Kapitel 51
Silvan öffnete die Tür und wollte seinen Augen nicht trauen. „Was ist denn mit dir passiert? Du atmest, als wäre eine ganze Büffelherde hinter dir her!“
„Keine Büffel, aber Bullen. Darf ich reinkommen?“
„Oh, entschuldige meine Unhöflichkeit!“ Silvan trat zur Seite. „Bitte.“
„Danke.“ Langsam beruhigte sich der Puls wieder und als die Tasche schwer auf dem Boden landete, ging es Beth schon etwas besser.
„Setz dich.“ Silvan kam hinter ihr in das Wohnzimmer und wies ihr den Platz auf dem bequem wirkenden Sofa zu. Dann ging er in die Küche. Genauso schnell wie er verschwunden war, kam er auch wieder zurück. Bewaffnet mit einer Flasche Wasser, Wein und einem klaren Getränk in einer Flasche ohne Etikett. Beth vermutete etwas Hochprozentiges aus Eigenproduktion. Als Silvan Beths Blick bemerkte, hob er entschuldigend die Schultern. „Keine Angst, ich habe nichts Unmoralisches vor. Es mag vielleicht nicht so aussehen, aber es ist nicht meine Art, Frauenbesuch gleich nach ihrem Eintreten mit Schnaps gefügig zu machen.“
„Tatsächlich? Wie lange wartest du denn normalerweise mit diesem Schritt? Zehn-, zwanzig Minuten?“
Ein leichtes Lächeln umspielte Beths Lippen, was Silvan beruhigte. Ganz beiläufig sagte er deshalb: „Ne, ich lass ihnen schon so ungefähr eine Stunde.“ Er grinste sie frech von der Seite an. Dann machte das Lächeln einer Mischung aus Besorgnis und Wohltätigkeit Platz. „Aber im Ernst, so wie du jetzt hier angekommen bist, dachte ich, du könntest einen guten Schluck brauchen, bevor du mir dann erzählst, was dich plagt.“
„Sehe ich so schlimm aus?“
„Du siehst aus wie ein in die Enge getriebenes Reh. Weit aufgerissene Augen, gehetzte Körperhaltung, gejagte Atmung. Also entweder hattest du ein absolut übles Date oder du läufst vor etwas davon.“
Jetzt war es an Beth entschuldigend die Schultern zu heben. „Ich nehme gerne einen Schluck von dem Selbstgebrannten.“
„Braves Bambi.“ Silvan schenkte einen grosszügigen Schluck in ein normales Wasserglas ein. Er wollte noch eine Warnung aussprechen, da war es aber schon zu spät. Beth sass ihm mit hochrotem Kopf gegenüber und hustete, als gäbe es kein Morgen. Keuchend japste sie nach Luft. „Das… ist…“ Ein erneuter Hustenanfall rüttelte sie durch. „Teufelszeug… Brennt wie Feuer…“
„Ich hätte dich gewarnt, aber du musstest das Glas ja unbedingt ansetzen, als wärst du zehn Tage durch die Wüste geirrt!“ Sosehr er sich auch bemühte, jetzt konnte Silvan sich einfach nicht mehr beherrschen. Das Lachen, das ihn in der Kehle kitzelte brach mit voller Kraft aus ihm heraus, bis sein Gesicht dieselbe Farbe angenommen hatte wie das von Beth.
Geduldig wartete Beth, bis sein Anfall vorbei war. „Wieder gut? Ich scheine auf dich ja eine tierisch amüsante Wirkung zu haben.“
„Entschuldige, ich wollte dich nicht auslachen, aber zugegeben, ich habe lange nicht mehr so gelacht.“ Silvan setzte sich ihr gegenüber und schenkte sich selbst ein Glas ein. „Prost!“
„Auf dieses Teufelszeug.“ Sie erhoben die Gläser und nahmen beide nur ein vorsichtiges Schlückchen.
„Mein Onkel hat diesen Grappa gemacht. Es ist wirklich ein Teufelszeug, aber es wirkt Wunder.“
Tatsächlich wurde Beth bereits wohlig warm. „In kleinen Schlucken ist er auch sehr lecker.“ Sie kam nicht umhin, ebenfalls über die Komik der Situation zu lächeln.
