Kapitel 14
Wieder zurück vor der Wohnung steckte Beth den Schlüssel in das Schloss und versuchte ihn vergeblich zu drehen. „Was ist denn jetzt wieder los?“ Verärgert rüttelte sie an der Tür und versuchte auf alle möglichen Arten den Schlüssel zu drehen, um die Tür dazu zu bringen, sich zu öffnen. „Ich wandere nach Monaco aus. Der Morgen hier verlief nicht unbedingt rosig, als ich für den Tag die Stadt verlassen hatte, lief alles glatt und kaum bin ich wieder da, geht wieder alles schief.“ Ein erneuter Ruck an der Tür und sie schwang endlich auf. Verdutzt stand Beth vor dem offenen Eingang. „Geht doch!“ Nach kurzem Zögern trat sie ein und schloss die Tür wieder. Erneut nahm sie den Kampf mit dem Schloss auf. „So du Ding, wir beide müssen miteinander klar kommen, sonst wirst du ersetzt. Verstanden?“ Als hätte das Schloss begriffen, liess es sich anstandslos bedienen. Abgesehen davon, dass Beth die Welt nicht mehr verstand, war sie zufrieden. Sie ging ins Wohnzimmer, legte ihre Tasche auf den Tisch und marschierte vom Hunger getrieben weiter in die Küche. Wieder einmal war es der Anrufbeantworter, der mit der roten Anzeige ihre Aufmerksamkeit erregte. Die angezeigte Anzahl neuer Nachrichten konnte sie kaum glauben. Sie drückte die Play-Taste. „Sie haben zehn neue Sprachnachrichten“, krächzte die Stimme aus dem Lautsprecher.
„Das kann doch nicht sein“, flüsterte Beth. Auf einmal wurde ihre Kehle staubtrocken. Sie begann Nachricht für Nachricht abzuhören. Abwechselnd hörte sie die Stimme ihrer Mutter und dann die ihres Vaters.
„Beth, Liebling, wir wurden aufgehalten und werden nicht so schnell bei dir sein, wie wir gehofft hatten. Ich melde mich so bald wie möglich wieder. Du darfst dir aber keine Sorgen machen, Papa und mir geht es gut!“
Dann war ihr Vater zu hören. „Liebes, es ist eine lange Geschichte, die ich dir gerne persönlich erzählen möchte. Wenn alles durchgestanden ist, werden wir bestimmt schallend darüber lachen. Jedenfalls darfst du dich nicht beunruhigen lassen von dem was ich dir jetzt sage - deine Mutter und ich sind im Gefängnis. Aber mach dir bitte keine Gedanken, es geht uns beiden gut. Es lief einiges schief und wir wissen nicht, wann wir es zu dir schaffen, aber ich verspreche dir, dass wir so bald wie möglich da sein werden. Ich muss jetzt auflegen. Ich melde mich bald wieder, dann weiss ich bestimmt Genaueres.“ Dann war ein Klicken auf dem Band. Er hatte aufgelegt. Beth konnte es nicht fassen. Sie hörte jede einzelne Nachricht ab. Anstatt mehr zu erfahren, wurden die Informationen nur dürftiger, wenn das überhaupt noch möglich war. Dazu kam, dass von Nachricht zu Nachricht der Tonfall beider immer ungeduldiger und wütender wurde.
Das war wieder einmal typisch ihre Familie. Hatten sie wirklich das Gefühl, sie würde sich keine Gedanken machen, wenn sie hörte, dass ihre Eltern im Knast sassen? Was dachten sie sich dabei einfach frisch fröhlich auf das Tonband zu plaudern als wären sie Bonny und Clyde? Keiner der beiden hatte es für nötig gehalten, ihr zu sagen, was geschehen war oder in welchem Gefängnis sie sassen. Das ging wirklich zu weit. Und was sollte diese Festnetztelefoniererei? Beide kannten die Nummer des Mobiltelefons auswendig.
