Kapitel 37
Draussen wurde es langsam dunkel. Beth lag, alle Viere von sich gestreckt, auf einer Steinbank im Innenhof und beobachtete wie die weissen Quellwolken vorbeizogen. Nachdem Schwester Johanna sie ausführlich in den Tagesablauf der Nonnen eingeführt hatte und ihr ans Herz legte, an den Messen teilzunehmen, da es für den inneren Frieden hilfreich wäre, hatte Beth sich davongestohlen und die Erkundungstour alleine fortgesetzt. In die vorderen Bereiche, wo die Touristen sich aufhalten durften, hatte sie sich nicht getraut. Hingegen erwischte sie sich mehrfach, wie sie vor der kleinen Holztür auf und ab ging. Es wäre ein Leichtes gewesen, aus dieser Tür zu schlüpfen und abzuhauen. Aber etwas hielt sie davon ab. Vielleicht bildete sie sich diese unsichtbare Barriere aufgrund der Heiligkeit dieser Mauern nur ein, möglicherweise war es aber auch das Bewusstsein, dass eine Flucht aus ihrem Nest in die dunkle Einsamkeit der umliegenden Wälder ein hirnloses Unterfangen wäre. In der Betrachtung des sich verfärbenden Himmels verloren sich ihre Gedanken in unkontrollierten Strömen. Sie konnte kaum glauben, was sie in den letzten Tagen alles erlebt hatte. Die neuen Eindrücke, die Übermacht an Reizen, die auf ihre Sinne trafen, wie nahe sich Trauer und Glück, Angst und Sicherheit sein konnten und doch hielten tiefe Schluchten diese Empfindungen voneinander fern. Einen geliebten Menschen hatte sie verloren und ironischerweise genau deswegen viele neue Menschen in ihr Herz geschlossen. Dann spürte sie, wie ihr eine Träne über die Wange rollte. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie weinte. „Ihr habt gewusst, wovon ihr spracht, als ihr mich hierher brachtet. Ich weiss es jetzt auch.“ Ein tiefer Seufzer entfuhr Beth.
„Ich habe mir schon gedacht, dass du nicht lange brauchst, um auch zu spüren, was Jérémie damals hier gefunden hatte.“
Erschrocken fuhr Beth hoch. Schwester Johanna stand wie ein Geist neben ihr und genauso lautlos schien sie auch gekommen zu sein. „Entschuldige Kind, ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Schon in Ordnung, ich war in Gedanken.“ Dass die Nonne von dem distanzierten Sie zu einem vertraulichen Du übergegangen war, störte Beth nicht weiter. Irgendwie fühlte es sich genau richtig an.
„Das habe ich gemerkt.“ Ein wissendes Lächeln huschte über das Gesicht der Nonne.
„Was meinten Sie damit, dass Jérémie hier etwas gefunden hat? War er denn öfter hier?“
„Könnte man so sagen. Der Junge hat eine schwere Zeit hinter sich. Es grenzt an ein Wunder, dass es ihm heute so gut geht.“
„Ja. Er hat mir angedeutet, dass er es zu Hause nicht leicht hatte. Aber so wie er von seiner Mutter gesprochen hat, kann ich mir kaum vorstellen, dass er sich nach der Zuflucht in diesem Gemäuer sehnte.“ Beth machte eine auslande Geste.
