Kapitel 7

 

Mit geschwollenen Augen und einem Haufen zerknüllter Taschentücher neben sich, sass Beth in einem grossen Sessel im Büro des Inspecteurs, der sie angerufen hatte. Sie war vollkommen aufgelöst und fühlte sich, als hätte man ihr den Boden unter den Füssen weggezogen. Die ganze Zeit überlegte sie sich, wie so etwas überhaupt möglich sein konnte. Es musste sich um einen Alptraum handeln. Doch immer, wenn sie sich selbst in den Arm kniff, um aufzuwachen, entwich ihr ein leiser Schmerzensschrei.

„Madame, wenn Sie sich weiter kneifen, muss ich Ihnen die Hände hinter dem Rücken fesseln. Ihr ganzer Arm ist schon übersäht mit roten Flecken und den Spuren Ihrer Nägel.“

Sie hatte weder gehört, wie sich die Tür öffnete, noch wie sie sich wieder schloss, als der Inspecteur wieder in das Büro zurückgekommen war. Er hatte zwei Kaffeebecher in der Hand und reichte ihr einen davon.

„Danke, brachte Beth knapp über die Lippen.

„Madame, es tut mir Leid, das muss alles sehr schwer für Sie sein. Aber ich muss Ihnen einige Fragen stellen.“

„Dieser Kaffee schmeckt grässlich.“

Trotz der traurigen Situation und dem Häufchen Elend, das sie darstellte, musste Inspecteur Russeau lächeln.

Stimmt.“ Einem spontanen Impuls folgend, nahm ihr der Inspecteur den Kaffee wieder weg und stellte die beiden Becher auf den Tisch. „Kommen Sie, wir gehen einen anständigen Kaffee trinken.“

„Ich kann mich doch so nicht der Öffentlichkeit zeigen!“

„Sie sehen toll aus und das, obwohl Sie wohl den schlimmsten Morgen überhaupt durchleben.“

„Lügner.“ Doch Beth fühlte sich durch die Neckerei des Polizisten ein bisschen besser. Das letzte Taschentuch fest in den Händen, stand sie auf und folgte dem Polizisten nach Draussen. Nicht weit von der Polizeistation entfernt lag ein gemütliches kleines Café, dessen Tische der Privatsphäre zuliebe in kleinen Nischen standen. Obwohl nur ein paar wenige Gäste da waren, war Beth froh um diese kleinen Rückzugsmöglichkeiten. Der Kellner brachte auf ein Zeichen des Inspecteurs zwei grosse Tassen mit frischem, dampfendem Kaffee.

„Sie scheinen öfter hier zu sein.“

„Louis hat den besten Kaffee in der näheren Umgebung der Polizeistation. Wenn ich also die Möglichkeit habe, komme ich lieber hierher und trinke eine vernünftige Portion Koffein, als mich mit dem Polizeikaffee zu vergiften.“ Abrupt hielt er inne. „Das tut mir Leid, das war äusserst respektlos.“

Beth beschäftigte sich damit, den Kloss in ihrem Hals herunterzuschlucken und nickte nur.

Als sie nichts sagte, startete er noch einmal einen Versuch, eine einigermassen anständige Konversation aufzubauen und wenigstens ein bisschen eine persönliche und vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Er räusperte sich. „Sie können mich übrigens Jérémie nennen.“

Beth schaute von ihrer Tasse auf. Er bemerkte, dass ihre Augen nicht mehr ganz so rot waren.

„Beth.“ Nach kurzem Zögern hielt sie ihm ihre Hand hin und er schüttelte sie dankbar. Offenbar hatte sie ihm seinen Fauxpas verziehen und das Versöhnungsangebot angenommen. Damit schien ein weiterführendes Gespräch etwas einfacher.

„Es tut mir wirklich unendlich leid, was deiner Tante zugestossen ist und was du jetzt deswegen durchmachen musst.“

„Ich kann es einfach nicht glauben. Die Tatsache an sich ist doch schon grauenhaft genug, aber dass sie auch noch auf einem Friedhof gefunden wurde! Und ich hab zu Hause gesessen und in die Glotze gestarrt. Nicht einmal angerufen habe ich sie!

Jetzt einmal vorweg: Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Du kannst nichts dafür. Verstanden?“ Ernst sah Jérémie ihr in die Augen, bis sie nickte. „Gut. Nun zur Sache. Du sagst, sie kam am    Abend nicht wie verabredet nach Hause. Du hast sie nicht angerufen. Hat sie versucht dich anzurufen? Oder hat sie eine Nachricht in der Wohnung hinterlassen, die du vielleicht übersehen hast?