„Scheisse!“ Beth rannte zu ihrer Handtasche und zog ihr Telefon heraus. Der Blick auf das fröhlich leuchtende Display entlockte ihr einen erneuten Fluch. Sieben Anrufe in Abwesenheit. Es wunderte sie in Anbetracht der vergangenen Tage nicht sonderlich, dennoch ärgerte sich Beth darüber, dass sie sich nicht erinnern konnte, das Telefon auf lautlos gestellt zu haben. Aber die kleine durchgestrichene Musiknote oben rechts im Bild belegte ihr Handeln eindeutig.
„Ok, jetzt bloss nicht verzweifeln, nicht durchdrehen, nicht in hysterische und auch nicht in Wutanfälle ausbrechen. Das hilft nicht, das hält nur auf. Atmen nicht vergessen, keine Panik. Hinsetzen, nachdenken.“ Beth kam sich zwar blöd vor, mit sich selbst zu sprechen, als würde sie unter einer Persönlichkeitsstörung leiden, aber sie schaffte es damit tatsächlich ihren Puls etwas zu senken und die Atmung zu verlangsamen.
„Gut. Ich muss mit meinen Eltern sprechen, ich kann nicht warten, bis sie sich wieder zu melden versuchen. Möglicherweise verpasse ich sie dann wieder. Ich brauche aber Hilfe, weil sie mir, wieso auch immer, nicht gesagt haben, wo sie sich aufhalten.“ Sie dachte einen Moment ruhig nach. Dann kam ihr der zündende Gedanke. „Jérémie.“ Sofort sprang sie auf und zog die Visitenkarte, die ihr Jérémie gegeben hatte, hervor. Ihre Finger flogen in Windeseile über die Tasten des Telefons. Inständig hoffte sie, dass Jérémie auch zu dieser unchristlichen Stunde noch in seinem Büro sitzen würde.
„Da muss jemand aber ein dringendes Bedürfnis haben, zu leiden, wenn er mich im Kraftraum stört.“ Jérémie drückte den Stopp-Knopf am Laufband und wischte sich mit dem Handtuch, das er um seinen Hals gelegt hatte, den Schweiss von der Stirn, dann ging er zum Telefon.
„Ja?“
„Jérémie?“ Ohne eine Antwort abzuwarten sprach Beth weiter. „Ich brauche deine Hilfe.“
„Zuerst einmal wollen wir die guten Manieren nicht vergessen. Also: Hallo Beth. Geht es dir besser?“
„Jérémie, ich bin ganz und gar nicht zum Scherzen aufgelegt. Ich brauche dich als den Profi, der du bist.“
„Wow.“ Er überlegte sich, dass er das von Frauen durchaus schon gehört hatte, aber normalerweise in anderen Zusammenhängen. „Beth, du hast mich vom Laufband geholt, meine Laune ist also auch im Keller. Das kannst du mir glauben. Worum geht es?“
„Meine Eltern. Sie sind im Gefängnis und ich muss mit ihnen sprechen.“
„Was?“ Jetzt hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. „Jetzt mal langsam. Deine Eltern sind im Gefängnis? Woher weißt du das?“
„Sie haben mich mehrfach auf dem Mobiltelefon und auf dem Festnetztelefon angerufen. Ich war aber nicht zuhause und das Mobiltelefon habe ich nicht gehört. Als ich nach Hause kam, hatte ich mehrere Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, aus denen hervorging, dass sie im Gefängnis sind und dass es ihnen gut geht.“
„Ich gehe davon aus, dass sie dir nicht gesagt haben, in welchem Gefängnis sie sind, in welchem Ort der Knast steht und ebenfalls kann ich wohl die Frage nach einer Rufnummer mit nein beantworten. Richtig?“
„So ist es. Die Rufnummer war unbekannt und Namen haben sie keine genannt. Nicht einmal das Land haben sie gesagt“, rief Beth in einem Anflug von Verzweiflung etwas lauter als beabsichtigt aus.