„Also, was treibt dich hierher?“
„Ach, eigentlich nichts. Darf ich denn nicht einfach einen alten Freund besuchen?“
„Sicher. Aber auch wenn du mir ans Herz gewachsen bist, als alte Freunde können wir uns meiner Meinung nach nicht bezeichnen und normalerweise sehen spontane Besucher auch nicht so abgehetzt aus. Da du bereits erwähnt hast, dass die Polizei hinter dir her ist und ich dir folglich in diesem Moment Unterschlupf gewähre, brauche ich einen Grund, um nicht zum Telefon zu greifen und dich zu verpetzen. Also?“
Obwohl Silvan nicht danach klang, als würde er das wirklich tun, sah Beth ein, dass er Recht hatte, also erzählte sie ihm die ganze Geschichte. „Nun, ich habe dann auch schon im Zug gesessen, als mir das Päckchen mit Dinas Sachen wieder einfiel. Ganz spontan sprang ich also wieder aus dem Zug heraus und ging zu Jérémies Haus. Da ich noch den Schlüssel hatte, war es ein Leichtes, an das Päckchen heranzukommen. Doch gerade als ich das Zimmer verlassen wollte, hörte ich, wie die Haustür ins Schloss fiel.“
„Jérémie?“ Silvan hatte ihren Ausführungen gebannt gelauscht.
„Ganz genau. Ich schlich zur Treppe, um zu sehen, wohin er ging. Als ich ihn in die Küche marschieren sah, huschte ich die Treppe hinunter und aus dem Haus. Im Augenwinkel konnte ich noch eine Bewegung sehen, weshalb ich schon dachte, er hätte mich erwischt und alles wäre vorbei. Aber Tatsache ist, dass ich das Haus unbemerkt wieder verlassen konnte. Wie vom Pferd gebissen rannte ich los. Erst als ich vor diesem Wohnblock ankam, merkte ich welches Ziel ich mir unterbewusst ausgesucht hatte.“ Beth senkte den Blick und presste die Lippen aufeinander. „Entschuldige, dass ich dich da mit rein ziehe.“
„Weißt du, das ist eigentlich ganz okay so. Ich habe mir immer gewünscht, Teil von einem Abenteuer zu werden. Das ist jetzt wohl meine Chance. Aber was ich nicht ganz verstehe, wieso rennst du vor Jérémie davon?“
„Ich kann ihn im Augenblick einfach nicht sehen. Kennst du die Situation, wenn man sich als Kind riesig auf die Eiscreme gefreut hatte und dann fällt sie einem beim nächsten Schritt auf den Boden? Kannst du dich an das überwältigende Gefühl der Enttäuschung erinnern? Daran, dass du geradewegs zu den Eltern gerannt bist, damit sie dich in den Arm nehmen und Trost spenden? Dir sagen, dass es nicht so schlimm ist und dann irgendwie immer dafür sorgten, dass die Enttäuschung nicht mehr ganz so übermächtig war?“ Beth sah Silvan ernst an.
Er musste nur kurz nachdenken. „Erzähl nicht weiter, sonst fang ich gleich an zu heulen.“
„Du erinnerst dich also an das Gefühl?“
„Und ob! Mir flog einmal ein Luftballon davon, gleich nachdem ihn mein Vater mir gekauft hatte. Ich heulte wie ein Schlosshund. Und wenn ich so zurückdenke, muss das eine einschlägige Erfahrung gewesen sein, sonst wüsste ich das heute wohl kaum noch so, als wäre es erst gestern gewesen.“
„Ungefähr so fühle ich mich, wenn ich an Jérémie denke. Nur dass der Luftballon das Gefühl von Vertrauen und Sicherheit war, das mit der Verhaftung meiner Eltern davonflog und eine monströse Enttäuschung hinterliess. Ich kann im Moment einfach nicht.“
Ein wissendes Grinsen breitete sich auf einmal auf Silvans Gesicht aus, das nicht unbemerkt blieb.
„Was?“, fragte Beth, nachdem sie es entdeckt hatte.
„Sag bloss, du hast keine Ahnung.“
„Ich habe keine Ahnung. Was ist los?“ Allmählich wurde Beth nervös und ungeduldig. Sie mochte es nicht, wenn ihr jemand das Gefühl gab, dass sie etwas wissen musste, worauf sie aber von selbst nicht kam.
„Es hat dich eiskalt erwischt!“
„Das kann man so sagen.“ Zähneknirschend nahm Beth ihr Glas wieder in die Hand.
