Kapitel 46

 

Schwer atmend, mit dunklen Ringen unter den Augen, zerzausten Haaren und mehr blauen Flecken als je zuvor, stand Beth mit irrem Blick in der Tür. Anstatt sie hereinzubitten starrte Jérémie sie nur aus böse funkelnden Augen an.

Jérémie…“ Nach Luft japsend setzte Beth zum Sprechen an, musste den Versuch aber bald wieder aufgeben.

„Beth?“ Mühsam gelang es ihm seine Wut zu zügeln. Am liebsten hätte er sie gepackt und geschüttelt.

Langsam kam sie wieder zu Atem. Die Türe hinter sich schliessend, trat sie vollständig in das Büro ein und ging auf den grossen Schreibtisch zu, hinter dem Jérémie abwartete. Sie schaute ihm direkt in die Augen und ignorierte den offensichtlich kurz bevorstehenden Wutanfall. Dieses Risiko musste sie eingehen, denn sie brauchte Hilfe und sie wusste nicht, an wen sie sich sonst wenden sollte. Jérémie, ich weiss, du bist stinkwütend und wahrscheinlich wünscht du dir nichts lieber als mir an die Gurgel zu springen. Ich war ungehorsam, unvorsichtig und es hätte mir alles Mögliche passieren können, als ich so unbedacht mit dem Fahrrad mitten in der Nacht aus dem Kloster geflohen bin. Dazu kommt, dass ich unten an der Hauptstrasse Autos mit wildfremden Menschen darin angehalten habe und gefragt habe, ob sie mich mitnehmen würden. Fakt ist aber, ich bin heil hier angekommen und ich habe ein äusserst wichtiges Anliegen, bei dem ich deine Hilfe brauche.“ Nachdem sie diese Worte förmlich ausgespuckt hatte, liess sie sich schwer auf einen Stuhl fallen.

Immer noch wütend, aber auch neugierig über diesen angekündigten wichtigen Grund deutete Jérémie mit einem Kopfnicken an, dass er zuhörte.

„Ich habe bereits gestern Nacht gegen die Regeln verstossen und habe mich heimlich am Telefon der Nonnen bedient. Und während ich mit meinen Eltern telefonierte, gab es einen sonderbaren Vorfall.“

Beunruhigt durch Beths Tonfall krallte sich Jérémie an der Tischplatte fest. „Was ist passiert?“

„Ich weiss nicht genau. Aber es hörte sich an, als wären meine Eltern verhaftet worden! Allerdings kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, weshalb man sie erneut hätte einsperren sollen! Ich weiss was du jetzt denkst. Du fragst dich bestimmt, warum ich ausgerissen bin und nicht einfach angerufen habe. Das kann ich dir erklären. Einerseits hätte man mich fast beim Telefonieren erwischt und andererseits konnte ich nicht tatenlos herumsitzen. Hilfst du mir?“ Die Verzweiflung begann langsam Überhand zu gewinnen, doch Beth kämpfte tapfer dagegen an und schluckte den Kloss, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, wieder hinunter. Doch als sie von Jérémie keine Antwort erhielt, wurde sie unsicher. Jérémie? Was ist los?“ Er hatte die Augen gesenkt, weshalb sie sich leicht ducken musste, um den Blickkontakt wieder herstellen zu können. Dieses Unterfangen bereute sie aber sogleich. Was sie in seinen Augen las, sprach mehr als tausend Worte. Das Entsetzen war ihr deutlich anzusehen, dennoch sagte er nichts. Er wusste, dass sie verstanden hatte.

„Warum? Warum hast du das getan?“ Die zuvor hinuntergeschluckten Tränen krochen erneut in ihr hoch.

Endlich fand er seine Sprache wieder. „Ich hatte meine Gründe.“ Sie so zu sehen, setzte Jérémie mehr zu, als er zugeben wollte. Es zerriss ihm beinahe das Herz und er wäre am liebsten zu ihr gegangen, um ihr diesen verletzten Ausdruck aus dem Gesicht zu wischen und sie fest in die Arme zu schliessen. Und obwohl er wusste, dass er vom beruflichen Standpunkt aus richtig gehandelt hatte, begann er seine Tat zu bereuen. Henry und Larissa sind im Augenblick ausser Gefecht gesetzt. Ich habe in Henrys Auto Pillen gefunden, die dieselben Inhaltsstoffe haben, wie diejenigen, die deine Tante töteten. Das Problem war nun aber, dass die Zusammensetzung der Pillen zwar stimmte, aber keine Prägung zu finden war. Also habe ich nachgeforscht, woher Henrys Tabletten kommen konnten. Ich habe daher Henrys Pillen mit den mir aus England übermittelten Fotos und Auswertungen der Inhaltsstoffe der Tabletten verglichen, die dein Vater mitführte. Er holte tief Luft, bevor er weiter sprach. Es stimmt alles exakt überein.“

Ungläubig hörte Beth den Ausführungen zu. Sie war aber nicht fähig, zu verstehen, was an ihre Ohren drang. „Was willst du damit andeuten?“

„Beth, dein Vater erhält kein Rezept mehr für diese Tabletten. Und normalerweise tragen solche Pillen eine Prägung, in diesem Fall aber nicht.