„Manchmal heilt Gleiches mit Gleichem. Eine andere Form der Darlegung und des Praktizierens kann viel helfen und aus der Dunkelheit ein Licht scheinen lassen.“
„Ungefähr so, wie wenn manchmal gegen einen Brand auch nur ein Feuer hilft?“
„So kann man es sehen, ja. Auch wenn das Gegenfeuer bei Jérémie beinahe zu spät gekommen wäre.“
„Wieso? Was ist passiert? Wie kam er überhaupt hierher? Ich meine, er war noch jung und ich gehe davon aus, dass er nicht mit dem Fahrrad hierher kam, um euch zu besuchen.“
„Da ist etwas Wahres dran. Du durchlebst im Augenblick auch eine schwere Zeit. Es ist nicht leicht, wenn einem das Leben solch harte Aufgaben stellt. Ich kann mir gut vorstellen, dass das ein Grund ist, weshalb Jérémie dich an den Ort gebracht hat, an dem er zu sich selbst zurückfand. Er denkt wahrscheinlich, was ihm gut tat, kann dir nicht schaden. Irgendwie habe ich das Gefühl, du weißt nicht, wie viel er dir von sich preisgibt, indem er dich hier unterbrachte. Darum werde ich dir jetzt erzählen, was Jérémie niemals aussprechen würde. Aber verwende dein Wissen mit Verstand, zeige es ihm, wenn die Zeit reif ist, ansonsten kannst du viel zerstören.“
„Wow, das klingt, als wäre ich die verlorene Kriegerin, die soeben das Geheimnis der Shaolin für den grossen Kampf vermittelt erhält.“
„Mädchen, du solltest wirklich weniger Fernsehen. Der Junge ist einfach unheimlich empfindlich in Bezug auf seine Vergangenheit. Willst du es nun hören oder nicht?“
„Entschuldigung. Ich bin ganz Ohr.“
„Gut. Es sieht so aus, als hätte Jérémie dir von der religiösen Einstellung seiner Mutter erzählt und auch davon, wie sie diese interpretiert und umgesetzt hat.“
Beth nickte nur, um Schwester Johanna nicht wieder zu unterbrechen.
„Leider kam, was kommen musste. Der Vater war genauso ein Schlappschwanz wie eine falsche Schlange. Eigentlich trifft es der Ausdruck Hyäne wohl am ehesten. Er ernährte sich vom Aas der Grossen und Starken.“ Die Augen kullerten Beth beinahe aus den Höhlen, als sie die Wortwahl der frommen Schwester vernahm. Solche Ausdrücke wollten nicht richtig in das Bild der friedlich ruhenden Klostermauern passen. Dennoch, Beth schwieg.
„Nun, der Vater flog irgendwann auf und dann aus. Die Mutter gab auch dafür dem Jungen die Schuld. Bald schon trieb er sich nur noch auf der Strasse herum. Er war heruntergekommen und verwahrlost. Naheliegend, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis er mit den falschen Leuten in der falschen Gegend verkehrte. Schon früh streunte er in der Drogenszene herum, rauchte und trank mit ungefähr elf Jahren. Der Mutter war das egal, sie war ihre Teufelsbrut endlich los ohne ihn sündhaft ausgesetzt zu haben, also war sie zufrieden. Perfiderweise endete die Mutter an der Nadel und für einen Schuss verkaufte sie dann auch ihren Körper. Jérémie hatte sich an die rauen Sitten und das Überleben auf der Strasse bereits gewöhnt und weil er nie in die Schule gegangen war, begann er sein Geld mit Drogen zu verdienen. Dumm nur, dass er selbst davon abhängig wurde.“
Mit offen stehendem Mund saugte Beth jedes einzelne Wort in sich auf, aber sie konnte bei bestem Willen keine Verbindung zwischen einem drogenabhängigen Kind und dem Polizisten, den sie kennen gelernt hatte, herstellen.
