Kapitel 10

 

Im ersten Moment wusste Beth nicht wo sie war. Blinzelnd versuchte sie den Schlaf aus ihren Augen zu treiben und einen klaren Kopf zu bekommen. Benommen setzte sie sich auf und langsam kam die Erinnerung zurück. Sie registrierte, dass sie offensichtlich auf Dinas Bett eingeschlafen war. Wie lange sie geschlafen hatte, wusste sie nicht, sie hatte nicht einmal gemerkt, dass ihre Erinnerungen mit der Zeit offenbar zu Träumen geworden waren. Sie stand auf und schaute auf die Uhr. Es war inzwischen später Nachmittag, aber unter den gegebenen Umständen, war das ein schlechtes Zeichen. Schliesslich konnte das nur bedeuten, dass ihre Ruhephase nicht von langer Dauer gewesen war.

Auf dem Weg in die Küche kam sie am Anrufbeantworter vorbei. Eine rote Zwei leuchtete auf dem Display und weil die traurigen Geschehnisse ihre Neugier nicht zu überschatten vermochten, drückte sie die Abhörtaste. „Hallo Liebes! Der nette Polizist hat gesagt, dass du wieder zurück in die Wohnung gegangen bist. Ich hoffe also, dass du dich ein bisschen ausruhst und darum nicht ans Telefon kommst. Papa und ich machen uns jetzt auf den Weg zu dir. Weil wir aber so kurzfristig für heute keinen Flug mehr bekamen, haben wir beschlossen, das Auto zu nehmen. Wir werden bald bei dir sein. Halte noch ein bisschen durch. Wir lieben dich! Bye!“

Beths Kinn begann schon wieder zu zittern, doch sie unterdrückte die Tränen, die wieder entweichen wollten. Es tat gut, die Stimme ihrer Mutter zu hören und zu wissen, dass sie das alles bald nicht mehr alleine durchstehen musste. Allerdings machte sie sich Sorgen um ihren Vater. Er war stark und bot gerne seine Schulter an, aber sie wusste genau, dass hinter dieser Fassade eine Welt für ihn zusammengebrochen war. Weil sie daran im Augenblick aber nichts ändern konnte, drückte sie erneut auf den Abhörknopf. Als sie die Stimme des, wie ihn ihre Mutter gerade noch genannt hatte, netten Polizisten vernahm, wurde sie nervös. Ob sie nun wegen seines Anrufes an sich nervös wurde oder ob die Aufregung daher stammte, dass er Neuigkeiten haben könnte, wusste sie nicht.

„Madame…“ Schweigen. „Ich meine Beth, ehm, ich hoffe, Sie sind gut nach Hause gekommen.“ Sie hörte, wie er sich räusperte. „Nun, ich wollte mich einfach erkundigen, wie es Ihnen geht und ob Sie sich ein bisschen ausruhen konnten. Also, melden Sie sich doch bei Gelegenheit. Ach ja, Ihre Mutter hat mich noch angerufen. Wenn ich sie richtig verstanden habe, ist sie unterwegs nach Frankreich. Vielleicht heitert Sie das ein bisschen auf. Okay, dann, au revoir.“ Beth konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie war gerührt über Jérémies Unsicherheit und gleichzeitig amüsiert darüber, dass er wieder die Höflichkeitsform gewählt hatte, um sie anzusprechen. Entgegen Beths anfängliche Befürchtung, die Ruhephase wäre zu kurz gewesen um etwas zu bewirken, begannen sich ihre Lebensgeister langsam, zurückzumelden. Entschlossen, sich trotz allen Widrigkeiten nicht unterkriegen zu lassen, machte sie sich auf den Weg ins Badezimmer. Noch während sie darauf zuging, begann sie, sich auszuziehen und das letzte Kleidungsstück landete direkt auf der Türschwelle zerknüllt am Boden. Beth stellte sich unter die dampfend heisse Dusche, schnappte sich nach ausgiebigen Abtrocknungsmassnahmen frische Kleidung, frisierte und schminkte sich und begutachtete das Resultat im Spiegel. Es war ihr trotz Makeup nicht ganz gelungen, zu vertuschen, dass sie viel geweint hatte, dafür waren die Augen einfach viel zu rot und geschwollen. Ansonsten war das Ergebnis zufriedenstellend. Mit ihrer Handtasche bewaffnet verliess sie dann die Wohnung.

 

Silvan sah sie von Weitem kommen und holte bereits zur Begrüssung aus, als sie kaum den ersten Blumentopf, der den Aussenbereich von der Strasse abgrenzte, erreichte.

