Kapitel 15
Bald stellte sich heraus, dass auch ein Drink mit ihr keine gute Idee war, einmal abgesehen davon, dass es nicht bei nur einem blieb. Sie steuerten in ein Pub im Zentrum der Altstadt. Es war, wie ein Pub sein musste. Die Bar und die restliche Einrichtungen waren in dunklem Holz gehalten, überall hingen Kleeblätter herum und es war stickig, klebrig und heiss. Beth fühlte sich auf Anhieb pudelwohl. Kaum traten sie ein, liess sie Jérémie stehen, ging in aller Selbstverständlichkeit auf die Theke zu und bestellte, ohne Jérémie zu fragen, was er wollte. Jérémie hatte lässig die Daumen in seine Hosentaschen eingehakt und beobachtete das Schauspiel. In einem Tierfilm würde man jetzt wahrscheinlich den Sprecher in einem weichen Singsang sagen lassen: ‚Das Weibchen bewegt sich in ihrer gewohnten Umgebung vollkommen selbstverständlich und selbstbewusst.’ Er zuckte mit den Schultern und trug seinen Teil zur Situation bei, indem er einen der letzten Stehtische ergatterte. Kurz darauf kam Beth mit zwei Pint Guinness zurück und setzte sie auf dem Tisch ab.
Anerkennend nickte er und nahm eines der Biere zu sich. „Gute Wahl! Santé!“
„Cheers!“ Beth nahm einen grossen Schluck und setzte das Glas wieder ab. Genüsslich liess sie ihre Zunge über ihre Oberlippe gleiten und ein seliges Lächeln breitete sich über ihr ganzes Gesicht aus.
„Das ist jetzt genau das Richtige. Aber sei gewarnt, ich tendiere nach einem Glas ein bisschen zu unkontrollierten Kicheranfällen.“
„Ach ja? Wenn das so ist, muss ich dein Bier leider aufgrund nicht einzuschätzender Folgen nach dem Konsum beschlagnahmen.“ Spielerisch zog er ihr Bier zu sich und wollte bereits zum Trinken ansetzen, als Beth protestierend eingriff.
„Einen Moment! Die Folgen sind voraussehbar, weil ich es dir gesagt habe, also her mit dem Getränk.“ Eilig entriss sie ihm ihr Glas, bevor die dunkle Flüssigkeit auf seinen Mund traf. Es entstand eine kurze Pause, in der sich beide intensiv mit der Betrachtung ihres Pints beschäftigten. Jérémie setzte als erster wieder zu einem Gespräch an.
„Sag mal, darf ich fragen, warum dein Vater im Rollstuhl sitzt?“
Beth schaute auf und traf direkt seine Augen. Der Schalk umspielte ihre Gesichtszüge. „Du darfst fragen. Aber erwartest du auch eine Antwort?“
„Nein, normalerweise nicht. Aber in diesem besonderen Fall würde mich die Antwort wirklich interessieren, wenn ich damit nicht einen wunden Punkt treffe.“
„So wie ich bei dir gestern?“ Sie wusste, dass sie mit diesem Spruch ihr Glück herausforderte und sie spürte, wie er zögerte. Besser, dachte sie. Gestern hatte er ohne zu zögern den Rückzug angetreten. Eigentlich erwartete sie nicht wirklich eine Antwort, sie ging eher davon aus, dass er das Thema wieder auf ihren Vater lenken würde. Aber sie hatte sich geirrt. Diesmal spielte er mit.
„In der Tat. Ich dachte schon, du hättest mein Benehmen von gestern vielleicht vergessen. Stell dir vor, dass ich gestern einfach so abgerauscht bin und darüber hinaus noch meine Manieren vergessen habe, war mir äusserst peinlich und ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wie ich es wieder gut machen kann. Schliesslich wird in diesem Fall ein Profi und nicht ein Kindskopf gebraucht.“
„Wow, jetzt bin ich aber wirklich überrascht.“
Mit schief gelegtem Kopf und zusammengekniffenen Augen blitzte er sie an. Sie lächelte mitleidig. „Nein, im Ernst. Ich habe mir gedacht, dass ich wohl einen Schritt zu weit gegangen bin. Weißt du, ich glaube, du verstehst etwas von deinem Handwerk und darum vertraue ich dir. Das ändert aber nichts daran, dass es Dinge im Leben eines Menschen gibt, die selbst den bulligsten Bullen aus dem Konzept bringen.“ Sie verstummte und wurde dann ernst. „Darf ich dich auch etwas fragen?“
„Ich ahne, was kommt. Aber ja, du darfst. Denn wie war das noch mal? Fragen darfst du, ob du eine Antwort erhältst, ist etwas anderes. Da ich auf meine Frage tatsächlich noch keine Antwort erhalten habe, werde ich wohl ähnlich mit deiner verfahren müssen.“
„Zur Kenntnis genommen. Du erhältst deine Antwort, versprochen, aber erst möchte ich wissen, was zwischen dir und deinen Eltern schief gelaufen ist.“
Jérémie presste die Lippen aufeinander und starrte ins Leere, fast so, als wäre er mit seinen Gedanken auf einmal an einem ganz anderen Ort in einer anderen Zeit.
