Kapitel 33
Einige Stunden und ein friedliches Abendessen später wälzte sich Beth in ihrem Bett hin und her. Auch um drei Uhr morgens wollte ihr Gehirn den Befehl zu schlafen nicht befolgen.
„Das bringt doch alles nichts.“ Sie schlug die Decke zurück, schlüpfte in ihre Pantoffeln und wollte in die Küche gehen, um wie früher ein Glas Milch zu trinken. Ein bisschen wackelig auf den Beinen schlich sie auf Zehenspitzen den Korridor entlang. Als sie sich dem geheimnisvollen Kinderzimmer näherte, sah sie zu ihrem Erstaunen, dass unter dem Türspalt ein Lichtschimmer hervordrang. Vorsichtig wagte sie sich weiter vor. Sie hatte die Hand bereits an der Türfalle, als sie sich noch einmal besann, die Hand wieder wegzog und ihren Weg Richtung Küche fortsetzte. Die Treppe war noch nicht erreicht, als sie erneut stehen blieb. Hin und her überlegend wog sie ihre nächste Tat ab. Dann kehrte sie entschlossen wieder um. Zögerlich öffnete sie so leise wie möglich die Tür. Was sie durch den Spalt sah, verschlug ihr beinahe die Sprache. Ein bezauberndes Kinderzimmer, mit einer liebevoll handgearbeiteten und bemalten Wiege schräg in der Ecke stehend, der ihr bereits bekannte Schaukelstuhl in der anderen Ecke, eine Kommode mit integriertem Wickeltisch und ein kleiner Kleiderschrank jeweils an einer Wand stellten die Grundelemente dar. Das Mobile über der Wiege, das Kissen auf dem Schaukelstuhl, die orangen Bettbezüge mit den fröhlich lachenden Sonnen, ein flauschiger Teppich auf dem hellen Parkettboden und eine blassgelbe Wand mit einer Zierleiste, auf der fröhlich springende Häschen abgebildet waren, rundeten die Optik für das perfekte Babyzimmer ab. Nur die Person, die mit einer leeren Kartonkiste vor dem Kleiderschrank stand, störte mit ihrer Haltung das idyllische Bild. Beth ertappte sich dabei, wie sie vor lauter Staunen in das Zimmer eingetreten war. Am liebsten hätte sie sich einfach wieder aus dem Staub gemacht, so fehl am Platz fühlte sie sich. Dann fasste sie sich aber ein Herz. „Es ist wunderschön.“
Jérémie hielt in der Bewegung inne, aber er drehte sich nicht zu ihr um. Dann machte er weiter, ohne ein Wort zu sagen. Unsicher, ob sie nicht doch besser wieder gehen sollte, blieb sie im Raum stehen. Der Entschluss, sich noch weiter vorzuwagen, ergab sich dann aber von alleine.
„Es war perfekt.“
Beth hätte nicht erwartet seine Stimme zu hören, weshalb sie ein wenig zusammenzuckte, als er zu sprechen begonnen hatte. Sie trat näher und wartete, ob er noch mehr sagen würde.
„Warum bist du wach? Du solltest dich ausruhen.“
Wenigstens hatte er sie nicht hinausgeworfen und er schien auch nicht wütend über ihre Anwesenheit in diesem Zimmer. „Ich konnte nicht schlafen und wollte mir eine Milch holen.“
„Und dann hast du vergessen, wo die Küche ist?“
Vielleicht trog ihr Gefühl, dass sie nicht ganz unerwünscht war, doch. „Nein. Aber ich habe gesehen, dass hier Licht brennt. Erst wollte ich vorbei gehen, aber dann habe ich umgedreht.“
„Warum?“ Sie spürte, wie niedergeschlagen er war.
„Neugierde.“ Sie hatte beschlossen einfach schmucklos ehrlich zu sein. Offenbar war sie damit im Augenblick auf der richtigen Schiene, denn er drehte sich um.
