Kapitel 28

 

Am nächsten Tag traf Beth alleine in der Polizeistation ein.

„Hy Irene! Hast du eigentlich auch mal frei?“

„Klar, immer wenn du nicht hinsiehst!“ Mit einem Augenzwinkern unterstrich sie ihre Aussage.

So unbefangen wir möglich erwiderte Beth ihr Lächeln. „Ist Jérémie schon da?“

Schon da gewesen. Als ich kam, war er unten im Kraftraum, der Kerl war so verschwitzt, keine Ahnung wie lange er schon trainiert hatte.“

Beth war nicht ganz klar, weshalb Irene ihr das erzählte, also stellte sie sich taub. „Wann kommt er wieder?“

Er wurde zu einem Diebstahl gerufen. Ich weiss nicht genau, wann er zurückkommt.“

„Ach so. Na gut, dann schau ich einfach später wieder rein. Bis dann!“

„Oh, warte noch!“

Beth drehte sich wieder zu Irene um. „Ja?“

„Das ist vorhin noch gekommen. Es handelt sich, glaube ich, um die Sachen, die deine Tante bei sich trug, als sie gefunden wurde. Ich dachte, du hättest sie vielleicht gerne. Jérémie hat es zwar noch nicht gesehen, aber weil von allem ein Foto geschossen wurde, denke ich, ist es in Ordnung, wenn du den Umschlag mitnimmst.“

„Oh, wow. Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Aber, ist es wirklich okay? Ich meine, sind alle nötigen Untersuchungen gemacht worden? Nicht, dass ich noch Fingerabdrücke verwische oder so etwas.“

„Keine Angst, wenn das so wäre, wären die Artikel nicht freigegeben worden. Nur zu, nimm es.“ Auffordernd hielt sie Beth den Umschlag hin.

Zögernd streckte diese ihre Hände aus und Griff danach. „Danke Irene.“

Irene nickte nur aufmunternd.

 

Natürlich war Madeleine nicht weit, als Beth wieder aus der Tür raus war. „Er war also lange im Kraftraum? Warum das denn?“

„Och, da gibt es viele Gründe. Vorwürfe, verwirrende Gedanken, ein schönes Erlebnis usw.“ Irene zuckte mit den Schultern. „Wer weiss das schon so genau?“

„Gib es zu, du hast als Kupplerin versagt.“

„Noch ist es nicht vorbei.“

 

Den Umschlag fest unter die Arme geklemmt, eilte Beth durch die Strassen. Sie wollte so schnell wie möglich ins Haus zurück, um ihre Ruhe zu haben. Dabei bemerkte sie nicht, wie sie an einem Mann vorbei eilte, der ihr betont unauffällig nachschaute. Er richtete seinen hochgeschlagenen Kragen neu, um sein Gesicht besser zu verbergen, die grosse Sonnenbrille tat das Übrige. Dann setzte er sich in Bewegung. Langsam aber stetig heftete er sich an Beths Fersen. Als diese an ihrem Ziel ankam, war sie sich nicht bewusst, wie froh sie darüber sein konnte.

 

Beth setzte sich mit einer Tasse Kaffee an den Tisch auf der Veranda. Bevor sie den Umschlag öffnete, drehte sie ihn unschlüssig in ihren Händen herum. Es war ein seltsames Gefühl, gleich die Dinge in Händen zu halten, die Dina als letztes bei sich hatte. Beth fasste sich ein Herz und öffnete den braunen Beutel. Es glitten einige Gegenstände auf den Tisch, die einen Wiedererkennungseffekt hervorriefen. Die Uhr, der Ring und die Ohrringe kullerten auf die Platte. Dann folgten die Brieftasche, der Kamm und der kleine Schminkspiegel. Dazu kamen noch eine Wimperntusche und ein Lippenstift. Viel war es nicht, stellte Beth fest. Aber es war üblich für ihre Tante, dass sie nur das Allernötigste bei sich hatte und nach Möglichkeit auch nur mit einer Miniaturausgabe einer Handtasche unterwegs war. Als Beth den Umschlag weglegen wollte, blitzte durch die Bewegung etwas in der Sonne auf. Um sehen zu können, was es war, drückte sie den Umschlag an den Faltkanten zusammen, so dass er sich bis auf den Boden öffnete. Der Gegenstand, der sich in der Verpackung verhakt hatte, fiel auf den Tisch. Als Beth ihn erkannte, hob sie ihn auf. Zärtlich liess sie die Kette durch die Finger gleiten, während sie das daran hängende Kreuz betrachtete.

