Kapitel 26

 

„Was habt ihr in dem Haus gefunden?“ Inzwischen hatten sich Jérémie und Beth wieder in den vertrauten vier Wänden des Büros eingefunden. Die seltsame Begegnung schien völlig vergessen.

„Nichts. Und genau das war das Problem.“

„Wie meinst du das?“

„Ich hatte gehofft, wenigstens ein ärztliches Rezept für das Valium zu finden, schliesslich sollte sie ohne Rezept nicht auf regulärem Weg an ein solch heikles Medikament kommen, aber es war nichts dergleichen zu finden. Also bleiben drei Möglichkeiten. Erstens“, mit Hilfe der Finger begann Jérémie die Varianten aufzuzählen, “sie hat die Rezepte verschwinden lassen, um Spuren zu verwischen. Dies bedingt aber, dass sie die Tabletten nie selbst genommen hat, denn ansonsten würde sie mit der Arznei im Haus ohne Rezept erst recht verdächtig. Das Zweite wäre“, damit hob er den Zeigefinger an, dass sie an das Diazepam gekommen ist, ohne ein Rezept vorweisen zu müssen. Dies ist aber beinahe unmöglich. Somit können die ersten zwei Punkte ausgeschlossen werden. Bleibt also nur noch eins.“ Jérémies Mittelfinger gesellte sich im Rahmen einer bedeutungsschwangeren Pause zu den anderen beiden. „Der Schwarzmarkt.“

„Verstehe.

„Schön.“ Er ging zur Tür und rief nach Paul, der inzwischen wieder zurückgekommen war. „Paul, das ist Beth, die Nichte unserer Toten.“

„Guten Tag, Madame.“ Es war klar, dass Paul Beth bereits kannte, aber offiziell vorgestellt hatte man sie einander noch nicht.

An Beth gewandt, erklärte Jérémie, dass er Paul unter anderem angewiesen hatte, ein bisschen im Leben von Madame Larissa Depruit herumzuschnüffeln.

„Also, Paul, was hast du herausgefunden?“ Paul war es augenscheinlich unangenehmen, vor Beth sein Wissen zu offenbaren, dennoch protestierte er nicht.

„Madame Depruit scheint eine engagierte Dame zu sein. Sie organisiert Wohltätigkeitsveranstaltungen, wirkt bei solchen mit und manchmal erscheint sie auch an Galaabenden der etwas bedeutenderen Bevölkerung als geladener Gast. In die oberen Gesellschaftsschichten vorzudringen und dort Fuss zu fassen, ist ein schwieriges Unterfangen, aber auf mich wirkt es, als würde sie alles tun, um dazuzugehören. Ich könnte mir vorstellen, ihr Ziel ist die High Society von Monaco. Ansonsten gibt es über sie keine Auffälligkeiten. Keine Eintragungen, keine Verfahren, nicht einmal ein Strafzettel wegen Falschparkens. Schlicht eine saubere Akte.“

Jérémie dachte kurz darüber nach, wie sie im Verhörraum auf ihn gewirkt hatte. Sie war elegant gekleidet gewesen, gut frisiert, hatte gepflegte Nägel und den klassischen verräterischen Schimmer teurer Hautcrèmes, der von ihrem Kampf gegen das Alter zeugte. Dass sie sich ihm förmlich an den Hals geworfen hatte, schob er auf die Tatsache, dass sich eine betrogene Ehefrau verständlicherweise nach Bestätigung und Zärtlichkeit sehnt. Sie ist eine Frau, die sehr auf ein perfektes Auftreten in der Öffentlichkeit bedacht ist und möglicherweise alles dafür tun würde, dass der Schein gewahrt wird. Wenn herauskäme, dass ihr Ehemann eine Affäre hatte, die häusliche Perfektion zu zerbrechen droht und ihre Psyche ohne starke Medikamente nicht mehr zur Ruhe kommt, wäre alles, wofür sie gekämpft hatte und was sie bisher erreichte, ruiniert und auf der Gesellschaftsleiter müsste sie möglicherweise wieder ein paar Sprossen hinunterklettern.“

„Aber die Kategorie Reiche und Schöne leistet sich doch dann und wann mal ein Skandal, das ruiniert sie nicht zwingend.“

„Das ist richtig, aber wie du selbst sagst, es ruiniert sie nicht zwingend. Aber vor einem Imageschaden sind auch die Leute, die es schon geschafft haben, nicht gefeit. Stell dir dann mal vor, wie schnell diejenigen, die noch nicht ganz oben sind, beim geringsten Anlass zum Tratschen auch wieder ganz unten ankommen.“ Ernst schaute Jérémie Beth an. „Sie wäre nicht die erste, die aufgrund ihrer ehrgeizigen Pläne über Leichen geht.“

Dagegen wusste Beth nichts mehr einzuwenden. „Nur damit ich das richtig verstehe. Larissa Depruit soll meine Tante aufgrund dessen, dass ihre Affäre mit Henry Depruit einen Skandal hätte auslösen können, der sie wieder an den Anfang ihrer Bemühungen zurückgeworfen hätte, mit einem Sedativ vom Schwarzmarkt, per Spritze in den Hals, umgebracht haben?“

„Zugegeben, das mag für dich verrückt klingen, aber für mich ist es ein plausibles Motiv. Im Archiv liegen Akten über Morde, die wegen weit weniger begangen wurden.“

„Ah, dann macht es auch Sinn, dass Larissa nicht nur aus Vernunft ihre Drogen nicht selbst auf dem Schwarzmarkt geholt hat, sondern einen Unterhändler schickte. Ich denke, das war jemand, der nur für diese Shoppingtouren zuständig war und sonst nicht mit ihr Verbindung stand. Denn das Risiko wäre zu gross, mit einem Mann gesehen zu werden, bei dem die Möglichkeit bestand, dass man ihn mit illegalen Einkäufen auf dem Schwarzmarkt in Verbindung bringen könnte. Kombination geglückt?“

Nicht nur geglückt, ich bin sogar beeindruckt.“ Tatsächlich meinte Beth so etwas wie Anerkennung in seinen Zügen erkennen zu können. Zufrieden lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und liess ihr Gehirn auf Hochtouren weiterarbeiten.

