Kapitel 6
Um 4.00 Uhr morgens, Ortszeit, schrak Jake aus dem Schlaf hoch und sass kerzengerade im Bett. Wenn er gekonnt hätte, wäre er aufrecht gestanden. Aufgrund der abrupten Bewegung, die durch die Matratze in Wellen weitergegeben wurde, wachte auch Susanna auf. „Liebling, was ist den los?“ Sie drehte sich nicht um, sondern tastete nur verschlafen nach ihrem Mann. Als ihre Hand dann allerdings seinen gut trainierten Bauch fand, setzte sie sich erschrocken auf. „Du bist ja schweissgebadet! Was ist los? Hast du schlecht geträumt? Tut dir wieder etwas weh?“
„Nein.“ Jake machte eine Pause. „Ich weiss auch nicht. Irgendwie habe ich geschlafen und als hätte mich etwas gebissen, bin ich jetzt plötzlich hellwach.“
Absurderweise tastete sich Susanna als erstes an das Fussende des Bettes. Sie wusste, dass ihr Verdacht nicht der Grund für sein Erwachen sein konnte, denn er würde es nicht spüren, aber man konnte ja nie wissen. Gertraud de Clement schien sich aber an keinem der Zehen festgebissen zu haben. Ein leises Schnurren aus der anderen Ecke des Zimmers verriet, dass die Katze wahrscheinlich friedlich von ihrer Mäusejagd träumte.
„Lass mich raten, du hast irgendwie ein ungutes Gefühl?“
„Ganz genau. Woher weißt du das?“
„Du hast immer irgendwie ein schlechtes Gefühl, wenn Beth nicht unter deinem Dach schläft. Es ist eher verwunderlich, dass es dich erst jetzt aus dem Schlaf reisst.“ Beruhigend kraulte sie Jakes Bauch.
„Du hast ja recht. Aber weißt du, der Gedanke, dass ich an diesen blöden Rollstuhl gefesselt bin und darum nicht einfach losrennen kann, wenn etwas ist, macht mich noch ganz verrückt.“
„Das versteh ich doch. Aber es wird nichts passieren. Die beiden haben eine gute Zeit zusammen und Beth kommt bald wieder nach Hause und wird uns wie ein Wasserfall lauter Geschichten über ihren Aufenthalt erzählen. Dann wird sie dich wieder auf die Palme bringen, weil sie dir unter die Nase reibt, dass sie einige nette Jungs getroffen hat und diese bereits sämtliche Flugtickets nach London gekauft haben, um hierher zukommen und dich um ihre Hand zu bitten.“
„Das findest du wohl sehr witzig?“
„In der Tat, ja.“
Schmunzelnd zog er sie noch näher an sich und begann sie auszukitzeln. Kichernd setzte sie sich zur Wehr und schlug ihn mit einem Kissen. Überrascht von dem Tumult erwachte auch Gertraud de Clement und näherte sich neugierig dem Geschehen, um sich dann mitten ins Getümmel zu stürzen. Irritiert über diese Wendung im Kampfgeschehen liess sich Jake lachend auf sein Kissen zurückfallen. Etwas ausser Atem hob Susanna die Katze hoch und setzte sie auf Jakes Bauch. Sofort rollte sich Gertraud de Clement schnurrend zusammen. Susanna kuschelte sich in Jakes Armbeuge und hätte beinahe ebenfalls angefangen zu schnurren. Jake gewann den Eindruck ein Raubtierdompteur zu sein, doch er liess die beiden gewähren, denn das leise Schnurren und das Gefühl von Susannas weichem Haar auf seiner Haut beruhigte ihn spürbar. Mit der einen Hand kraulte er die Katze mit der anderen zog er seine Frau etwas hoch, um ihr einen Kuss auf den Scheitel geben zu können. „Ich liebe dich.“
Susanna musste lächeln. „Ich weiss.“
Jake war noch nicht ganz zurück in den Tiefschlaf gefallen, als er erneut geweckt wurde.
„Autsch!“ Ganz genau sagen, was ihn als erstes aus dem Schlaf holte, die Krallen der erschrockenen Katze oder das scheppernde Telefon, konnte er nicht. Das Telefon stand direkt neben dem Bett, weshalb er nur seinen Arm ausstrecken musste. Beim Blick auf das leuchtende Display wurde ihm flau im Magen. Die französische Vorwahl um diese Uhrzeit konnte nichts Gutes bedeuten. Allerdings waren die Franzosen eine Stunde voraus. Der Versuch, sich mit diesem Gedanken zu beruhigen, scheiterte aber kläglich. Jake bediente die grüne Taste am Hörer und räusperte sich. „Hallo?“
„Papa?“
Jake erstarrte. „Beth? Ist alles in Ordnung?“
„Nichts ist in Ordnung!“ Beth schluchzte laut auf.
„Was ist passiert? Sprich mit mir!“
Inzwischen war auch Susanna aufgewacht. Verzweifelt versuchte sie Jake zu bewegen, den Lautsprecher einzuschalten, doch er machte keine Anstalten ihrem Wunsch zu entsprechen.
Soeben hörte er noch, wie Beth von einem Weinkrampf geschüttelt wurde, doch der Klang ihrer Stimme entfernte sich und als nächstes meldete sich eine Männerstimme.
„Monsieur Clement?“
„Wer sind Sie? Was haben Sie mit meiner Tochter gemacht?“ Jake war ausser sich. Susanna versuchte die aufsteigende Panik zu unterdrücken.
