Kapitel 62

 

Zwischenzeitlich war es taghell geworden. Nachdem Paul mit viel Mühe alle Beteiligten nach Hause geschickt hatte, Susanna sicher in Dinas Wohnung angekommen war und sich nach langem Gutzureden davon hatte überzeugen lassen, dass es Beth gut ging und sie darum nicht in ein Krankenhaus musste, stand Jérémie erschöpft, aber zufrieden unter seiner Dusche und liess sich das heisse Wasser genüsslich über den Nacken fliessen, in der Hoffnung, seine verspannten Muskeln wenigstens ein bisschen lockern zu können. Aber als er sich zu seinem Shampoo umdrehen wollte, wurde er sofort an sein weit grösseres Problem erinnert. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn, als seine Bewegung mit der geprellten Rippe in Konflikt geriet. Zischend stiess er den Atem aus. Nachdem der Schmerz abgeklungen war, kehrten seine Gedanken sofort wieder zu Beth zurück. Er hatte sie mit ihrer Mutter in Dinas Wohnung geschickt, damit sie sich ausruhte und die beiden Frauen endlich ungestört miteinander sprechen konnten. Zum Abschied hatte er ihr nur einen kurzen Kuss auf die Lippen gehaucht ohne zugeben zu können, dass er sie gerne noch bis zum nächsten Morgengrauen bei sich gehabt hätte.

 

Im Schatten der Dämmerung des nächsten Morgens huschten die beiden Frauen wie zwei flüchtige mitsamt ihrem Gepäck in das mit laufendem Motor wartende Taxi. Beth öffnete die Tür zur Rückbank und rutschte auf den Sitz. Sie wagte es nicht, ihren Kopf zu heben, denn sie hatte Angst dem wissenden Ausdruck in den Augen ihrer Mutter nicht standhalten zu können. Susanna nahm schweigend neben ihrer Tochter Platz und drückte einfach kurz deren Arm, bevor sie den Mann am Steuer anwies, loszufahren. Mit quietschenden Reifen tat dieser wie geheissen und raste in halsbrecherischen Tempo in Richtung des Flughafens.

Unruhig rutschte Beth auf dem Sitz hin und her, bis sie es nicht mehr aushielt. Anhalten!“ Der Ruf schallte so laut und unerwartet durch das Taxi, dass der Fahrer erschrocken eine formvollendete Vollbremsung hinlegte. Kaum war das Auto zum Stillstand gekommen, öffnete Beth auch schon die Tür. „Mama, geh du schon vor, ich werde rechtzeitig nachkommen.“ Dann schlug sie die Tür hinter sich zu und gleich darauf fuhr das Taxi wieder an.

 

Jérémie wachte auf, als er ein Auto wegfahren hörte. Verschlafen drehte er sich auf die Seite und liess den Arm auf das Bett sinken. Aber anstatt dass ihn die Wärme eines Körpers empfing, spürte er nur die kalte Matratze. Er öffnete die Augen und starrte auf die leere Stelle in seinem Bett. Also war es doch nur ein Traum gewesen.

Mit dem festen Entschluss, sich durch den kleinen Stich in der Magengegend nicht ablenken zu lassen und in der festen Überzeugung, das emotionale Durcheinander sei das Resultat der Strapazen der letzten Tage, raffte sich Jérémie auf und bereitete sich auf einen neuen Arbeitstag vor. Als wäre nie etwas gewesen, sprang er unter die Dusche, zog sich die nächstbesten Kleider über und machte sich auf den Weg in das Revier.

Dort angekommen wurde er mit allgemeiner Freude, aber auch Verwunderung begrüsst. Viele fragten, ob er sich nicht noch einige Tage frei nehmen wollte, andere klopften ihm auf die Schulter und gratulierten zum gelösten Fall. Jérémie war so sehr damit beschäftigt Hände zu schütteln und dankend zu lächeln, dass er nicht bemerkte wie einzig Irene an ihrem Tisch sitzen geblieben war und ihm nur wortlos nachschaute.