„Tja, ich konnte auch nicht schlafen, wie du siehst.“ Den kleinen Body in der Hand drehend, umspielte die Andeutung eines zärtlichen Lächelns seine Mundwinkel. „Es ist schon lange her, die Suche verlief ergebnislos. Ich werde es dieser Frau wahrscheinlich nie verzeihen, dass sie mit meinem ungeborenen Kind ohne eine Nachricht gegangen ist. Ich wage aber zu behaupten, diese Frau zu kennen und wenn sie nur ein bisschen diejenige geblieben ist, die sie war, dann geht es den beiden gut. So einfach ist das. Heute Nacht bin ich aufgewacht und hatte einfach das Gefühl, es ist jetzt Zeit aufzuräumen. Ich werde die Sachen also einpacken und spenden. Denn wenn irgendwann der Zeitpunkt kommt, an dem mich der Storch wirklich beisst, möchte ich der Frau, die den dicken Bauch auf noch dickeren Füssen herumschleppen muss, wenigstens die Möglichkeit geben, ihre Leiden mit Einkaufen besänftigen zu können.“ Die Andeutung verwandelte sich in ein schelmisches Grinsen. Inzwischen stand Beth neben ihm und hatte genau zugehört. Sie nahm ihm den Body ab, den er immer noch festhielt und ergriff seine Hand. „Komm, du hast dir eine Pause verdient.“
Bereitwillig liess er sich in die Küche führen, wo er sich an die Kochinsel lehnte, während sie zwei Tassen heisse Schokolade zubereitete. „Was wird das?“
„Das gibt einen Zaubertrank. Meine Mutter hat das früher immer für mich gemacht, wenn ich nicht schlafen konnte. Sie verkaufte es mir als Zaubertrank, dessen Wirkung sich erst entfaltete, wenn ich tief und fest schlafen würde.“
„Um welche Wirkung handelt es sich?“
„Superkräfte.“ Jérémies Blick nach zu urteilen, war er äusserst amüsiert über ihren Kindheitsglauben. „Du glaubst mir nicht? Lass dir gesagt sein, es hat immer geklappt. Wie meine Mutter vorausgesagt hatte, war ich nach einem tiefen Zauberschlaf, der dem Trank zu verdanken war, immer frisch, munter und ausgeruht aufgewacht. Später fand ich heraus, dass die ganze Zauberei aus heisser Milch und Schokoladenpulver bestand. Interessanterweise wirkte es aber auch dann noch.“
„Wenn das so ist, bin ich natürlich gespannt.“
„Nicht mehr lange, denn sie ist schon fertig.“ Sie hielt ihm mit einem zufriedenen Lächeln eine Tasse dampfend heisse Schokolade, mit einem Klecks Schlagsahne verziert unter die Nase. „Versuch sie, du wirst es nicht bereuen.“
Jérémie führte die Tasse zum Mund und liess Beth keine Sekunde aus den Augen, während er kostete. Sie tat es ihm gleich und wartete gespannt sein Urteil ab.
„Tatsächlich, ich fühle mich schon viel schläfriger.“
„Ja, mach dich nur lustig, du wirst schon sehen, was du davon hast, du Ungläubiger!“ Sie tauchte ihren Finger in die Schlagsahne und schmierte sie ihm mitten auf die Nase. Sowie er merkte, was gespielt wurde, liess er mit einer Hand seine Tasse los und schnappte sich ihr Handgelenk.
„Du kleines Biest, das machst du wieder weg!“
„Kann ich nicht, eine Hand an der Tasse, die andere befehligst du. Mir sind die Hände im wahrsten Sinne des Wortes gebunden. Aber auch wenn ich könnte, würde ich es nicht tun.“ Herausfordernd sah sie ihn an. Das Blitzen, das auf einmal in seinen Augen aufleuchtete, gefiel ihr überhaupt nicht. „Was hast du vor?“
Jérémie setzte seine eigene Tasse neben sich auf der Kochinsel ab und nahm ihr zweites Handgelenk. Dann führte er langsam ihre Hand mit der Tasse über ihren Kopf. Als sie begriff, was er vorhatte, wollte sie sich wehren, besann sich aber noch einmal und entschloss, dass heftige Bewegungen jetzt keine empfehlenswerte Taktik war. Also versuchte sie, sich mit reden aus der misslichen Lage zu befreien. „Das wirst du nicht wagen!“
„Ich werde.“
„Deine schöne Küche würde vollkommen schmutzig werden!“
„Kann man putzen.“
„Ich würde dir nie verzeihen.“
„Glaube ich dir nicht.“
„Ich müsste mich noch einmal mehr als nötig duschen, das kostet Wasser und Geld. Das ist nicht sehr ökologisch.“
„Dann lässt du das Duschen morgen eben bleiben.“
