wurde aber nach dem zweiten Läuten enttäuscht.
„Hallo, mein Liebling! Ist bei dir alles in Ordnung? Ich dachte, ich sollte mich bei dir melden, weil ich schon so lange nichts mehr gehört habe, dann habe ich es gelassen, weil ich davon ausging, dass du dich bestimmt meldest, wenn etwas nicht gut ist und dann habe ich mir Vorwürfe gemacht, dass ich dich nicht einmal anrufe, wenn ich schon nicht bei dir sein kann und...“
„Mama?“ Der Redeschwall ihrer Mutter brachte Beth dazu, sich ein wenig zu entspannen. Ihr ging durch den Kopf, wie dumm es von ihr war, nicht schon früher angerufen zu haben.
„Ja, Liebes?“ Sofort brachen die endlosen Sätze ohne Punkt um Komma ab.
„Es ist schön dich zu hören.“
„Oh, danke. Sag mal, ist wirklich alles gut? Du klingst bedrückt!“
„Nein, es ist alles okay.“ Auf einmal hatte Beth einen Kloss im Hals. Um nicht mit tränenerstickter Stimme weiterzusprechen, schluckte sie mehrmals kräftig. „Deshalb rufe ich eigentlich auch an. Ich wollte einfach von mir hören lassen, um zu sagen, dass ihr euch keine Sorgen machen müsst.“
„Das war eine gute Idee mein Schatz. Weißt du schon etwas Neues wegen Dina?“
Jetzt musste Beth sich richtig beherrschen. „Ist Papa bei dir?“
„Ja! Soll ich ihn auf den Lautsprecher nehmen?“
„Gerne.“ Es knackte in der Leitung und dann konnte Beth die Stimme ihres Vaters hören. Wenn er sprach, klang es, als wäre er von der Distanz her ungefähr auf dem Mond.
„Kleines? Kannst du mich hören? Geht es dir gut?“
„Zweimal ja! Hallo Papa! Also, ich leg gleich los. Haltet euch fest, denn wenn ihr das hört, werdet ihr euch erschrecken. Aber es gehört zur Routine und sie müssen das auch überprüfen.“
„Wer muss was überprüfen? Wovon sprichst du?“
„Die Polizei trifft Abklärungen, ob Dinas Tod nicht möglicherweise Mord war.“
Stille.
„Hallo? Seid ich noch da?“
„Ja, ja.“ Ihre Mutter hatte das Wort wieder ergriffen. „Das ist wirklich ein Schock. Wer könnte denn so etwas tun? Was denkt denn die Polizei? War es ein Raubüberfall?“
„Nein Mama, Dina hatte noch alle wertvollen Dinge bei sich.“
„Aber warum sollte sonst jemand meine Schwägerin töten? Mein Gott, wie das klingt! Das ist ja schrecklich!“
„Ich weiss, Mama. Man weiss noch nicht viel. Sagen kann ich schon mal, dass Dina sich hier auf einen Mann eingelassen hatte, der dummerweise verheiratet war. Jetzt steht die betrogene Ehefrau unter Verdacht. Passenderweise wurde bei ihr zuhause das gefunden, was auch in Dinas Körper gefunden wurde. Daizepam.“
„Das gibt es doch nicht! Das sind Dinge, die anderen Menschen passieren oder in Filmen beschrieben werden, aber doch nicht in unserer Familie im realen Leben!“ Susanna schien ausser sich.
„Mama, Papa? Ich habe da noch eine andere Frage. Kann es sein, dass Dina schon einmal verheiratet war?“
Das verschlug Beths Gesprächspartnern erneut die Sprache. Das Entsetzen lag aber diesmal woanders begründet. Beths Eltern tauschten einen vielsagenden Blick aus, der Beth durch die äusseren Umstände verborgen blieb.
„Sag es ihr!“, zischte Susanna leise, aber eindringlich Jake zu, in der Hoffnung, Beth würde es nicht hören. Beth hörte es aber durchaus.