Beth dachte kurz nach. Schritt für Schritt ging sie in Gedanken die Abläufe des Abends noch einmal durch, aber sie kam immer zum selben Ergebnis. „Nein. Nein, da war keine Nachricht.

Okay. Wahrscheinlich konnte sie nichts hinterlassen, weil sie nicht mehr in die Wohnung zurückkam, als sie feststellte, dass sie die Verabredung mit dir nicht einzuhalten vermochte. Oder

„…sie konnte nicht in die Wohnung zurückkehren, weil sie schon tot war, beendete Beth Jérémies Satz.

„Ganz genau. Auch wenn es schwer fällt, wir müssen jetzt erst einmal abwarten, bis die Autopsieergebnisse vorliegen. Dann sehen wir weiter. Allerdings gibt es dennoch ein paar Fragen, die ich Ihnen jetzt schon stellen müsste.“

„Dir.“

„Wie bitte?“

„Wir waren beim du angekommen. Ich finde, das könnten wir beibehalten.“

„Oh, natürlich, tut mir Leid. Die Macht der Gewohnheit. Also, meinst du, du wärst bereit mir jetzt einige Antworten zu geben?“

„Ich denke schon.“

Jérémie zog die Schreibuntensilien, die er sich aus dem Revier mitgebracht hatte, zu sich heran.

„Ok, dein voller Name ist Elisabeth Clement, du bist in London geboren und lebst auch dort. Ist das richtig?“

„Ja das ist korrekt.“

„Warum bis du nach Nizza gekommen?“

„Meine Tante hatte den Beschluss gefasst, hier leben zu wollen. Nachdem ich das erfahren habe, dachte ich, ich könnte auch einige Zeit hier verbringen.“

„Wie lange wolltest du genau hier bleiben?“

„Einen Monat, vielleicht auch länger.“

„Wenn du dies so spontan entscheiden kannst, stellt sich mir natürlich die Frage, ob du in London keine Verpflichtungen hast?“

„Ich habe eben erst mein Studium an der Architectural Association Admissions abgeschlossen und wollte mich daran machen, meine Zukunft zu planen. Da eröffnete mir meine Tante ihren Entschluss und mir kam der Einfall, einige Zeit mit ihr zu gehen.“

„Es war also alleine dein Einfall?“

„Ja.“

„In der Zeit in London und nachfolgend während deinem Aufenthalt hier in Nizza, ist dir nichts Besonderes am Verhalten deiner Tante aufgefallen? Klagte sie über Schmerzen oder hatte sie Probleme?

„Nein, eigentlich nicht.“

„Eigentlich?“

„Naja, sie hatte in der ersten Woche nach ihrer Ankunft in Nizza einen Mann kennengelernt. Sie hat Gefallen an ihm gefunden, was auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien. Auf jeden Fall haben sie sich mehrfach getroffen. Wenn sie über ihn sprach, wurde sie manchmal rot und vor einem Treffen war die Nervosität deutlich zu spüren. Sie benahm sich wie ein frisch verliebter Teenager.“

Jérémie entging die Zärtlichkeit in ihrer Stimme nicht. Beinahe hatte er ein schlechtes Gewissen, nicht mehr Rücksicht auf ihre Gefühle nehmen zu können. Das war ihm schon lange nicht mehr passiert. „Hat sie dir den Namen dieses Mannes anvertraut?“

„Er heisst Henry. Mehr weiss ich leider nicht.“

„Es ist dir nicht bekannt wie er zum Nachnamen heisst oder wo er wohnt?“

„Nein, leider nicht.“

Wann und wo haben sie sich denn kennengelernt?“

„Am Montag ihrer Ankunftswoche. Sie erzählte mir, dass sie ihn am Morgen, beim Holen eines Kaffees für unterwegs getroffen hatte. Welches Kaffee das war, weiss ich nicht.