Weil sie sich mit Worten nicht mehr weiter zu helfen wusste, funktionierte sie ihre einzige verbleibende Waffe kurzerhand um. Es war nicht wirklich ein Kuss, eher ein schnelles Küsschen. Aber es verfehlte seine Wirkung nicht. Vor lauter Überraschung lockerte Jérémie den Griff um ihre Handgelenke genug, damit Beth sich unbeschadet befreien konnte. Triumphierend grinsend drehte sie sich von ihm weg und wollte mit ihrer Tasse in ihr Schlafzimmer zurückgehen. Jérémie schien so aus der Fassung gebracht, dass er keine Regung zeigte, sondern sie einfach nur anstarrte. Doch dann erwachte er aus seiner Starre und griff wieder nach ihrem Handgelenk. Ruckartig drehte er sie erneut zu sich um, zog sie an sich und schaute ihr nur noch kurz in die Augen, bevor sich seine Lippen auf die ihren senkten. In dem kurzen Blick meinte Beth, die reine Leidenschaft zu erkennen. Doch sie war nicht mehr fähig, darüber nachzudenken. Seine Zungenspitze kitzelte neckisch an ihrer Oberlippe und forderte die ihre heraus. Ihr Mund gab nach und liess seine Zunge gewähren. Diese begann die neue Umgebung sofort heiss und innig zu erforschen. Die pure Leidenschaft durchzuckte Beth und jede Faser ihres Körpers schrie nach mehr. Gleichzeitig schien sie nicht mehr Herr ihres Körpers zu sein. Laut klirrend fiel die Tasse aus ihrer Hand auf den Boden und zerbarst in tausend Stücke, doch Beth hatte eher das Gefühl, dass soeben ihr Wille zerbrochen war. Sie schlang ihren Arm um Jérémies Hals und begann, seine Unterlippe mit den Zähnen zu bearbeiten. Als Reaktion darauf bekam sie seinen Körper zu spüren. Er presste sich selbst fest an sie und gleichzeitig zog er sie noch näher an sich. Beinahe hätte sie den Halt verloren, da veränderte er, ohne sie auch nur annähernd freizugeben, seine Position und hob sie in einer einzigen fliessenden Bewegung auf die Kochinsel. Ihre Beine fest um seinen Körper geschlungen, liess sie ihre Hände durch seine Haare gleiten und krallte sich darin fest, als sein Mund sich den Weg zu ihrem Hals bahnte. Zuerst war es nur ein sanftes Knabbern an ihrem Ohrläppchen. Zusammen mit seinem heissen Atem und der feuchten Zunge, die auf ihrem Weg jede einzelne Körperstelle zu reizen schien, hatte sie dann das Gefühl zu verbrennen. Getrieben von feuriger Leidenschaft glitten seine Hände unter den weichen Stoff ihres Tops, während die ihren sein Hemd bereits gnadenlos aufgerissen hatten. Jeden einzelnen seiner Muskeln wollte sie spüren, seine nackte Haut berühren. In einer Mischung von sanfter Annäherung und heissem Verlangen schob er ihr indes das Top weiter und weiter nach oben, bis seine Hände die Wölbung ihrer Brüste fanden. Diese Berührung bis ins letzte auskostend, liess sie mit einem lustvollen Seufzer den Kopf in den Nacken fallen, während sie ihr Becken fordernd an das seine drängte. Des Denkens nun endgültig unfähig hob er sie unvermittelt hoch und trug sie in das Wohnzimmer zum Sofa. Dort entledigten sie sich gegenseitig der restlichen Kleidung und sein Mund widmete sich der Erforschung ihres Körpers. Sie hatte das Gefühl, explodieren zu müssen. Ihr Körper bog sich ihm ganz selbstverständlich entgegen, als seine Hände über die Innenseite ihrer Oberschenkel zu ihrer Bauchdecke streiften. Nachdem er ihren Brüsten eine weitere Liebkosung geschenkt hatte, fanden seine Lippen zurück zu ihrem Mund. Gleichzeitig mit einem leidenschaftlichen Kuss liess er sich dann fast qualvoll langsam in sie hineingleiten. Sie konnte sein schweres Aufstöhnen hören und überliess sich dem absoluten Genuss. Ihre beiden Körper passten in ihren Bewegungen so perfekt zusammen, als wären sie füreinander geschaffen worden. Die Welt rundherum hatte sich schon lange aufgelöst und sie liessen sich willenlos in einen schwarzen Strudel der reinen Lust ziehen, der dann in beiden gleichzeitig in einer heftigen Explosion seinen Höhepunkt fand.
Schwer atmend öffnete Jérémie langsam die Augen und schaute direkt in ihre. Worte waren überflüssig. Er küsste sie sanft und liess sich an ihrer Seite nieder. Dann schob er seinen Arm hinter ihren Rücken und zog sie an sich. Schläfrig und zufrieden liess Beth es geschehen. Sie kuschelte sich in seine Schulterbeuge und schloss ihre Augen. Eine ganze Weile lagen sie einfach nur so da. Während Jérémie schweigend die Decke anstarrte, war Beth schon beinahe eingeschlafen. Unsanft wurde sie wieder aus ihrem Dämmerzustand gerissen, als sie seine tiefe Stimme vernahm.
„Seit wann habe ich eigentlich Schokopulver im Haus?“
„Zauberei.“ Dann war sie eingeschlafen.