„Nein…“ Langsam erhob sich Beth wieder von ihrem Stuhl. Sie wollte nichts mehr hören.

„Beth, die Tabletten, die ich in Henrys Wagen gefunden habe sowie diejenigen deines Vaters tragen keinerlei Prägung. Vor einiger Zeit wurde eine Drogenküche in einem Vorort von London hops genommen und eine ziemlich grosse Menge prägungslose Tabletten beschlagnahmt, die genau die Inhaltsstoffe aufwiesen, um die es hier schon die längste Zeit geht. Man sagt, deine Tante hätte eine Affäre mit Henry gehabt, vielleicht war sie aber auch nur die Zwischenhändlerin im Austausch von illegalen Medikamenten, die dein Vater nach Frankreich brachte. So unglaublich das für dich klingen mag, so sehr sind dies für mich Fakten und dazugehörende Verdachtsmomente, die, zugegeben, noch erhärtet werden müssen. Denk doch mal nach! Dein Vater wurde am Zoll aufgehalten. Er hatte eine grössere Menge dieser Tabletten dabei und Henry hatte solche von England im Auto versteckt. Dazu kommt, dass, was auch immer die beiden miteinander hatten, sich deine Tante und Henry kannten. Eins führte zum andern. Ich musste einfach handeln!“

Beths Augen hatten sich von ihrem sanften hellblau in ein bedrohliches dunkelblau verdüstert.

„Beth, das ist noch nicht alles, also setz dich bitte hin und hör mir zu!“ Mit energischem Tonfall versuchte Jérémie Beth dazu zu bringen, sich wieder niederzulassen, doch ihr war ganz und gar nicht danach zumute.

„Oh doch, das ist alles!“ Unschlüssig, ob sie die gesamten Akten nicht einfach vom Tisch fegen sollte, liess sie in ihrem Ärger den Blick noch einmal über den Schreibtisch schweifen. Sie sah, worauf Jérémie zeigte, begriff es aber nicht. Zusehr war sie mit dem in ihr tobenden Gefühlssturm beschäftigt. Schlussendlich beliess sie den Tisch dann aber, wie er war und rauschte ohne ein weiteres Wort aus dem Büro.

Nachdem Beth durch ihren Abgang genauso für Furore gesorgt hatte, wie durch ihren Auftritt, streckte Irene zögerlich den Kopf in Jérémies Büro. „Chef? Ist alles in Ordnung?“

Kochend vor Wut überlegte sich Jérémie, was ihm in dem Büro am unwichtigsten war, damit er es an die Wand werfen konnte, entschied sich dann aber, diese Art von Wutausbrüchen weiterhin den Frauen und deren Geschirr zu überlassen. „Wonach sieht es denn aus?“

„Nun, nicht unbedingt nach trauter Zweisamkeit…“ Es gelang Irene nicht, ihr Bedauern darüber ganz zu unterdrücken.

„Das haben Sie richtig bemerkt und damit ist die Sache erledigt. Stecken Sie Ihre Nase lieber wieder in diesen beschissenen Fall, damit ich dieses kleine störrische Gör endlich wieder los werde.“

Diese Bemerkung ging Irene vollständig gegen den Strich. Um nicht lauthals zu protestieren, hielt sie sich an dem Gedanken fest, dass es sich bei dieser Reaktion um einen völlig natürlichen Schutzmechanismus der menschlichen Psyche handeln musste. Das half. „In Ordnung, Inspecteur.“ Damit zog sie ihren Kopf wieder zurück und schloss die Tür.

 

Wieder alleine hörte Jérémie seine Gedanken. Sein Gewissen meldete sich und seine Gefühle fuhren Achterbahn. „Das halt ich nicht aus!“ Beide Hände flach auf den Tisch schlagend stand er auf, packte seine Trainingssachen und ging unter den wachsamen Blicken seiner Untergebenen in die unteren Räumlichkeiten um sich so richtig zu verausgaben.

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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