Kapitel 47
Wie ein verlorenes Rehkitz irrte Beth durch die Strassen Nizzas. Hinter einem Schleier frischer Tränen nahm sie ihre Umgebung kaum wahr. Es interessierte sie nicht, dass sie angeglotzt wurde, als wäre sie die lebende Mona Lisa und sie nahm auch keine Rücksicht auf ihre Mitbürger. Sie wollte einfach nur nach Hause. Nach England. Dorthin, wo vor gar nicht allzu langer Zeit noch alles gut war. Blind vor Tränen stolperte sie die Treppe zu Dinas Wohnung hinauf. Nach wie vor waren die Räumlichkeiten versiegelt, aber das spielte keine Rolle. Kurzerhand durchbrach Beth das Siegel und betrat die Wohnung, um sich ein paar Dinge zu holen. Die Sachen, die sie noch bei Jérémie liegen hatte, wollte sie erst einmal dort lassen. Hastig packte sie alles, was ihr in die Hände fiel in eine grosse Reisetasche. Dass sie die Tasche am Ende beinahe nicht mehr tragen konnte, war nebensächlich. Dann schnappte sie sich das Telefon und liess sich über die Auskunft mit dem Flughafen verbinden.
„Guten Tag. Sprechen Sie Englisch?“ Das Bedürfnis, sich in der Muttersprache zu unterhalten, konnte sich Beth nur damit erklären, dass das zurzeit die einzige Möglichkeit war, sich wenigstens ein bisschen traute Heimat nach Nizza zu holen.
„Bonjour Madame! Ja, das ist kein Problem. Was wünschen Sie?“
Erleichtert, etwas zu unternehmen versuchte Beth einen Flug nach England zu buchen. „Haben Sie in irgendeiner Maschine, die heute Abend abfliegt und irgendwo in England landet noch einen Platz für eine Person?“
„Sie wünschen einen Flug irgendwohin in England für eine Person, verstehe ich Sie richtig?“
„Absolut.“
„Madame, das dürfte sich einrichten lassen. Dürfte ich noch Ihren Namen wissen?“
„Oh, natürlich. Elisabeth Clement.“
„Elisabeth Clement? Wann haben Sie Geburtstag?“
Etwas erstaunt darüber, was ihr Geburtsdatum zur Sache tat, gab Beth es preis.
„Hm. Danke. Wohnen Sie zufällig in London?“
„Ja. Woher wissen Sie das und was sollen überhaupt diese Fragen?“
„Zahlen sie mit Kreditkarte?“ Fuhr der Angestellte ungerührt fort.
„Ja. Brauchen Sie die Nummer?“
„Gerne.“
Beth nannte sie. Was dann folgte, kam völlig überraschend.
„Oh, es tut mir leid Madame, aber wir können Ihnen leider kein Ticket verkaufen.“
„Was? Warum nicht? Sie sagten doch eben noch, dass es kein Problem wäre!“ Langsam verlor Beth auch noch ihre letzten Nerven.
„Wir haben strickte Anweisung, Sie nicht ausreisen zu lassen.“
„Was soll das heissen? Wer erteilt eine solche Anweisung?“
„Die Polizei von Nizza.“
„Dieser verdammte…“ Beth hielt inne und ermahnte sich zur Ruhe. Schliesslich konnte der Angestellte nichts dafür. „Okay. Könnten Sie mir wenigstens sagen, ob das für alle Airlines gilt?“
„Sie hängen quasi am schwarzen Brett. Tut mir leid.“
„Schon gut. Trotzdem vielen Dank. Au revoir, Monsieur.“ Fassungslos beendete Beth das Gespräch und lehnte sich zurück. Gähnend fasste sie einen neuen Plan. „Dann fahren wir eben mit dem Zug.“ Doch bevor Beth einen weiteren Gedanken fassen konnte, wurde sie von der längst überfälligen Erschöpfung übermannt und sank in einen unruhigen Schlaf. Sich hin und her wälzend träumte sie von Henry, der sie erneut angriff, aber in ihrem Traum fand das Ganze auf offener Strasse statt. Verzweifelt versuchte sie, sich zu wehren und aus den Händen, die sich in Form von Klauen um ihren Hals schlossen, zu befreien. In ihrer Not rief sie nach Jérémie und auf einmal veränderte sich das Gesicht von Henry und sie blickte in die Augen Jérémies. „Du musst nicht rufen, ich bin doch schon da!“, sagte er und begann teuflisch zu lachen.
Schweissgebadet schreckte Beth aus ihrem Traum auf. Trotz der sommerlichen Wärme zitterte sie am ganzen Leib und sie fühlte sich, als hätte ihr jemand das Herz herausgerissen. Dennoch wollte sie sich nicht eingestehen, dass sie in Bezug auf Jérémie nicht nur wegen des Vertrauensbruchs so verletzt war.
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr rappelte sich Beth auf und wollte die fertig gepackte Tasche auf die Schulter schwingen. Dieses Vorhaben musste sie aber mit einem Ausruf der Überraschung sogleich wieder abbrechen. Sie konnte zerren und ziehen, die Tasche bewegte sich keinen Millimeter.
„Liebe Güte, was habe ich denn da alles reingestopft?“ Erstaunt öffnete Beth den Reisverschluss. Beim Anblick des Inhalts bekam sie grosse Augen. Allerlei unnütze Dinge stapelten sich bis zur Öffnung und als sie sogar den Kerzenständer aus dem Wohnzimmer zwischen ihrer Unterwäsche aufblitzen sah, begann sie an ihrer Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln. Kurzerhand beförderte sie den gesamten Inhalt der Tasche ans Tageslicht und legte ihn daneben. Dann packte sie noch einmal neu, sorgsam darauf bedacht, ihr Zweithandy in Griffweite einzustecken. Damals in London hatte sie sich selbst für paranoid erklärt, als sie sich vor ihrer Abreise nach Nizza eine zweite SIM-Karte mit ihrer Telefonnummer hatte erstellen lassen. Heute beglückwünschte sie sich insgeheim zu diesem Einfall.
Das Gepäckstück liess sich diesmal so leicht schultern, dass Beth das Gefühl beschlich, etwas vergessen zu haben. Bevor sie sich aber mit diesem Gedanken verrückt machte, trat sie vor die Wohnungstür. Ohne noch einmal zurückzublicken, schlug sie den Weg zum Bahnhof ein. Fest entschlossen, dass wenn auch kein Bahnangestellter ihr ein Ticket verkaufen würde, sie im schlimmsten Fall auch mit dem Taxi ausreisen würde. Hauptsache, sie kam hier weg.