Kapitel 22
Am Abend tauchte Beth noch einmal im Revier auf. Eigentlich hatte Jérémie gehofft, sie erst zuhause wiedersehen zu müssen, was er für früh genug befand, da er noch einiges Unangenehmes mit ihr zu besprechen hatte. Ausserdem war der weitere Tag ohne grössere Zwischenfälle verlaufen und er hatte seinen Kopf schon fast wieder von ihr frei gehabt obwohl er sich nur mit dem Tod ihrer Tante beschäftigt hatte. Möglicherweise irritierte ihn Beths Besuch aber auch, weil ihn ihre Anwesenheit daran erinnerte, wie die heutigen Ermittlungen von einer Sackgasse in die nächste geführt hatten.
So gut es ging, versuchte er sie deshalb zu ignorieren, was aber nicht notwenig gewesen wäre, denn Beth wollte überhaupt nicht mit ihm sprechen. Stattdessen musste er zusehen, wie sie sich an Irene wandte. Natürlich war er neugierig, was die beiden zu besprechen hatten, doch er beherrschte sich, denn er war der Meinung, dass Weiber beim Tratschen zu belauschen nun wirklich nicht sonderlich männlich war. Also versuchte er sich wieder auf die liegengebliebene Schreibarbeit zu konzentrieren.
„Irene, ich wollte dir nur noch einmal kurz danken. Ich habe heute gesehen, dass du Marzipan gegessen hast, also habe ich dir als kleines Präsent welchen mitgebracht.“
„Liebes, das ist so süss von dir! Ich habe das aber wirklich gerne getan. Wie ist es denn beim Inspecteur zu Hause?“
Beths Verdacht hatte sich bestätigt. Irene war eine Klatschtante, was eigentlich nicht richtig mit ihrem Beruf zusammenpassen wollte, aber vielleicht machte sie genau diese Liebe zum Plaudern zu einer ausgezeichneten Polizistin. Wie dem auch sein mochte, für Beth kam es gerade recht. Endlich wieder einmal ein bisschen plaudern zu können, schien zurzeit genau das Richtige zu sein und vielleicht konnte sie bei dieser Gelegenheit etwas von den Geheimnissen, die sich um den Inspecteur rankten, lüften. „Nun, es ist irgendwie eine seltsame Situation. Nicht nur, dass ich, als Angehörige des Opfers und eigentlich unbekannte Person im Haus des leitenden Ermittlers schlafen werde und sogar dort gekocht habe, es ist auch das Haus selbst. Ich fühle mich dort sehr wohl. Aber die liebevolle Einrichtung und die Details wollen einfach nicht in mein Bild von ihm passen. Dann kommt noch dazu, dass er selbst irgendetwas zu verbergen scheint. Das macht mir ein wenig Sorgen. Unter anderem ist das aber auch ein Grund, warum ich noch einmal hierher gekommen bin. Ich hätte dich gerne gefragt, ob du mir etwas mehr über den Inspecteur verraten kannst, bevor ich in seinem Gästezimmer nächtige.“
Irene fühlte sich in ihrer Kaffeekränzchenseele geehrt. „Mädchen, du liegst goldrichtig mit deinem Verdacht. Der Inspecteur war verlobt. Nachdem dann aber das Haus gekauft, renoviert und bezogen war, ist die Frau hochschwanger abgehauen. Das hat ihm das Herz gebrochen. Aber wen wunderts? Da bereitet man das sprichwörtliche Liebesnest vor und die Angebetete weiss nichts Besseres, als es fluchtartig sogleich wieder zu verlassen.“
„War das die Frau auf dem Foto auf seinem Schreibtisch?“
„So ist es. Ich glaube, dass das Weib verschwunden ist, hat er irgendwie schon ein bisschen überwunden, aber dass sie einfach so sein ungeborenes Kind auf nimmer Wiedersehen mitgenommen hat, das hat er nie verkraftet.“
Die beiden Frauen hatten vertrauensvoll die Köpfe zusammengesteckt und waren derart in ihr Gespräch vertieft, dass sie nicht merkten, dass Jérémie hinter sie getreten war.
„Soso, wird meine ach so traurige Geschichte des armen verlassenen Mannes wieder einmal ausgeschlachtet. Irene, ich würde sagen, das ist genug für heute, sonst überdenke ich die Pinguine noch einmal und ersetze sie womöglich mit Herrentoiletten.“
Augenblicklich war Irene still.