„Beruhige dich. Ich werde dir natürlich helfen. Wann kannst du auf dem Revier sein? Ich werde hier auf dich warten und mir etwas überlegen.“
„Aber wenn sie noch einmal versuchen zu Hause anzurufen?“
„Sie haben deine Mobilnummer, sie werden es als erstes dort versuchen, in der Hoffnung, dass du es immer bei dir hast. Aber natürlich musst du es laut stellen. Hast du das getan?“
„Ja.“
„Sehr schön. Ich habe hier die besseren Möglichkeiten, dir zu helfen. Also komm hierher. Ausserdem habe ich den Verdacht, dass das Stillsitzen und Warten nicht in deiner Natur liegt. Dir ist meiner Meinung nach besser geholfen, wenn du dich nützlich machen kannst. Und das geht am besten, wenn du mir hier hilfst. Liege ich mit dieser Annahme richtig?“
Beth antwortete nicht sofort. Sie liess sich das Gesagte durch den Kopf gehen, musste aber einsehen, dass Jérémie absolut richtig lag.
„Ich komme so schnell ich kann.“
Sie legten beide auf. Beth schnappte sich Jacke und Tasche und ging zur Tür. Im Hausgang blieb sie kurz stehen und drehte sich zum Türschloss um. „Wehe du klemmst wieder, wenn ich zurückkomme.“ Zischte sie, winkte drohend mit dem Zeigefinger in die Richtung des Schlosses und verliess dann das Haus.
Zehn Minuten später legte sie ihre Jacke auf den Stuhl in Jérémies Büro.
„Also, wie sieht dein Plan aus?“ Beth war ungeduldig.
„Komm her.“ Jérémie schaute Beth nicht an, sondern konzentrierte sich auf den Bildschirm vor sich, während er sie zu sich beorderte.
Sie ging um seinen Schreibtisch herum und lehnte sich hinter ihm an das niedrige Regal, damit sie seinen Computerbildschirm ebenfalls sehen konnte. Sie erkannte eine Landkarte, auf der eine gewundene rote Linie die Strassenroute von London nach Nizza markierte.
„Was ist das?“
„Wie ich dir schon erklärt habe, gehe ich davon aus, dass deine Eltern dich als erstes auf deinem Mobiltelefon versuchten zu erreichen. Deshalb würde ich dich jetzt bitten, nachzusehen, wann der erste Anruf einging.“
Wie geheissen, schaute sie nach und sagte ihm die Zeit.
„Gut. Rechnen wir von da an zurück. Erst einmal benötigen wir die Aufstellung der möglichen Ereignisse. Beginnen wir bei dem Ereignis, das die Polizei auf die Matte gerufen hat. Dann verstrich bestimmt noch einige Zeit vor Ort, bevor die eigentliche Verhaftung durchgeführt wurde. Anschliessend die Überführung in das Gefängnis, dort mussten sie womöglich noch warten, dann müssen wir die Zeit einer ersten Befragung dazurechnen. Wenn sie erst danach telefonieren durften, kommen wir auf grob geschätzte sieben Stunden.“ Er notierte sich alles und umkreiste die Sieben auf dem Papier. „Deine Mutter hat mich ungefähr um vier Uhr nachmittags nach unserer Zeit angerufen. Wenn wir nun noch die Zeitverschiebung von einer Stunde abziehen, dann rief deine Mutter um drei Uhr an. Ich schätze, sie hat sich höchstens eine halbe Stunde Zeit gelassen, dich im Anschluss zu kontaktieren. Also wird die Nachricht betreffend Abfahrt auf deinem Anrufbeantworter ungefähr von halb vier nachmittags, englische Zeit, stammen.“ Er schrieb die Zeit auf und unterstrich sie doppelt. „Nun die eigentliche Rechnung. Bringen wir von dem ersten Anruf aus dem Gefängnis, der auf deinem Mobiltelefon einging, sieben Stunden in Abzug, dann haben wir halb sechs abends. Wie wir schon feststellten, sind sie ungefähr um vier Uhr abgefahren. Die zeitliche Differenz zwischen der Abfahrt und der Verhaftung beträgt dementsprechend etwa zwei Stunden. Wie weit können sie also innerhalb von zwei Stunden mit dem Auto gefahren sein?“
Beth konzentrierte sich darauf, was der Stift von Jérémie auf das Papier gezaubert hatte. Dann hob sie den Kopf und schaute die Karte auf dem Computer an. „Sie sind bekanntermassen nicht zum Flughafen gefahren. Es bleiben also noch die Fähre und der Eurotunnel, um am schnellsten auf das französische Festland überzusetzen. Aber die Fähre kommt für meine Mutter eher weniger in Frage.“
„Ja, von ihrer Tendenz zur grünen Farbe im Zusammenhang mit dem Meer habe ich schon gehört.“ Jérémie grinste Beth an.