„Dich hätte ich beinahe vergessen.“ Gedankenverloren legte sie das Kreuz wieder weg. Einen Gegenstand nach dem anderen nahm sie in die Hände und betrachtete ihn eingehend, während Erinnerungen wie ein sanfter Wind um sie herumtanzten. Das letzte Stück war die Brieftasche. Etwas verwundert, dass jene fein säuberlich eingeräumt war, obwohl Irene gesagt hatte, dass die Polizei Fotos von jedem Artikel geschossen hatte, öffnete Beth sie und nahm jede Plastik- und Papierkarte heraus. Einige Quittungen von kleinen Einkäufen und Papierschnipsel beförderte sie ebenfalls zu Tage. Systematisch arbeitete sich Beth in der Brieftasche von vorne nach hinten. Sie wollte das Portemonnaie bereits wieder schliessen, als ihre Finger über eine Wölbung im Futter glitten. Neugierig schaute Beth nach und entdeckte einen Riss im Futter des Notenfachs. Vorsichtig tastete sie mit dem kleinen Finger nach dem darin verborgenen Gegenstand und beförderte ein schmuddelig wirkendes Stück Papier zutage, das offenbar in das Futter gerutscht war. Erstaunt stellte sie fest, dass es sich um ein zusammengelegtes Foto handelte. Eilig faltete sie es auf und erkannte ihre Tante trotz den weissen Streifen, die das Falten hinterlassen hatte. Unweigerlich fragte sie sich, ob dieses Foto wohl auch bei der Polizei auf der Liste der Effekten aufgeführt worden oder ob es verborgen geblieben war. Nach eingehender Betrachtung nahm Beth die Tatsache, dass ihre Tante das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte und neben einem grellrosa Lippenstift auffällig grosse Ohrringe trug, ein wenig erstaunt auf. So hatte sie sie noch nie gesehen, doch Beth war der Überzeugung, dass zum Zeitpunkt der Aufnahme eine ausreichende Begründung für ein solch fürchterliches Outfit bestanden hatte. Den Mann neben ihr zierte eine etwas altmodische Frisur, ansonsten schien er ziemlich gutaussehend zu sein, was nicht nur an dem Zahnpastalächeln liegen konnte. Dieses Bild zu sehen, versetzte Beth einen Stich, denn beide schienen sehr glücklich zu sein. Bei genauerer Betrachtung des Hintergrundes fiel ihr auf, dass das Foto nicht in England gemacht worden war. Dennoch kam ich der Mann auf dem Bild irgendwie bekannt vor, sie vermochte ihn aber nicht einzuordnen. Dann fiel es ihr ein. Der Schnappschuss war vor dem Blumenmarkt in Nizza entstanden.

Dann bist du also Henry. Freut mich ausserordentlich, Ihnen endlich ein reales Gesicht zuteilen zu können, murmelte sie und faltete das Bild wieder zusammen. Dann räumte sie den Tisch wieder auf und verstaute die Sachen in ihrem Zimmer.

Um in die Polizeistation zurückzukehren, fühlte sie sich viel zu aufgewühlt. Also entschloss sie sich, wieder einmal auf dem Schlossberg zu spazieren, um dort ihre Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen.

 

 

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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