„Und er sprach sie einfach so an?“

„Nein, offenbar griffen die beiden gleichzeitig nach dem Zucker.“

„Sonst war nichts Auffälliges am Verhalten deiner Tante zu erkennen?“

„Nein.“

„Hat deine Tante noch von anderen Erlebnissen erzählt, die vor deiner Ankunft stattfanden?“

Beth musste überlegen. „Nein. Nicht so richtig. Obwohl… ich weiss nicht. Erzählt ist das falsche Wort. Eines Tages kam ich nach Hause und da stand ein Koffer vor der Tür. Es zierten ihn allerlei Stempel und Bänder, ich glaube, sogar eine Etikette von Shanghai klebte daran. Da ich zwar den Koffer als Dinas identifizieren, mir aber die vielen fremden Dinge daran nicht erklären konnte, fragte ich Dina, was es damit auf sich hatte. Sie sagte dann nur kurz angebunden, dass der Koffer nicht mit ihr in Nizza ankam. Sie scherzte dann noch über die augenscheinliche Reisefreudigkeit ihres Gepäcks und darüber, dass der Koffer sie wenigstens auf seinen Ausflug als Begleitung hätte mitnehmen können. Ich fragte sie nicht weiter, schliesslich kann es vorkommen, dass Gepäck nicht auf direktem Weg am Zielort eintrifft.

Das stimmt. Jérémie kritzelte etwas auf das Papier. „Wie ist in der Regel euer Tag verlaufen?“

„Naja, ich habe meistens bis ca. 10.00 Uhr morgens geschlafen. Dina hatte das Haus dann natürlich bereits verlassen, sie musste ja arbeiten. Dann ging ich manchmal einkaufen und kochte anschliessend für uns beide. Es sei denn, Dina war verabredet. In diesem Fall kochte ich entweder für mich alleine oder überhaupt nicht. Am Abend trafen wir uns dann meistens wieder in der Wohnung.“

„Wie hast du deine Tage herumgebracht?“

„Du hältst mich jetzt bestimmt für verrückt, aber ich habe viel Zeit auf den Friedhöfen hier verbracht. Ansonsten ging ich einkaufen, streifte durch die Gassen, klapperte die Sehenswürdigkeiten ab, legte mich an den Strand. Wie man es im Urlaub eben so macht.“

Jérémie machte sich Notizen. Auf diese Weise ging es noch lange zwei Stunden weiter. Er befragte Beth weiter über allerlei Dinge. Ihre Personalien, ihre Reise hierher, ihre Beweggründe, ihren bisherigen Aufenthalt, die Orte, die sie besucht hatte und die Menschen, der sie in dieser Zeit begegnet war.

Bereits nach kurzer Zeit hatte Beth schon das Gefühl, ihr Kopf rauche derart, dass sie mit dem nächsten Indianerstamm hätte Kontakt aufnehmen können.

Dann endlich legte Jérémie den Kugelschreiber weg. „Gut, ich denke das reicht für den Augenblick.“

„Darf ich jetzt nach Hause gehen?“ Vollkommen erschöpft lehnte sich Beth an die Wand.

„Ja, das darfst du. Ich werde dich anrufen, wenn ich Neuigkeiten habe. Soll ich dich nach Hause fahren?“

„Nein, ich denke, ein bisschen Bewegung und frische Luft um ein wenig den Kopf durchzulüften, wird mir gut tun. Aber ich danke dir für dein Angebot. Das ist wirklich sehr nett.“ Bei diesen Worten legte sie ihre Hand auf die seine und zuckte unwillkürlich wieder zurück, als sie sich der Intimität dieser Geste bewusst wurde. Hastig stand sie auf, nahm ihre Tasche und verabschiedete sich. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verliess sie das Lokal. Louis, der hinter seiner Theke ein Glas mit einem Tuch bearbeitete, als wäre es das Familiensilber, schaute ihr nach. Nachdem sich die Türe hinter ihr geschlossen hatte, wandte er sich an Jérémie. „Einen hübschen Hintern hat die Kleine.“

Jérémie, dem dies ebenfalls aufgefallen war, weil er ihr genauso nachgeschaut hatte wie Louis, schüttelte seufzend den Kopf. „Weißt du, Louis, unter anderen Umständen hätte ich sie wahrscheinlich schamlos angemacht.“ Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Aber sie hat im Augenblick einen ziemlich hohen Berg Scheisse abzutragen. Selbst ich habe genug Taktgefühl, mich in dieser Situation nicht an sie ran zu machen.“

„Und wenn der Berg beseitigt ist?“ Neugierig stellte Louis das längst trockene Glas weg und lehnte sich an die Theke.

„Noch bevor das geschehen ist, hat sie ihre sieben Sachen gepackt und ist wieder zurück in London. Frei nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn.“

„Junge, ich glaube dir kein Wort.“ Die Weisheit eines langjährigen Cafébesitzers blitzte in Louis’ Augen auf.

„Dann lässt du es eben.“ Jérémie stand auf, packte dabei seine Notizen unter den Arm und verliess das Lokal ebenfalls.

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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