„Tatsächlich? Könnte sein, dass ich mich erinnere, es dir erzählt zu haben.“ Ihre Konzentration erlaubte nur ein schiefes Lächeln. „Zurück zum Thema. Keine Fähre, also der Tunnel. Die Verladestation steht in Folkestone, also waren sie mit dem Auto dorthin unterwegs. Innerhalb von zwei Stunden schafft man etwa zweihundert Autobahnkilometer, bei einer vernünftigen Geschwindigkeit. Meine Mutter fährt aber nicht vernünftig. Eigentlich müssten sie dann noch in… Warte mal.“
„Warum fährt denn deine Mutter und nicht dein Vater?“
„Das ist jetzt unwichtig.“ Da sie genau wusste, dass er es spätestens dann erfahren würde, wenn ihr Vater vor ihm sass, fügte sie knapp hinzu: „Später.“
Beth beugte sich vor und griff an Jérémie vorbei, um an die Tastatur zu kommen. Mit flinken Fingern tippte sie einige Buchstaben in die dafür vorgesehenen Felder.
Jérémie beobachtete, wie die Worte auf dem Bildschirm entstanden und nahm so ihren Gedankengang auf. „Von London nach Folkestone dauert es nach diesem Routenplaner nicht ganz zwei Stunden. Nimmt man noch die Abfahrtszeiten der Züge dazu und die daraus resultierende Wartezeit…“
„…müssen sie noch in Folkestone sein!“ Triumphierend beendete Beth Jérémies Satz.
„Jetzt mal abgesehen davon, dass sie ansonsten mitten im Tunnel verhaftet worden wären und das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen.“
Da musste Beth Jérémie Recht geben. Aber es gab bekanntlich nichts, was noch nicht vorgekommen ist. Dennoch klammerte sich Beth an die Hoffnung, ihre Eltern in einem Gefängnis in Folkestone und Umgebung ausfindig machen zu können. Sollte dies nicht der Fall sein, konnten sie immer noch weiter überlegen.
„Ich denke, wir fragen als erstes den Zoll an, den die Autofahrer pasieren müssen, bevor sie auf den Zug fahren. Aber vorher brauche ich einen Kaffee.“
„Nein! Dafür ist jetzt keine Zeit, wir müssen meine Eltern anrufen!“
„Beth, ich gehe kurz zu Louis und hole einen anständigen Kaffee. Das wird auch dir gut tun. Ich renne sogar. Es dauert keine fünf Minuten. In Ordnung?“
Widerwillig brachte Beth ein zustimmendes Nicken zustande.
Jérémie eilte auch sofort los. Er rannte tatsächlich. Als er sich selbst dabei ertappte, wunderte er sich, wie weit es mit ihm schon gekommen war. Aber schliesslich hatte er es versprochen. Er betrat Louis Lokal und bestellte die zwei Kaffe zum Mitnehmen.