„Madame, sie sehen heute wieder bezaubernd aus!“

„Ein Charmeur wie immer. Silvan, ich hätte eine Bitte. Könntest du mir vielleicht den Gefallen tun und mir zwei Kaffee für unterwegs machen?“

„Du willst nicht einen Moment hier bleiben? Das gibt es doch nicht! Liebe meines Lebens, setz dich doch bitte hin und trinke in Ruhe einen Kaffee. Ich verspreche dir auch, dich einzuladen und dich nach Strich und Faden zu verwöhnen.“

„Das ist sehr verlockend und dein Angebot ehrt mich natürlich, aber ich kann nicht. Ich habe noch eine Mission zu erfüllen.“

„Ah, du musst den Kaffee Dina bringen, stimmts?“

Beth biss sich auf die Lippen. Entgegen ihres guten Willens brachte sie es einfach nicht über sich, Silvan zu erzählen was geschehen war. Noch nicht. Also startete sie ein Ausweichmanöver. „Nein, der Kaffee ist für einen anderen Mann.“

Entsetzt schlug Silvan seine Hände vor den Mund. Irgendwie vermittelte diese Geste Beth das Gefühl, dass Silvan nicht nur Frauen nette Komplimente machte.

„Liebste Beth, nach so kurzer Zeit betrügst du mich schon. Ich verstehe euch modernen Frauen einfach nicht.“

Die altmodischen Damen verstehst du aber? Ich gratuliere, da bist du nämlich der Einzige. Bekomme ich jetzt zwei Kaffee zum mitnehmen?“

„Das muss eine Ausnahme bleiben, versprich es mir!“

„Ich, Elisabeth Clement verspreche dir, Silvan keine Ahnung wie weiter, beim Namen meiner Katze hoch und heilig, so wahr ich hier stehe, dass dies der erste und einzige Kaffee für unterwegs ist, den ich bei dir bestelle. Alle zukünftigen Bestellungen werde ich wieder hier vor Ort, unter deiner Kontrolle konsumieren.“ Ernst hielt Beth zwei Finger ihrer linken Hand in die Luft und die rechte Hand auf ihr Herz.

Skeptisch schaute Silvan sie an. „Wie heisst denn deine Katze?“

„Gertraud de Clement.“

Für einen kurzen Moment blieb Silvan der Mund offen stehen. „Ein aussergewöhnlicher Name.“ Die Worte kamen nur zögerlich über seine Lippen, so als wäre er sich nicht sicher, richtig gehört zu haben. Dein Kaffee kommt sofort. Gertraud de Clement…“ murmelte er, als er sich dann an der Kaffeemaschine zu schaffen machte.

Der Kaffee ging trotzdem aufs Haus.

 

Beim Polizeirevier angekommen, wurde Beth auf einmal unsicher. Hin und her überlegend, fragte sie sich, ob sie das nun wirklich tun sollte. Bevor sie sich allerdings eine Antwort darauf geben konnte, flog die Tür des Reviers auf und gab ihr den Blick auf den Innenraum frei. Leider konnten diejenigen im Gebäude so auch nach draussen sehen, weshalb er sie entdeckt hatte, bevor sie ihre Meinung ändern und kehrt machen konnte. Dann fiel ihr auf, dass die Falten an seinen Augenwinkel nicht nur tiefer, sondern auch etwas länger wurden, wenn er lächelte. Er setzte sich in ihre Richtung in Bewegung. „Sie haben meine Nachricht abgehört?“

„Du. Ja ich habe deine Nachricht gehört.“

„Oh, natürlich, du weißt ja, die Macht der Gewohnheit. Trinkst du immer zwei Kaffee?“

„Bitte? Oh, nun, nein. Mir ist aufgefallen, dass ich heute Morgen gegangen bin, ohne zu bezahlen, da dachte ich…“

„Das war schon in Ordnung. Ausserdem hat Louis uns eingeladen.“

„Nett von Louis.“ Langsam gewann sie ihre Fassung zurück. „Der Spender dieser schwarzen Brühe heisst Silvan.“ Sie zuckte mit den Schultern und reichte Jérémie einen Becher.

„Dann trinken wir also auf Silvan.“ Er hob den Becher und prostete Beth zu. Lächelnd erwiderte sie seine Geste. Jérémie trank einen Schluck und stiess einen Laut des Wohlgefallens aus. „Sehr lecker. Viel zu gut um in einem schmuddligen Polizeirevier getrunken zu werden. Was meinst du, gehen wir ein Stück?“

„Sehr gerne.“ Erleichtert entspannte sie sich allmählich.

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, bis Jérémie als erster das Wort ergriff.

Konntest du ein bisschen schlafen?“

„Ein wenig.“

„Das ist gut. Wie geht es dir denn jetzt?“

„Ich bin verwirrt, traurig, erschüttert und niedergeschlagen. Immer noch habe ich irgendwie das Gefühl, in einem schlechten Film gelandet zu sein. Eigentlich erwarte ich, dass sie jeden Moment um die nächste Ecke kommt und mich in den Arm nimmt. Es ist noch nicht richtig angekommen, dass das nie wieder der Fall sein wird.“ Wie auf Kommando bildete sich wieder ein Kloss in ihrem Hals. Tapfer schluckte sie ihn hinunter.