„Was soll er mir sagen?“
„Kindchen“, meldete sich Jakes Stimme. „Dina war tatsächlich schon einmal verheiratet. Während ihrem Sprachaufenthalt in Nizza hatte sie jemanden kennengelernt. Da sie in einer äusserst rebellischen Phase war und sie wusste, dass unsere Eltern das nie unterstützt hätten, hatte sie sich auf dem Einwohnermeldeamt eingetragen und den Typen geheiratet. Eigentlich wollte sie dann mit ihm durchbrennen. Soweit kam es aber nie.“
„Sag jetzt nicht, sie wurde vernünftig, liess sich wieder scheiden und ging zurück nach London?“
„Ehm, doch, genau so hat es sich zugetragen.“ Hastig bestätigte Jake Beths Interpretation der Geschehnisse, wofür er einen Seitenhieb von Susanna kassierte.
Erheitert musste Beth feststellen, dass ihre Tante einiges auf dem Kerbholz hatte. „Solche Ausbrüche hätte ich Dina nie zugetraut, sie scheint eine richtige Draufgängerin gewesen zu sein!“
„Oh, und ob sie das war! Die hat so Einiges angestellt, das du besser nicht weißt, sonst kommst du nur auf dumme Gedanken!“ Es war Susanna, die Beths Aussage bestätigte und mit ihren Worten sogar noch unterstrich.
„Wahrscheinlich hast du Recht! Aber eine Frage hätte ich trotzdem noch.“
„Was möchtest du denn noch wissen?“, fragte Jake so locker wie möglich.
„Hat Dina euch gegenüber irgendwann einmal einen Henry erwähnt?“
„Lass mich nachdenken. Doch ich glaube, ein Henry kam in ein paar Erzählungen vor. Wenn ich mich richtig erinnere, hat sie diesen Henry auf einer Party kennengelernt. Ich glaube, die beiden kamen ziemlich gut miteinander klar. Aber eben, die Zeit in Frankreich ging dem Ende zu, weshalb die beiden sich dann auch aus den Augen verloren. Jedenfalls habe ich nie wieder etwas über Henry gehört. Aber warum fragst du? Woher hast du diesen Namen überhaupt?“
„Ach, dieser Henry tauchte auf einem Foto auf, das Dina in ihrer Brieftasche hatte.“
„Hatte sie das? Dann hat sie doch noch mehr an ihm gehangen, als ich dachte. Ich hatte wirklich das Gefühl, er hätte eher eine Nebenrolle in Dinas Liebesleben. Ein Kumpel eben, mehr nicht.“
Das stimmte Beth traurig, aber sie wollte nicht schon wieder der Schwermut verfallen. „Themenwechsel, wie läuft es bei euch? Seid ihr immer noch Schwerverbrecher?“
„Ja, leider. Wir wissen auch noch nichts Neues. Warten ist angesagt, auch wenn es uns verrückt macht. Wir kommen aber zu dir, sobald wir können, versprochen!“
„Das wäre schön. Macht aber keine Dummheiten, klar? Also ihr beiden, sagt, wenn ihr Neuigkeiten habt, ich werde es genauso machen. Einen schönen Abend wünsch ich euch. Hab euch lieb!“
„Danke Kleines, wir dich auch!“
Erschöpft, aber auch erleichtert, dass es erledigt war, legte Beth auf. Es war schön die beiden gehört zu haben und es tat auch gut. Dennoch klopfte bereits das schlechte Gewissen darüber an, dass sie nicht ganz alles erzählt hatte. Beth war sosehr damit beschäftigt gewesen, sich selbst zu beherrschen, um nicht mit allem herauszuplatzen und die guten Vorsätze, ihre Eltern vor unnötiger Sorge zu bewahren, umzusetzen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie auch ihre Eltern krampfhaft versucht hatten, nur die nötigsten Informationen weiterzugeben.