Schwester Johanna sprach unbeirrt weiter. „Ich weiss, was du jetzt denkst. Er war noch ein Kind und bereits im schlimmsten Sumpf der schiefen Bahn. Aber der Herr meinte es gut mit ihm und gab ihm eine zweite Chance. Eines Tages war seine Hemmschwelle, wenn er diese überhaupt besass, soweit gesunken, dass er eine Nonne bestehlen wollte. Diese erwischte aber die flinken Fingerchen und der Junge bekam die Predigt seines Lebens zu hören. Eine Tracht Prügel hätte es auch getan, aber ich dachte mir damals schon, dass er davon wahrscheinlich bereits genug bekommen hatte und gegen die vermeintliche Wirkung immun war.“
„Was haben Sie zu ihm gesagt?“
„Nun, zuerst habe ich ihm ordentlich die Meinung gegeigt, was ihm einfalle, eine Ordensschwester beklauen zu wollen. Diebstahl allgemein sei bereits Sünde genug und so weiter und so weiter. Dann habe ich ihm gesagt, dass Gott ihn trotzdem liebe und ihm vergeben würde. Und ich erklärte ihm, dass es schliesslich einen Grund hätte, weshalb er mich den kleinen Dieb erwischen liess. Denn so wurde er einerseits vor einer erneuten Sünde bewahrt und andererseits ergab sich die Chance auf ein besseres Leben.“
„Das hat gewirkt? Sie können mir nicht erzählen, dass Jérémie Ihnen dann einfach gefolgt ist!“ Ungläubig schaute Beth zu ihrer Gesprächspartnerin auf.
„Nein, so gut bin nicht einmal ich. Nachdem ich das Handgelenk des Jungen wieder losgelassen hatte, rannte er wie der Wind davon. Ich habe dann für mich den Entschluss gefasst, regelmässig an unserem Ort der ersten Begegnung vorbeizuschauen. Manchmal habe ich einfach nur eine halbe Stunde dagestanden und gewartet. Nur um zu zeigen, dass ich da war. Denn sind wir mal ehrlich, hätte ich mich nicht immer wieder auf die Bildfläche geschlichen, hätte der Junge meine Worte nicht im Geringsten ernst genommen und sofort wieder vergessen. Mit meinem Erscheinen konnte ich aber einen doppelten Effekt erreichen. Einerseits sorgte ich mit meiner Anwesenheit dafür, dass ihm meine Worte unweigerlich immer wieder in Erinnerung zurückgerufen wurden und andererseits hatte er mit meiner Anwesenheit auch eine Anlaufstelle, wenn er sich für die zweite Chance entscheiden sollte.“
Unverhohlene Bewunderung für die Hartnäckigkeit und den Glauben an das Gute im Menschen spiegelte sich auf Beths Gesicht. „Woher wussten Sie, dass er sie immer sehen würde und nicht einfach in anderen Revieren plünderte?“
„Meine Hoffnung, dass noch ein letzter Rest eines Jungen in ihm steckte, bewog mich dazu, an die Neugierde zu glauben, die ihn immer wieder zurückkehren lassen würde, um zu sehen, ob auch ich wieder da wäre. Natürlich hielt er sich anfangs noch versteckt.“
„Wie kam es dann, dass er mit Ihnen ging?“
„Eines Tages kam er aus seinem Versteck hervor und fragte, wie denn diese zweite Chance aussähe, er glaube, er bräuchte sie jetzt. Und dann brach er vor meinen Füssen zusammen.“
„Was? Warum?“ Beth war schockiert. Wenn sie bedachte, dass dies die Geschichte über den Jérémie war, der sie zu sich geholt hatte, um sie besser schützen zu können, zog es ihr den Magen zusammen.
„Nun, es war alles zuviel. Sein Körper spielte nicht mehr mit. Ich habe ihn mit hierher genommen. Dann brach eine schlimme Zeit für ihn an. Die Drogen, die schlechte und auch teils fehlende Ernährung, die schmutzige Umgebung, das alles hatte seinen Tribut gefordert. Die Flöhe waren noch das Harmloseste. Erschreckt habe ich mich aber vor allem auch darüber, welche Narben der Kleine bereits vorzuzeigen hatte. Ich wusste damals ja noch nichts von der Familie.“
Ein vages Gefühl unter den Fingerkuppen brachte Beth tatsächlich eine Erinnerung an auffällig viele Unregelmässigkeiten auf Jérémies Haut zurück. „Mein Gott.“ Es war nicht mehr als ein Flüstern.
Das Rätsel darum, weshalb sich Jérémie in der miesen Gegend damals so selbstverständlich bewegte und auch um den Mann, der ihn angesprochen hatte, als wären sie alte Bekannte, schien gelöst. Es ergab auf einmal alles einen Sinn.