„Stellt sich nur noch die Frage, wieso meine Tante den Nachnamen Alert benützte. Wusste sie womöglich von seiner Frau und wollte auf diese Weise die eigene Identität schützen?“

Das wäre möglich. Auf jeden Fall ist es gut denkbar. Hat sie sich dir gegenüber nie in diese Richtung geäussert?“

„Nein. Als Henry das erste Mal zum Gespräch wurde, erzählte sie, dass sie bei ihm zuhause gegessen und gekocht hätten. Da ging ich davon aus, dass er keine Frau hat, die daheim auf ihn wartet.

„Und wenn er sich eine Wohnung angemietet hat?“, gab Jérémie zu bedenken.

„Ein solches Verhalten würde aber zu einem Mann passen, der nicht zum ersten Mal eine Affäre hat.“ Um allfällige Lücken in den Ausführungen zu entdecken und auszumerzen, hatte Paul bisher schweigend den beiden zugehört. Jetzt klinkte auch er sich in das Gespräch mit ein.

„Ein interessanter Aspekt. Paul, vielleicht kannst du herausfinden, ob Henry noch eine Wohnung hat. Möglicherweise unterstellen wir ihm zu Unrecht, ein notorischer Fremdgeher zu sein. Es wäre schliesslich auch möglich, dass er nur bei einem Freund während dessen Ferienabwesenheit die Pflanzen giessen musste und nach der Bekanntschaft mit Dina die Wohnung als die seine ausgab, um ihr nicht sofort von der Ehefrau erzählen zu müssen. Oder so etwas in der Art.“

„Ich kümmere mich darum.“

„Gut, danke. Was haben wir noch?“

„Du müsstest, glaube ich, eher danach fragen, was uns fehlt. Soweit ich weiss, ist das alles Theorie. Wie steht es mit Beweisen?“

„Genau um die Beschaffung derer geht es jetzt. Paul?“

„Bin schon weg.“ Tatsächlich war er schon dabei die Türe des Büros wieder hinter sich zu schliessen. Damit waren Beth und Jérémie wieder alleine.

„Eines beunruhigt mich aber immer noch.“

„Was meinst du?“ Unverständnis spiegelte sich in Beths Mine.

„Beth, wieso waren in deiner Wohnung die Herdplatten an? Angenommen ich glaube dir und du hast nichts damit zu tun. Wer war es dann? Und welche Gründe hätte derjenige gehabt, dich aus dem Weg zu räumen? Die Dinger haben sich schliesslich kaum von selbst angestellt!“

„Du nimmst an, dass ich es nicht war?“ Beth war empört. „Sag mal, spinnst du? Ich habe keinerlei Interesse daran, meinem Leben ein Ende zu setzen. Meinst du nicht, ich würde mich noch weit vor einer solchen Verzweiflungstat gegen dein Verbot auflehnen, nach England zurückkehren und mich dort in gewohnter Umgebung der Trost spendenden Umarmung meiner Eltern anvertrauen?“

„Doch. Natürlich glaube ich nicht ernsthaft, dass du dir das selbst angetan haben könntest. Aber ich muss versuchen, alles zu bedenken und dann nach dem Ausschlussverfahren arbeiten. Da gehört nun mal ein möglicher Selbstmord mit dazu.“

„Verstehe. Den haben wir jetzt aber hoffentlich endgültig ausgeschlossen.“

„Kann ich gerne tun. Aber ich weiss nicht, ob mir die Möglichkeit, die jetzt noch offen steht, besser gefällt.“

Die Erkenntnis traf Beth wie ein Schlag. „Mein Gott.“ Es war nur noch ein leises Flüstern. Beth bekam eine Gänsehaut, denn jetzt erst verstand sie, was Jérémie schon lange andeutete.

„Beth, wenn das, was wir glauben stimmt, dann schwebst du in grösster Gefahr. Wir wissen nicht, ob die beiden Geschichten zusammenhängen, ich gehe aber davon aus. Es sitzt kein Verdächtiger in Haft und du bist noch am Leben, also ist der Plan, von wem auch immer, nicht aufgegangen, was bedeutet, er oder sie könnten noch einmal versuchen wollen, das Werk zu beenden.“

„Warum will mich jemand töten? Was habe ich denn getan?“

„Das weiss ich noch nicht. Es könnte schlicht daran liegen, dass du eine Verwandte von Dina bist und daher eine potentielle Gefahr für Henrys Treue darstellst.“

„Das ist doch vollkommen absurd.“ Die Situation erschien Beth dermassen unrealistisch, dass sie das Gefühl hatte, neben sich zu sitzen und dem ganzen Schauspiel als Gast beizuwohnen.

„Beth, nichts ist unmöglich.“

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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