„Ich glaube, so ziemlich alles“, sagte er schliesslich. Beth hatte aber das Gefühl, dass er noch nicht ganz von seiner kleinen Zeitreise zurückgekehrt war.
„Glaubst du im Ernst, du kommst mir so einfach davon?“
„Ich habe es gehofft, meine Hoffnung scheint aber enttäuscht zu werden.“
„So ist es. Was ist passiert?“
„In Ordnung.“ Jérémie trank noch einen grosszügigen Schluck aus seinem Pint. Als er das Glas wieder absetzte, begann er, den Blick auf die Tischplatte gerichtet, zu erzählen. „Meine Mutter war eine streng gläubige Katholikin. Leider war ihre Auslegung des Glaubens auch ganz schön extrem. Mein Vater war ein Arschloch. Er belog und betrog, was das Zeug hielt, konnte aber immer den Schein wahren. Als ich auf die Welt kam, war meine Mutter entsetzt. Ich habe nämlich ein Muttermal, das sie als Teufelskralle interpretierte. Eigentlich war das mein Todesurteil. Da meine Mutter aber nicht nur extrem religiös war sondern auch ein bisschen Grips hatte, behielt sie mich, aber den Tag hindurch ignorierte sie mich hauptsächlich und in der Nacht kam sie an mein Bett, stellte Kerzen auf und startete den Versuch, mir betend den Teufel auszutreiben. Ich musste läuternde Bäder nehmen, die aus eiskaltem oder kochendheissem Wasser bestanden und manchmal musste ich ekelhafte Mixturen trinken, die meine Seele hätten retten müssen. Leider war ich aber entgegen dem Glauben meiner Mutter doch nur ein Mensch. Durch die ewige Tortur hatte ich abwechselnd Verbrennungen und Erfrierungen und ich verbrachte ganze Nächte damit, mich zu übergeben. Oft denke ich, dass sie mich mit diesem Zeug irgendwann zu vergiften hoffte. Wie es aussieht, gelang es ihr aber nicht.“ Jérémie verstummte abrupt.
„Und dann?“ Beths Taktgefühl wurde durch ihre Neugierde überschattet.
„Ist das nicht genug für einen Abend?“
„Lass mich jetzt nicht hängen. Du scheinst mir ziemlich normal zu sein, wie hast du das geschafft?“
„Du sprichst meine Psyche an? Beth, du solltest dich nicht auf den ersten Eindruck von einem Menschen verlassen, das kann gefährlich werden.“
In Jérémies Augen blitzte etwas auf, das Beth einen Schauer über den Rücken jagte.
„Vielleicht noch ein Guinness?“ Beth hatte ihres leer, aber es war ihr nicht zum Kichern zumute. Sie versuchte ihr unbehagliches Gefühl abzuschütteln und redete sich ein, dass sie sich alles nur einbildete. Möglicherweise war ein Guinness doch genug.
„Gerne. Aber diesmal hole ich es.“ Der düstere Gesichtsausdruck war so schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war.
Die neuen Gläser standen im Eiltempo auf dem Tisch. Zufällig berührte Jérémie Beths Arm und es durchzuckte sie wie ein Blitz. „Definitiv, ein Glas hätte gereicht.“
„Hast du etwas gesagt?“
Beth schaute auf. Sie war sich nicht bewusst gewesen, diese Bemerkung laut ausgesprochen zu haben.
„Nein! Ich, ehm, habe nur laut gedacht, nicht so wichtig.“ Reiss dich zusammen, mahnte sie sich selbst und hoffte, dass sie wenigstens das wirklich nur gedacht hatte.
Wo das Bier nun mal auf dem Tisch stand, stiessen sie noch einmal an und genossen es auch.
„Also, ich habe dir von meiner verkorksten Kindheit erzählt, jetzt bist du dran“, nahm Jérémie den Faden von Neuem auf.