„Guten Morgen. Eigentlich hätte ich mir denken können, dass Sie sich nicht von der Arbeit abhalten lassen.“ Paul kam aus der kleinen Küche auf ihn zu und streckte ihm eine Tasse dampfenden Kaffees entgegen. „Wie geht es Beth?“

Jérémie hatte sich im Vorfeld gegen diese Frage gewappnet, aber er konnte nicht vermeiden, dass seine Antwort weniger beiläufig klang, als ihm lieb war. „Nun, ich gehe davon aus, dass es ihr gut geht, ansonsten wäre ihr Rückflug bestimmt die Hölle.“ Paul stutzte, fand aber keine Worte. Ganz im Gegensatz zu Irene. Sie sprang auf und baute sich direkt vor ihrem Vorgesetzten auf. „Sie sind ein sturer Bock und obendrein ein Feigling sondergleichen. Sie werden jetzt sofort an diesen Flughafen fahren und dem Mädchen sagen, was Sie empfinden. Sonst ist sie weg und mit ihr Ihre letzte Chance auf ein anständiges Liebesleben. Denn eine Zweite, die es ernsthaft mit ihnen aufnehmen würde und auch kann, werden sie nicht finden. Also nehmen Sie verdammt noch mal Ihre Beine in die Hand und holen Sie sie zurück!“

Das ganze Revier lauschte gebannt. Niemand hatte Zeit sich Gedanken über den Anblick zu machen, den die deutlich kleinere, eher schwerfällig wirkende Irene, die ihren attraktiven, hochgewachsenen Chef anblafft, bot. Alle schienen gleichzeitig die Luft anzuhalten, aus Angst bei dem kleinsten Geräusch mit in die Sache hineingezogen zu werden und damit den erwarteten Wutausbruch ebenfalls erdulden zu müssen. Madeleine, die sich vor Spannung über Jérémies Reaktion kaum noch stillhalten konnte, zog vorsorglich langsam und unauffällig ihre Brieftasche hervor. Denn irgendwie beschlich sie das zwiespältige Gefühl, ihre Wette verloren zu haben. Irene liess sich nicht beirren. Ohne die Augen von Jérémie abzuwenden, gab sie Paul ihre unmissverständlichen Anweisungen. „Paul, hol den Wagen. Jetzt!“

Unsicher schaute Paul von Jérémie zu Irene und wieder zurück. Er hätte gerne Irenes Anweisung befolgt, denn er war ihrer Meinung, aber er hatte auch Respekt vor den Konsequenzen, im Fall, dass Jérémie nicht derselben Meinung sein sollte. Irene spürte sein Zögern und richtete ihre Aufmerksamkeit deshalb auf ihn. In einem Tonfall, der keine Widerrede duldete, wiederholte Irene ihre Anordnung. Jérémie fiel indessen wieder einmal auf, warum Irene trotz ihrer körperlichen Unterlegenheit so eine unersetzbar gute Polizistin war. Dann geschah etwas, was niemand erwartet hätte. Schweigend trat Jérémie auf Irene zu. Noch einmal holten alle im Raum tief Luft, weil sie die Ungewissheit über das was geschehen würde, kaum noch aushalten konnten. Diesmal schien sich auch Irene zu wappnen. Sie schaute ihrem Chef weiter konsequent in die Augen, um ihre Glaubwürdigkeit zu erhalten, aber ganz wohl war ihr nicht mehr, als er direkt vor ihr zu stehen kam und die Hand ausstreckte. Einem Impuls folgend positionierte Jérémie seine Hand in ihrem Nacken und zog sie leicht zu sich. Dann gab er ihr einen leichten Kuss auf die Stirn und marschierte in sein Büro. Verdutzt schauten ihm alle nach. Auch Irene, deren Knie langsam weich wurden und die auf freundschaftliche Art Beth zu Beineiden begann.