„Du sagst es, mein Liebe, du sagst es. Im Endeffekt hat er aber alles gut überstanden. Das muss ich dir aber bestimmt nicht erzählen.“ Das Augenzwinkern von Schwester Johanna entging Beth keineswegs.
„Aber wollte er denn nicht ausreissen, nachdem es ihm wieder besser ging?“
„Nein. Es dauerte zwar eine Weile, bis wir ihn in den Griff bekamen. Verständlicherweise hatte er Mühe, sich an feste Regeln zu halten und sich anzupassen. Der schnellste Erfolg, der sich einstellte, war die neue Glaubensauffassung. Sobald er gespürt hatte, dass wir ihn weder schlagen würden noch ihm irgendwelches zwielichtiges Zeug verabreichten, reduzierte sich sein anfängliches Misstrauen spürbar. Was dann aber eben zur Folge hatte, dass er sich schnell wohl fühlte und begann, uns auf der Nase herumzutanzen.“
„Warum er?“ Es ging Beth durch den Kopf, dass noch viele mehr diese Art von Zuwendung nötig hätten. Was also hatte Jérémie an sich, dass ausgerechnet ihm dieses Glück zugute gekommen war.
„Nennen wir es einfach eine göttliche Fügung. Hast du ihm schon einmal genau in die Augen sehen können?“
„Wem? Gott?“
„Nein, Kind, Jérémie!“
Die Röte der Verlegenheit schoss Beth blitzschnell in die Wangen. „Könnte man so sagen.“
„Du siehst aus, als hätte ich dich gefragt, ob du mit ihm geschlafen hättest!“
Überrascht stellte Beth fest, dass Schwester Johanna ihren Bauch festhielt, weil sie vor Lachen sosehr geschüttelt wurde. „Kind, keine Sorge, das geht mich nun wirklich nichts an. Er liegt mir am Herzen und wenn ihn jemand verletzen könnte, geht mir das nahe, aber die Mutterrolle habe ich nicht inne. Aber ich schätze, ich darf davon ausgehen, dass du den Grund seiner Seele auch schon gesehen hast. Nonne hin oder her, wie hätte ich diesem Dackelblick widerstehen sollen?“
Nun musste auch Beth Lächeln. Ehrfurcht vor einer Nonne war bestimmt nicht falsch, aber auch in dieser Kutte steckte im Endeffekt nur eine Frau.
Diese Frage konnte Beth ohne Zögern beantworten. „Ja, ich komme nicht umhin, dafür ein hohes Mass an Verständnis aufzubringen. Ich sag es mal so, wäre er auf der Titanic dabei gewesen, wäre sie nicht gesunken, denn die Eisberge hätten nicht mehr existiert.“
„Scheint, als hätte der Herr Polizist Eindruck hinterlassen.“
„Oh, nicht nur er! In der letzten Zeit wurde ich förmlich überschwemmt von Eindrücken. Eine Frage habe ich noch.“
„Nur zu.“
„Warum ging Jérémie am Ende zur Polizei?“
„Nun, eigentlich ist es ein Klassiker. Die besten Möglichkeiten, Verbrechen, wie sie auch an ihm begangen wurden, zu verhindern hat man entweder als Superheld oder eben bei der Polizei.“
„Was bewegte ihn dazu, die Uniform zu wählen, anstelle eines körperbetonten Kostüms um dann durch die Lüfte zu sausen?“
„Kindchen, du beliebst wohl zu scherzen! Komm, wir haben ein bisschen zulange getratscht. Das Abendessen steht bereit.“ Zusammen erhoben sie sich von der Bank und machten sich wortlos auf den Weg in den Esssaal. Nur noch einmal unterbrach Schwester Johanna das Schweigen, bevor sie die Klosterräumlichkeiten betraten. „Egal, wie sehr er es versuchte, seine Flugstunden endeten immer mit dem Gesicht auf der Erde. Das war der Grund.“