„Soso, hast du heute das Vergnügen der Nachtschicht?“
„Eigentlich nicht, nein. Zumindest nicht offiziell. Ich war bereits im Kraftraum, als noch etwas dazwischen kam.“
„Muss etwas Gutes sein, wenn du hier sogar rennend ankommst, um dir deinen Kaffee zu besorgen. Und dann erst noch zwei davon.“
Jérémie grinste nur und überliess Louis seiner Vorstellungskraft. Bewaffnet mit den beiden dampfenden Koffeinbomben ging er im Laufschritt zurück ins Büro.
In der Zwischenzeit hatte Beth sich ein wenig umgesehen. Ihr war aufgefallen, dass auf dem Tisch nur ein Foto von einer jungen, hübschen Frau stand, sonst waren keine Bilder aufgestellt. Sie fragte sich, ob diese Frau Jérémies Ehefrau war.
„So, da bin ich wieder.“
Ertappt schreckte Beth aus der Betrachtung des Fotos hoch. Verlegen strich sie ihren dünnen Pullover glatt und räusperte sich. Jérémie war die Veränderung in Beths Haltung nicht entgangen. „Ist etwas?“
„Wie? Nein, nichts, alles in Ordnung!“ Beth rang sich ein Lächeln ab. „Danke für den Kaffee.“
„Gern geschehen.“ Immer noch etwas skeptisch, setzte sich Jérémie wieder an seinen Tisch. Beim Abstellen des Kaffeebechers bemerkte er, dass sein einziges Foto verschoben worden war.
Ohne sich etwas anmerken zu lassen, bemühte er sich, wieder an das eigentliche Thema anzuknüpfen. „Nun, wo waren wir stehengeblieben?“
„Wir wollten nach Folkestone auf das Zollamt anrufen und fragen, ob die etwas wissen.“
„Ah, genau.“ Jérémie öffnete ein Programm, das Beth nicht kannte und tippte einige Codes ein. Beth beschloss, ihn seine Arbeit tun zu lassen, nahm ihren Kaffeebecher in die Hand und schlenderte im Raum auf und ab. Es dauerte einen Moment, bis Beth hörte, dass das laute Klacken der Computertastatur durch eine sanfteres Geräusch ersetzt worden war. Sie drehte sich zu Jérémie und sah, dass er sich an der Wählscheibe des Telefons zu schaffen machte. Es fiel ihr schwer, ihre Aufregung zu verbergen. Um ihn nicht mit unprofessionellen Zwischenrufen zu stören, verliess sie lieber den Raum. Weil sie entgegen ihrem Drang nicht lauschen wollte, schloss sie die Tür hinter sich. Sie hatte das Gefühl jedes einzelne Sandkorn durch eine imaginäre Sanduhr rieseln zu hören, so langsam fühlte sich das Verstreichen der Zeit an. Ein knappes Murmeln war aus dem Büro zu hören. Danach zu schliessen, hatte Jérémie wenigstens jemanden erreicht. Wie angestrengt sie trotz ihres Vorsatzes lauschte, merkte sie erst, als sie plötzlich durch ein Geräusch aufschreckte. Es klirrte, als hätte jemand etwas fallen gelassen. Erst jetzt wurde Beth bewusst, dass die Räume vor ihr im Dunkeln lagen. Mit einem mulmigen Gefühl starrte sie angestrengt in die Finsternis. Doch ihre Mühe etwas zu erkennen, war vergebens. Sie machte sich soeben daran, einen Lichtschalter zu finden, als sie Jérémie nach ihr rufen hörte. Blitzschnell drehte sie sich um und stürmte zurück in sein Büro.
„Was hast du herausgefunden?“
„Deine Eltern sind tatsächlich in Folkestone am Zoll aufgehalten worden.“
Erleichtert atmete Beth aus. „Und weiter? Wie kam es denn zu der Verhaftung?“
Jérémies Blick lies sie verstummen. „Einfach so an diese Informationen heranzukommen erforderte einiges an Überredungskunst, also hör mir bitte bis zum Ende zu. Okay?“
Beth nickte.