„Monsieur Clement, bitte beruhigen Sie sich. Ich bin Polizist und als solcher kann ich Ihnen sagen, dass kein Verbrechen an Ihrer Tochter begangen wurde. Zumindest nicht körperlicher Natur.“
Im ersten Moment atmete Jake erleichtert aus. Doch dann begriff er. „Nicht körperlich? Was wollen Sie damit sagen?“
So sachlich wie nur irgend möglich versuchte Inspecteur Jérémie Russeau Jake Clement seine Nachricht zu überbringen. Der Inspecteur hatte schnell gemerkt, dass Beth nicht in der Lage dazu sein würde, weshalb er ihr auch den Hörer aus der Hand genommen hatte.
„Monsieur Clement, es geht um Ihre Schwester.“
„Dina?“ Die nackte Angst gewann beinahe die Oberhand. „Was ist mit ihr?“
„Sie ist tot.“
Jake liess beinahe den Hörer fallen. Um Selbstbeherrschung ringend formulierte er ruhiger, als er es selbst erwartet hätte, nur ein Wort. „Tot?“
Den hysterischen Aufschrei von Susanna nahm er nur ganz am Rande wahr. „Wie?“
„Monsieur, das wissen wir noch nicht. Wir werden die Todesursache anhand einer Autopsie feststellen und Sie über die weiteren Erkenntnisse informieren. Sollten Sie die Möglichkeit haben, nach Frankreich zu reisen, würde ich Ihnen dies empfehlen. Ihre Tochter haben wir gebeten, bis zum Abschluss der Untersuchungen noch hier in der Stadt zu bleiben. Sie hat ihr Einverständnis bereits gegeben.“
Die Worte des Polizisten wurden von Jakes Gehirn registriert, als wäre es eine Maschine.
„Wo hat man Dina gefunden?“
„Auf einem Friedhof.“
Jake stockte der Atem.
„Auf welchem Friedhof?“
Der Polizist sagte es ihm.
Scharf atmete Jake wieder ein. „Ich werde umgehend die nötigen Reisevorbereitungen treffen.“ Jake war bis aufs äusserste angespannt, doch seine Stimme klang ruhig und beherrscht. Während Susanna neben ihm der Ohnmacht nahe war.
„Sagen Sie mir noch eines. Wie haben Sie meine Tochter gefunden?“
„Wir haben in der Geldbörse Ihrer Schwester ein Foto neueren Datums, das in Nizza aufgenommen wurde gefunden. Darauf war Ihre Tochter abgebildet. In der Hoffnung uns nicht zu täuschen, riefen wir in der Wohnung Ihrer Schwester an. Unter den gegebenen Umständen hatten wir Glück und Ihre Tochter hob den Hörer ab. Dann habe ich sie mit einem Streifenwagen hierher bringen lassen. Als sie hier eintraf habe ich sie über die Situation aufgeklärt. Ihr Verhalten blieb kooperativ und sie identifizierte die gefundene Leiche. Es klingt brutal, aber sie hat ihre Aufgabe sehr gut gemacht.“ Einen Moment lang schwiegen beide, bevor Inspecteur Russeau das Wort wieder ergriff. „Monsieur, es tut mir sehr leid.“ Lies der Polizist verlauten.
„Ja, danke.“ Jake legte auf.
Zitternd und mit Tränen in den Augen schaute Susanna zu ihm auf.
„Sag mir was los ist!“, flehte sie mit erstickter Stimme.
„Dina ist tot. Sie wurde auf dem Friedhof gefunden. Beth ist bei der Polizei. Sie musste sie identifizieren. Sie haben Beth anhand eines Fotos in Dinas Geldbörse ausfindig gemacht.“ Eintönig fasste er den soeben gehörten Bericht des Polizisten zusammen.
Susanna schluchzte laut auf. „Wie kam sie ums Leben?“
„Das weiss die Polizei noch nicht. Aber ich schätze, dass die Polizei so schlau ist wie ich und nicht von einem Diebstahl mit Todesfolge ausgeht. Denn offensichtlich hatte Dina ihre Geldbörse noch.“
„Vielleicht war sie leer. Hat der Polizist gesagt, wo man die Geldbörse gefunden hat?“
„Nein, das hat er nicht. Du hast Recht. Auf jeden Fall müssen wir so schnell wie möglich nach Frankreich.“ Jake nahm den Kopf seiner Frau zwischen seine grossen Hände und schaute ihr direkt in die Augen. Susanna nickte nur und gab ihm einen Kuss. Dann hievte Jake sich in seinen Rollstuhl, der neben dem Bett stand. Schnell war er beim Kleiderschrank und holte einen Koffer heraus. Er gestattete sich nicht, das, was er soeben vernommen hatte, an sich herankommen zu lassen. Er würde sonst heulend wie ein Weib zusammenbrechen und dafür war es jetzt nun wirklich der falsche Zeitpunkt. Also schluckte er die aufkeimende Verzweiflung und die blinde Wut hinunter. Stattdessen breitete sich eine tiefe, kalte Leere in ihm aus. Er war sich dessen bewusst, dass ihn dieses riesige Loch ebenfalls noch in seine Abgründe ziehen würde, aber das schien im Augenblick einfacher ertragbar, als schiere Verzweiflung.
Susanna sass ihrerseits benommen in ihrem Bett. „Reiss dich zusammen Mädchen“, sagte sie zu sich selbst und handelte dann auch nach ihrem eigenen Befehl. Sie würde noch genügend Zeit haben, ihre Schwägerin zu betrauern, aber als Erstes musste sie sich um das Wohlbefinden ihrer Tochter kümmern und ihr half sie am meisten, wenn sie einen klaren Kopf behielt. Die erste rationale Handlung war der Griff nach dem Telefon. Die Verbindung mit der Vermittlung war schnell hergestellt und keine Minute später hatte sie den Flughafen in der Leitung.