 

Unruhig ging Jérémie in seinem Büro auf und ab, aber er hielt die Begrenzung der vier Wände nicht lange aus. Er brauchte Ruhe um nachzudenken, doch der weitläufige Raum schien auf einmal zu eng. Als er wieder aus dem Büro herauskam, stand Irene noch immer dort, wo er sie zurückgelassen hatte, nur dass sie jetzt mit Madeleine tuschelte. Davon ungerührt zog er an den staunenden Frauen vorbei und verliess das Revier. Erstaunt nahm er zur Kenntnis, dass Paul tatsächlich das Auto geholt hatte und lässig daran gelehnt auf die nächsten Anweisungen wartete. Zuerst wollte Jérémie einfach an ihm vorbeigehen, aber er besann sich eines Besseren. „Paul, gib mir die Schlüssel.“ Ohne ein Wort zog Paul die Schlüssel aus der Hosentasche und warf sie Jérémie zu. Dieser fing den Bund auf und stieg in das Auto ein. Ohne einen Gedanken an das Wohin zu verschwenden, lenkte er den Wagen durch die Strassen. Dennoch war er nicht erstaunt, als auf einmal das Friedhofsgelände vor ihm auftauchte.

Jérémie brachte den Wagen zum Stehen. Genau dort, wo Paul ihn vor zwei Nächten bereits abgestellt hatte.

In Gedanken versunken schlenderte Jérémie über das Friedhofsgelände, erstaunt darüber, wie ein und derselbe Ort am Tag soviel Ruhe und Frieden ausstrahlen kann, während er in der Nacht Angst und Schrecken verbreitete. Zumindest konnte er jetzt nachvollziehen, warum Beth zwischen diesen Gräbern ihre Ruhe gefunden hatte. Jérémie schlenderte denselben Weg entlang wie in der unheilvollen Nacht. Bei der Trauerweide machte er halt und schickte Pierre einen Gruss ins Jenseits. Unschuldig leuchteten ihn die gelben Rosen an, beinahe so, als hätte nie etwas den Frieden ins Wanken gebracht. Den Stich, der ihm der Anblick der Blumen versetzte, ignorierte er. Die Hände in den Hosentaschen ging Jérémie nachdenklich wieder bis zu der Weggabelung. Es fiel ihm auf, dass jene am Tag wirklich nicht zu übersehen war. Erneut nahm er absichtlich nicht den direkten Weg zum Ausgang zurück.

Er konnte sie schon von weitem sehen. Still, mit einer einzelnen Blume in der rechten Hand, stand sie vor dem Grab.

 

Beth ging in die Hocke und legte die rote Rose nieder. „Ruhe in Frieden, schöne Louisa.“ Dann richtete sie sich wieder auf. Sie hatte Jérémies Anwesenheit bereits vorher bemerkt, weshalb sie sich auch nicht stören liess, als er schweigend neben sie trat. Für einen kurzen Augenblick blieben sie einfach so nebeneinander stehen. Schliesslich war es Jérémie, der das Schweigen durchbrach. „Wann wirst du zurückkehren?“

„In zwei Stunden geht mein Flug.“ Es war nicht mehr als eine kühle Feststellung, die Jérémie mit einem angedeuteten Kopfnicken zur Kenntnis nahm. Denn beide waren sich bewusst gewesen, dass der Zeitpunkt des Abschieds eines Tages hatte kommen müssen.

Tief einatmend nahm Beth dann das unvermeidliche in Angriff. Sie drehte sich zu Jérémie um, strich ihm noch einmal mit dem Zeigefinger über die feine Falte zwischen seinen Augen, bevor sie ihm einen sanften Kuss auf die Wange hauchte und sich schliesslich zum Gehen wandte. Doch als sie an ihm vorbei wollte, griff er nach ihrem Handgelenk. Seinen Kopf leicht zu dem ihren gesenkt, spürte sie überdeutlich seinen Atem im Haar, sein wunderbar erdiger Geruch beschwor in ihr den Wunsch hinauf, sich in seinen Armen zu verlieren. Dennoch wagte sie nicht aufzusehen, sondern wartete ab, was geschehen würde.

Es war kaum mehr als ein Flüstern, aber sie verstand. Bleib bei mir.“

Doch sie hatte ihre Entscheidung bereits getroffen und der Schmerz darüber, drohte sie zu überwältigen. „Es tut mir leid.“

„Verstehe.“

Und er liess sie gehen.

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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