„Du gibst wohl nie auf, was?“
„Du doch auch nicht.“
Beth sah ein, dass diese Schlussfolgerung richtig war und Jérémie nach seiner Erzählung fairerweise auch ihre Geschichte verdient hatte. „Mein Vater hatte einen schweren Autounfall. Zu dieser Zeit war ich aber noch nicht auf der Welt. Ich kenne ihn nur mit diesem Rollstuhl. Anders kann ich ihn mir nicht vorstellen. Aber manchmal gibt es Phasen, in denen er versucht aufzustehen. Soweit ich weiss, schaffte er es aber nie. Nach solchen Aktionen ist er immer niedergeschlagen.“
„Warum tut er es dann immer wieder?“
„Einmal habe ich meine Eltern belauscht, nachdem mein Vater wieder versucht hatte aufzustehen. Er sagte zu meiner Mutter, dass der Arzt ihm damals schliesslich gesagt hatte, es würde eine winzige Möglichkeit bestehen, dass er wieder lernen könnte zu Gehen. Ich glaube, an dieser Hoffnung hält er einfach fest und versucht es darum immer weiter. Und wenn es nicht klappt, hat er es wenigstens versucht. Einmal, da war ich noch klein, habe ich ihn direkt angesprochen, so wie Kinder eben sind, und ihn gefragt, weshalb er immer in einem rollenden Stuhl sitze und nicht wie bei anderen Kindern, neben mir her laufen würde. Er zog mich auf seinen Schoss und sagte mir, er würde das tun, damit er immer gleichgross sein könne wie ich. Jetzt ist er kleiner. Aber irgendwie hoffe auch ich, dass er eines Tages wieder gleichgross sein kann wie ich es bin.“
„Das ist gut, diese Geschichte gefällt mir um einiges besser als meine.“
„Jérémie, ich habe noch eine Frage.“
„Was denn? Möchtest du noch wissen ob Würmer husten können?
Etwas irritiert über diesen skurrilen Ausflug in die Welt der Tiere, nahm Beth Jérémies Gedanken dennoch auf. „In Anbetracht des Wohnortes der Würmer bist du auf dem richtigen Weg, aber eigentlich hätte ich gerne gewusst, ob du schon etwas von der Autopsie meiner Tante vernommen hast.“
„Nicht schon wieder. Was hast du bloss an dir, dass ich immer bei dir in solche Fettnäpfchen trete? Bitte entschuldige. Ich habe noch nichts gehört, aber es dauert bestimmt nicht mehr lange bis die Ergebnisse vorliegen. Beth, es tut mir wirklich Leid.“
„Ist schon gut, du konntest ja nicht wissen, was ich fragen wollte. Jetzt beruhige dich, ich bin hart im nehmen und eigentlich wäre es wirklich interessant. Können Würmer husten?“
Jérémie schaute auf die Uhr. „Was meinst du, besprechen wir diese universumsverändernde Frage auf dem Weg nach Hause?“
„Das können wir gerne.“
Gemeinsam verliessen sie das Pub und schlenderten durch die Gassen. Ganz der Gentlemen brachte er sie bis zu der Wohnung ihrer Tante. Die Frage, ob Würmer husten konnten, wussten sie aber auch nach eingehender Diskussion nicht zu beantworten.
„Ich informiere mich gleich morgen im Internet und melde mich dann bei dir. Ist das ein Angebot?“
Sie streckte ihm ihre Hand hin. „Hand drauf.“
Eine Welle ihres Parfüms wehte ihm entgegen und rief ihm ihre Nähe überdeutlich ins Bewusstsein. Sie stand mit ihrer ausgestreckten Hand direkt vor ihr und schaute ihn herausfordernd an. Er erwiderte ihren Blick und nahm die dargebotene Hand in seine. Obwohl es nur die Besiegelung eines Versprechens war, hatte er das Gefühl, sich verbrannt zu haben. Da der Handschlag bereits länger dauerte als nötig, liess er sie etwas ungeschickt los. Von ihren Augen konnte er sich nur mit Mühe lösen. Das übernahm dann aber sie für ihn. Etwas verlegen grabschte sie ihre Handtasche von der Schulter und suchte nach dem Schlüssel. „Gefunden!“ Sie hielt ihn triumphierend in die Höhe und holte tief Luft. „Na dann, gute Nacht.“
„Ja, also, gute Nacht. Schlaf gut.“
Unbeholfen lächelte er ihr noch einmal zu und wandte sich dann ab. Beth lief auf ihre Haustür zu und bemerkte deshalb nicht, dass Jérémie sich noch einmal umdrehte und ihr nachschaute. Er bemerkte, dass ihm ihre Rückenansicht in diesen Jeans noch besser gefiel, als in den Stoffhosen, die sie bei ihrer ersten Begegnung trug. Nachdem sie durch die Haustür geschlüpft war, machte er sich dann schliesslich ebenfalls auf den Nachhauseweg.