„Das wird noch eine ganze Weile dauern, bis du dich in die neue Situation eingefunden hast. Aber ich denke, wenn deine Eltern erst mal da sind, wird es einfacher. Dann kannst du deine Last wenigstens ein bisschen Teilen.“

„Ich hoffe sehr, dass du Recht hast. Es tut verdammt weh und irgendwie fühlt es sich so seltsam leer an.“ Sie legte ihre freie Hand auf ihren Bauch.

Ich denke, ich verstehe was du meinst. Es wurde dir ein Stück deiner selbst entrissen und das hat ein Loch hinterlassen, das man nicht mehr füllen kann. Aber wie sagt man so schön? Wunden heilen, sie hinterlassen Narben, aber sie heilen. Ich glaube, du bist stark genug, um in Zukunft mit der bleibenden Narbe leben zu können. Hast du schon eine Ahnung, wann deine Eltern hier sein werden?“

Erstaunt schaute sie zu ihm auf. Das waren Worte, die sie nicht von ihm erwartet hätte. Allerdings schienen ihm diese Worte irgendwie unangenehm zu sein, denn so schnell wie er das Thema angeschnitten hatte, hatte er es schliesslich mit der letzten Frage wieder gewechselt. Sie beschloss, nicht weiter darauf einzugehen und ihm einfach zu sagen, was er wissen wollte. „Nein, ich weiss nicht wann sie ankommen. Ich hatte lediglich eine Nachricht, dass sie sich auf den Weg machen würden, mehr weiss ich noch nicht.“

„Hat deine Mutter erwähnt, mit welchem Verkehrsmittel sie anreisen werden?“

„Sie sprach vom Auto. Ob sie allerdings den Eurotunnel nehmen oder ob sie mit der Fähre übersetzen, weiss ich nicht. Aber so wie ich meine Mutter kenne, hat sie sich für den Tunnel entschieden. Ihr ist unter der Erde wesentlich wohler, als auf dem Meer. Sie neigt leicht zur Seekrankheit. Da hilft es auch nicht, wenn man ihr erklärt, dass man den Seegang durch das Gewicht der Fähre nicht wirklich spürt. Das Wissen, sich auf dem Wasser zu befinden reicht aus, um ihr ein sanftes Grün ins Gesicht zu zaubern.

„Von London nach Nizza durch den Eurotunnel. Das ist eine lange Reise. Ich will dir nicht zu nahe treten, aber wäre es nicht einfacher gewesen, den nächstmöglichen Flug zu buchen?“

„Ich schätze, wenn alles richtig gut läuft, brauchen sie ungefähr 14 bis 16 Stunden. Einen Flug hätten sie erst morgen gehabt, was bedeutet, sie hätten bis dahin einfach ruhig warten müssen und das hätten weder meine Mutter noch mein Vater ausgehalten. Sie mussten sich beschäftigen, um sich abzulenken. Wenn dieser Beschäftigungsdrang eine sechzehnstündige Autoreise zur Folge hat, dann ist das eben so. Sie lächelte ihn schief an. „Es klingt verrückt, ich weiss, aber so sind sie nun mal.“

„Weißt du, ich finde diese Aktion nicht verrückt. Eher beneide ich dich um den Aktionismus, den deine Eltern an den Tag legen, wenn es darum geht, der Familie beizustehen.“

Jetzt wurde sie wirklich neugierig. Aber sie konnte sich vorstellen, dass er zurückkrebsen könnte, wenn sie ihn falsch ansprach. Leider kannte sie ihn aber erst seit gestern, weshalb sie nicht wusste, wie sie es richtig anpacken sollte. Also sagte sie: „Deine Eltern würden doch bestimmt dasselbe tun.“

Jaja, bestimmt. Ich muss dann mal zurück. War nett mit dir zu plaudern und vielen Dank für den Kaffee. Ich melde mich, wenn ich Neuigkeiten habe.“

Beth fluchte innerlich, das waren also nicht die richtigen Worte gewesen, aber zumindest wusste sie jetzt, dass dieses Thema ein heikles Pflaster war. Nur brachte ihr dieses Wissen jetzt nichts mehr. „Ist gut. Danke.“

Jérémie wandte sich zum gehen, dann drehte er sich noch einmal um. „Klingt abgedroschen, aber ich sag es trotzdem. Kopf hoch, das wird schon wieder.“ Diesem Spruch folgte ein aufmunterndes Lächeln und dann war er weg.

Ja, es klang abgedroschen und auch furchtbar hohl. Wenigstens hatte er seine Manieren nicht völlig vergessen. Beth schaute in die Richtung, in die er weggegangen war und sie fragte sich, ob er sich dessen bewusst war, wie viel er bereits von sich preisgegeben hatte. Er hatte das, was in ihm vorging, indirekt angesprochen. Denn nur jemand, der sich selbst in einer ähnlichen Lage wieder gefunden hatte, konnte ihre gegenwärtigen Emotionen so treffend formulieren. Wie dem auch sei, es ging sie ja eigentlich nichts an.

 

 

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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