„Nein, ich glaube, du verstehst nicht ganz.“ Milde lächelnd, als hätte Silvan es mit einem dummen kleinen Mädchen zu tun, suchte er den Blickkontakt. „Ich kanns zwar nicht ganz verstehen, denn ich mag den Kerl nicht besonders, aber du dafür scheinbar umso mehr. Du hast dich Hals über Kopf in ihn verliebt.“
Beth wäre beinahe das Glas aus der Hand gefallen. „Sag mal, spinnst du?“ Empört sah sie auf.
„Ich bin ungeschickt veranlagt und manchmal auch etwas schwer von Begriff, aber in diesem Fall kann mir niemand etwas vormachen.“
„Ich sag dir jetzt etwas, mein Lieber. Du bist vollkommen im Unrecht. Dieser Typ ist so etwas von arrogant, stur und verbohrt, das hält keine Frau aus. Kein Wunder, ist seine Verlobte auf und davon!“ Obwohl Jérémie das natürlich nicht gehört hatte, biss sich Beth auf die Lippen. Diese Aussage war unfair gewesen und das wusste sie auch.
„Hunde, die bellen, beissen nicht. Ein Sprichwort, das mir jetzt sehr passend erscheint. Aber gut, irgendwann wirst du merken, dass ich richtig liege und wenn es soweit ist, wirst du bestimmt an mich denken.“ Silvan lehnte sich auf seinem Sessel eine wenig nach vorne. „Und was hast du jetzt vor?“
„Ich dachte, ich könnte bei dir untertauchen, bis mir etwas einfällt…“ Mit flehendem Blick versuchte Beth an Silvans Gewissen zu appellieren. Dessen Reaktion fiel aber nicht unbedingt so aus, wie Beth es sich ausgemalt hatte. Zuerst verschluckte er sich an seinem Grappa und bekam dann eine mindestens so intensive Hustenattacke wie Beth, bevor sie wusste, wie stark das Getränk war.
„Das geht nicht! Kannst du nicht in ein Hotel gehen? Ich meine, es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis die Bullen bei mir auftauchen, um nach dir zu suchen!“ Im Rahmen des Hustenanfalls stiess er die Worte nur gepresst hervor.
„Daran habe ich auch schon gedacht. Aber Silvan, es wäre nur eine Nacht. Morgen verschwinde ich. Versprochen. Ausserdem hast du doch gesagt, du wolltest schon immer Teil eines Abenteuers sein, wenn du mir noch einmal hilfst, wärst du sogar so eine Art Held in der ganzen Geschichte.“
Damit hatte sie den richtigen Knopf gedrückt. Das Kind in Silvan vollführte bereits Freudensprünge, während der Erwachsene noch mit den Zweifeln haderte.
„Na gut. Aber nur eine Nacht.“ Ernst streckte er den Zeigefinger in die Luft. Einem Impuls folgend sprang Beth auf und umarmte Silvan zum Zeichen ihrer Dankbarkeit. Verlegen und auch etwas unbeholfen tätschelte Silvan ihren Rücken und löste sich wieder von ihr. „Nun, ist schon okay.“
Als Beth zu ihm aufsah, bemerkte sie, dass er einen signalroten Kopf hatte. In Anbetracht dessen, dass er immer grosse Reden geschwungen und keine Flirtmöglichkeit ausgelassen hatte, als sie sich sahen, fand sie diese spontane Reaktion einfach nur süss.
„Nimm es mir nicht übel, aber du warst doch bereits in den Zug eingestiegen. Warum bleibst du jetzt trotzdem?“
„Ich habe jetzt keinen Zug mehr und ein Flugticket bekomme ich nicht. Nachdem ich mich jetzt auch ein wenig beruhigt habe, habe ich den Plan ein Taxi zu nehmen, verworfen.“
„Warum bist du nicht trotzdem an den Flughafen gefahren und hast dir dort ein Auto gemietet?“
„Weil ich meine gesamten Personalien hätte angeben müssen. Die anonymsten Arten mich aus dem Staub zu machen, sind Taxis und Züge.“
„Aha. Klingt einleuchtend, aber auch paranoid.“
„Ja, darauf bin ich auch schon gekommen.“
„Du wärst eine hervorragende Verbrecherin.“
„Danke für das Kompliment. Aber um als perfekte Verbrecherin zu gelten, bin ich doch noch zu sichtbar. Ein Profi spürt mich nach wie vor schneller auf, als mir lieb ist.“
„Wenn du Jérémie ansprichst, glaube ich das auch. Dir wird nicht viel Zeit bleiben, wenn er erst einmal bemerkt hat, was du vor hast.“