Kapitel 57

 

Inspecteur, das müssen Sie sich ansehen!“ Während Susanna versuchte Jérémie verständlich zu machen, weshalb Beth nichts von der traurigen Vergangenheit ihrer Familie wusste, stolperte Paul mit dem Kopf tief über die Akte gebeugt in das Büro. Aufgeschreckt durch diese Unterbrechung verstummte das Gespräch augenblicklich. Jérémie schaute Paul gereizt und mitleidig zugleich an. Denn einerseits mochte er es nicht, wenn jemand einfach so in eine Unterhaltung hineinplatzte, aber andererseits wirkte Paul durch seine blinde Fortbewegung wie ein junger Welpe, der seine Gliedmassen noch nicht richtig unter Kontrolle hat.

„Was muss ich mir ansehen?“ Die Betonung in Jérémies Stimme liess Paul aufsehen. Wie meistens begriff er sofort, dass er seine Entdeckung möglichst schnell an den Mann bringen musste, ansonsten würde ihm sein unerwünschtes Eindringen eine Woche lang nicht verziehen werden und wenn er dann genau in dieser Woche nur einmal die traditionelle süsse Zwischenverpflegung vergessen würde, würde die Zeit bis zur Absolution um eine weitere Woche verlängert. Also beeilte er sich, Jérémie die Akte vorzulegen.

„Sehen Sie sich das an!“

Noch bevor Susanna ihrer Neugierde über den Grund von Pauls Aufregung nachgeben konnte, klingelte ihr Mobiltelefon. Sie klappte es auf und als sie den Namen auf dem Display las, war Pauls Entdeckung vergessen. „Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick.“ Noch während sie aufstand, nahm sie das Gespräch an. „Onkel Daniel?“

„Susanna, bist du gut angekommen?“

„Ja, aber frag das nicht, es könnte dich jemand hören!“

„Mädchen, glaubst du nicht, ich wüsste, wie so was zu laufen hat?“

Ein leichtes Lächeln schwang in Daniels Stimme mit, welches Susanna dazu brachte den Griff um das Telefon ein wenig zu lockern. „Hast du Neuigkeiten?“

„Ja, dazu noch gute. Die schriftliche Aussage dieser Larissa, dein fabelhafter Onkel, dessen langjährige Erfahrung und die vielen Leute, die ihm noch Gefallen schulden, haben dafür gesorgt, dass dieser Dr. Josh King in Gewahrsam genommen wurde. Es scheint ihm zu dämmern, dass er diesmal nicht mehr so leicht aus der Sache rauskommen wird, weshalb er sich höchstwahrscheinlich auf einen Deal einlässt, der unter anderem zur Folge hat, dass Jake und du entlastet werdet. Jake wird also auch bald wieder auf freiem Fuss sein.“

Susanna spürte, wie ihre Beine vor Erleichterung nachgaben. Schnell setzte sie sich auf das am nächsten stehende Möbel. Etwas erstaunt hob Irene ihren Kopf, um zu sehen, was der Grund für den plötzlichen Schatten auf ihrem Pult war. Als sie Susannas Gesicht erblickte, erhob sie sich erschrocken und eilte in die kleine Küche. Schnell wie der Wind kam sie mit einem Glas Wasser zurück und ehe Susanna sichs versah, hielt sie ein Glas Wasser in Händen. Verblüfft blinzelnd nickte Susanna Irene zum Dank zu und nahm einen grossen Schluck. „Das ist gut, sehr gut!“ Sie wusste nicht, ob sie den Schluck frischen Wassers, die gute Nachricht oder beides zusammen meinte.

„Susanna, das ist aber nicht alles.“

Auf einmal schien Daniel besorgt, was Susanna unweigerlich aufhorchen liess. „Du machst mir Angst. Was hast du noch?“

 

„Wir haben ein bisschen herumgestöbert um herauszufinden, wer bei dem Hauseinsturz damals alles umgekommen ist. Dabei sind wir auf diese Frau gestossen.“ Paul deutete auf ein Bild in seiner Akte. Ein kurzer Blick reichte aus. Jede Faser von Jérémies Körper schien sich gleichzeitig anzuspannen. „Das Kreuz…“

Während Susanna in das Büro zurückkehrte, steckte sie sich das Mobiltelefon in die Hosentasche und achtete dabei nicht auf die am Tisch stehenden Herren. „Das war mein Anwalt. Jake kommt bald frei. Larissas schriftliche Aussage und ein bisschen Druck haben Wunder gewirkt. Aber er hat noch etwas anderes herausgefunden. Man hat uns damals am Zoll nicht einfach so aus der Schlange geholt. Das Zollamt hatte einen Tipp bekommen und zwar aus Frankreich. Irgendjemand hier wusste, dass wir Beht zu Hilfe eilen würden und wollte das verhindern. Susanna hob den Kopf und sah, wie Jérémie und Paul einen vielsagenden Blick tauschten. Erst dann registrierte sie, wie sich die Stimmung im Raum verändert hatte. Noch bevor Jérémie etwas sagen konnte, ging Susanna mit schnellen Schritten auf den Schreibtisch zu und schaute sich das dort liegende Bild an.

„Das war die Haushälterin von Jakes Bruder Pierre, aber warum trägt sie…“ Nach Antworten heischend blickte sie verwirrt von Paul zu Jérémie und wieder zurück. „Was hat das zu bedeuten?“

Ob es nun der mütterliche Instinkt war oder die besorgten Mienen von Paul und Jérémie, war anschliessend nicht mehr herauszufinden. Doch alle drei begannen gleichzeitig mit demselben Satz. „Wir müssen Beth finden.“

Dann brach die Hektik los. Jérémie und Paul stürmten dicht gefolgt von Susanna aus dem Büro. Jérémie bellte einige Anweisungen in den Raum. „Aktueller Stand betreffend Suche nach Beth?“

„Bahnhöfe, Pensionen, Hotels, Flughafen, Autovermietungen, Taxis. Nichts, kam die Antwort umgehend zurück. Jérémie nickte und floh förmlich aus dem Revier. Paul wartete bereits mit laufendem Motor vor der Tür. Als Jérémie einstieg, stellte er fest, dass Susanna bereits im Wagen sass. „Was sucht sie hier?“

Sie sitzt direkt hinter Ihnen und kann Sie hören, also können Sie sie auch direkt ansprechen. Ich komme mit. Sie denken doch nicht im Ernst, ich warte hier, bis Sie meine Tochter gefunden haben!

Die autoritäre Entschlossenheit, wie sie nur eine Mutter in Sorge um ihr Kind an den Tag legen konnte, sprang Jérémie förmlich an. Das war auch der Grund, warum er keine Diskussion vom Zaun brach. Er wusste, dass er bei einem Widerspruch auf verlorenem Posten kämpfen würde. Also drehte er sich zu Paul und bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick, der deutlich fragte, wie er das hatte zulassen können. Dieser hob aber nur entschuldigend die Schultern und drückte dann das Gaspedal durch.

 

 

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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