Kaum hatte Beth die Wohnung betreten, als auch schon ihr Mobiltelefon zu klingeln begann. Hastig wühlte sie in ihrer Tasche und drückte auf den grünen Knopf.
„Hallo?“
„Beth? Beth! Na endlich! Wo warst du denn solange?“
„Jedenfalls nicht im Gefängnis.“ Diesen Seitenhieb konnte sie sich einfach nicht verkneifen. „Tut mir leid, ich beginne noch einmal. Hallo Mama, es tut wirklich gut dich zu hören. Seid ihr in Ordnung?“ Beth lehnte sich an die Tür und liess sich auf den Boden sinken.
„Ja, es geht uns gut. Ich habe einem Polizisten ein blaues Auge verpasst.“ Die kindliche Freude, die in ihrer Stimme mitschwang, brachte Beth zum Lächeln.
„Mama, so etwas tut man aber nicht. Und ladylike ist es auch nicht. War das wirklich nötig? Was hast du nun davon?“ In solchen Augenblicken fragte sich Beth, wer die Mutter und wer die Tochter war.
„Das weiss ich doch auch. Aber er war ein arrogantes Arschloch, er hat deinen Vater herablassend behandelt, er hat seine Macht vollständig ausgenutzt und er hat uns davon abgehalten zu dir zu fahren. Dazu kommt, dass wir wirklich nicht in der Stimmung für solche Spässe waren. Was in Anbetracht dessen, dass meine Schwägerin gestorben ist und meine Tochter jetzt alleine durch diese beschissene Zeit muss, nur verständlich ist. Oder etwa nicht?“
„In gewisser Hinsicht durchaus. Aber zuschlagen?“
„Mir ist der Geduldsfaden gerissen. Es war doch nicht geplant!“
„Wenn wir jetzt den Ärger, den du am Hals hast, gegen die kleine Genugtuung, die du bestimmt gefühlt hast, aufwiegen, hat sich dieser Ausraster dann gelohnt?“
„Eigentlich nicht. Aber ich kann es nicht mehr ändern.“
„Stimmt.“ Ihre Mutter hatte Recht, weshalb Beth dieses Thema abhaken konnte. „Geht es Papa auch gut?“
„Ja, er ist unter der Dusche. Ich werde ihn aber von dir grüssen.“
„Das ist gut. Danke. Wo seid ihr denn jetzt?“
„In einem Hotel in Folkestone. Unser Auto und die anderen Sachen geben sie erst morgen frei. Wir durften nur das Nötigste mitnehmen. Sie sind immer noch der Meinung, dass wir irgendwo ein geheimes Versteck für die vermeintlich weiteren Medikamente haben. Aber sag, wo warst du die ganze Zeit über? Auch vorhin. Wir versuchten dich sofort zu erreichen, als wir im Hotel waren.“
Beth erzählte ihrer Mutter von ihren Erlebnissen. Dann erklärte sie ihr, wie sie mit Jérémie zusammen herausgefunden hatte, wo sie nach ihr suchen musste. „Tja, und jetzt bin ich hier und schlussendlich doch noch mit dir am Telefon“, schloss sie ihre Ausführungen.
„Jérémie? Man nennt sich also beim Vornamen?“
„Mama, deine mütterlichen Sensoren spielen wieder verrückt. Es ist nicht so wie du denkst. Er ist Polizist, er bearbeitet Dinas Fall und er hilft mir, während meine Eltern sich selbst in der unpassendsten Zeit in den Knast manövrieren. Noch Fragen?“
„Nein, Euer Ehren. Liebes?“
„Ja?“
„Das was passiert ist und das was ich getan habe und dass ich jetzt deswegen nicht bei dir sein kann, tut mir wirklich unendlich Leid. Und deinem Papa geht die ganze Sache auch ziemlich an die Nieren.“
„Ist schon gut, Mama, ich schaff das schon.“
„Das glaub ich dir. Gute Nacht, mein Schatz.“
„Gute Nacht, Mama. Ich vermisse euch!“
„Wir dich auch. Aber wir sehen uns bald. Bye!“
Beth liess das Handy sinken. Jetzt, wo sie wenigstens mit ihrer Mutter gesprochen hatte, spürte sie, wie sich ein Knoten in ihrem Bauch löste. Auf einmal war sie unheimlich müde. Sie raffte sich auf und gleich nachdem sie sich in ihr Bett gekuschelt hatte, war sie auch schon eingeschlafen.