„Gut. Im Rahmen einer, wie mir gesagt wurde, Routinekontrolle hatten die Zollbeamten deine Eltern herausgepickt und die übliche Fahrzeugdurchsuchung vorgenommen. Mir wurde auch mitgeteilt, deine Eltern hätten den Zollbeamten von den Vorkommnissen in eurer Familie erzählt und auf penetrante Weise versucht, die Durchsuchung voranzutreiben. Nach mehrmaliger Ermahnung eines Beamten, dass sich deine Eltern ruhig verhalten sollten, sei deine Mutter dann ausgerastet und habe den Beamten tätlich angegriffen.“
Erstaunt riss Beth die Augen auf. Aber sie unterbrach Jérémie nicht.
„Die Folge davon war eine Verhaftung. Deine Eltern haben jetzt ein Strafverfahren am Hals. Deine Mutter wegen Körperverletzung und dein Vater unter anderem wegen unterlassener Hilfeleistung.“ Er machte eine kurze Pause. „Beth, da ist noch mehr. Man hat Medikamente im Auto gefunden. Die Behältnisse waren weitestgehend unbeschriftet. Teils waren sie auch beschriftet, aber eben nicht originalverpackt. Die Beamten wurden nun auch noch wegen illegalem Drogenhandel auf deinen Vater angesetzt.“
Da Jérémie so aussah, als wäre er fertig, brach es wie ein Vulkan aus Beth heraus. „Das gibt es doch nicht! Mein Vater sitzt im Rollstuhl! Er hatte vor langer Zeit einen Unfall und braucht diese Tabletten! Und wie hätte er meine Mutter von diesem Angriff abhalten sollen? Ausserdem greift meine Mutter nicht wegen einer Autodurchsuchung irgendwelche Zöllner an. Der Typ muss ihr einen Grund gegeben haben. Das ist doch alles absurd!“ Die Neugier siegte aber über die Zweifel, weshalb sie etwas ruhiger nachhakte. „Welche Verletzungen hat sie dem Beamten zugefügt?“
Jérémie musste unwillkürlich grinsen. „Man sagt, er habe ein Auge in allen erdenklichen Farben aus dem Kampf davongetragen.“
Beth fühlte eine gewisse Genugtuung.
„Gut so.“ Sagte sie trotzig.
„Beth, die Sache mit den Tabletten kann man durchaus als absolut an den Haaren herbeigezogen bezeichnen. Vor allem in Anbetracht der Umstände, in denen sich dein Vater offenbar befindet. Aber ich denke, der Beamte fühlte sich in seinem Stolz verletzt. Wenn du körperlich nach deiner Mutter kommst, kann ich ihn sogar verstehen. Ein solch zierliches Wesen dürfte mir auch kein blaues Auge verpassen, ohne dass zusätzlich mein Ego einen kräftigen Hieb versetzt bekäme. Die gute Nachricht ist nun aber, dass deine Eltern inzwischen entlassen wurden und wieder auf freiem Fuss sind.“ Beth wollte aufjauchzen, jedoch hinderte sie Jérémie mit einer Handbewegung daran. „Tatsache ist aber, dass sie, wie du auch, während den laufenden Ermittlungen das Land nicht verlassen dürfen. Es tut mir Leid, aber ich hoffe, sie halten sich daran.“ Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen. Sie machte den Eindruck eines geschlagenen Hundes. Jetzt richtete sie auch noch diese grossen hellblauen Augen mit dem traurigen Ausdruck auf ihn.
„Weißt du, wo es hier in der Stadt richtig gutes Bier gibt?“, fragte sie ihn. Und er verstand.
„Komm.“ Insgeheim kürte Jérémie diese Frage, zur besten des gesamten vergangenen Tages. Ausserdem schien ihr Vorschlag genau richtig. Sie noch länger in diesem Gemütszustand alleine in seinem Büro zu haben, hielt er nämlich für ganz und gar keine gute Idee.