Beth musste erst noch den Schrecken verdauen, bevor sie zu einer Entschuldigung ansetzen konnte. Jérémie winkte aber nur ab und deutete an, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen. Schuldbewusst stand Beth auf und folgte Jérémie mit hängendem Kopf. Den ganzen Weg sprachen sie kein Wort miteinander, auch zuhause angekommen, bekam Jérémie die Zähne nicht auseinander.
Dieses Schweigen entwickelte sich zu einer Geduldsprobe, der Beth nicht mehr gewachsen war. „Es reicht. Nur schon aus beruflichen Gründen kannst du mich nicht ewig anschweigen. Es war dumm von mir, dir auf diese Art hinterher zu schnüffeln. Aber mal ehrlich, wenn ich dich gefragt hätte, hättest du mir nicht geantwortet, sondern dich in deinen Panzer zurückgezogen. Im Laufe des Tages hatte ich etwas Zeit zum Nachdenken und das hat mir zugegebenermassen Flausen in den Kopf gesetzt. Führ dir bitte einmal die Gesamtsituation vor Augen. Auf dem Friedhof verstorbene Tante, selbst beinahe umgekommen wegen austretendem Gas, das man selbst nicht angestellt hat, das alles in einer Stadt, die nicht die eigene ist und jetzt soll ich auch noch unter dem Dach eines praktisch wildfremden Mannes schlafen, von dem ich nichts weiss, ausser dass er bei der Polizei arbeitet, ein schönes Haus besitzt, in dem klare Züge einer weiblichen Hand zu erkennen sind, aber weder Fotos einer solchen noch Familienbilder oder Schnappschüsse von Freunden zu finden sind. Schlimmer noch, es sind überhaupt keine Fotos aufgestellt oder aufgehängt. Das ist doch bei genauerer Betrachtung echt beängstigend. Und nicht zu vergessen das verschlossene Zimmer!“ Beth biss sich auf die Lippen. Die letzten Worte hatte sie eigentlich nicht sagen wollen, aber sie hatte sich so in Rage gesprochen, dass es ihr einfach herausgerutscht war.
Jérémies Augen verdunkelten sich zunehmends. Beth sah, wie sich seine Muskeln anspannten und das jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Bereits überlegte sie, wie sie es gegen ihn aufnehmen sollte, wenn er sie angriff. Die einzige Möglichkeit war Flucht. Würde er sie erwischen, wäre sie ihm komplett unterlegen. Umso erstaunter war Beth dann darüber, wie ruhig sich seine Stimme anhörte, als er zu sprechen begann.
„Setz dich. Du siehst aus wie die Mischung aus einem geschlagenen Hund und einem fluchtbereiten Kaninchen.“
„Ich stehe lieber noch ein bisschen.“ Ihr Misstrauen wurde durch seine Gelassenheit nur noch mehr geschürt.
„Wie du willst. Es könnte mit der Zeit aber anstrengend werden.“ Dann begann er zu erzählen. Nach und nach entspannte sich Beth wieder, bis sie wieder soweit Vertrauen geschöpft hatte, dass sie sich hinsetzte. Jérémie erzählte von dieser Frau, deren Foto immer noch auf dem Tisch in seinem Büro stand. Wie er sie kennengelernt hatte, wie die Pläne für die Zukunft aussahen, wie sie zusammen das Haus suchten, kauften und renovierten, wie sie schwanger wurde und am Ende erzählte er ihr sogar, wie er eines schönen morgens aufwachte und sie weg war. „Auf der Küchentheke lag nur ein Zettel mit den Zeilen ‚Such nicht nach uns’. Natürlich suchte ich sie trotzdem, aber ich fand sie nicht. Weder in den Krankenhäusern, noch bei Verwandten oder Bekannten, von denen ich wusste. Auch nach Neugeborenen hielt ich Ausschau, Auffälligkeiten bei Geburten, Findelkindern und manchmal klapperte ich sogar die Mülltonnen der Stadt ab, nur um sicher zu gehen, dass nicht in irgendeiner Tonne eine Plazenta oder sogar mein Kind lag.“
Entsetzt folgte Beth seinen Ausführungen. Ein ‚es tut mir so Leid’ hielt sie für unangebracht und fehl am Platz. Stattdessen war ihr ein Gedanke gekommen.
„Das abgeschlossene Zimmer“, Beth zögerte, „hätte es das Kinderzimmer werden sollen?“
Umgehend bereute Beth ihre Frage, denn seine Züge erhärteten sich wieder und die Stimmung schlug von einer leichten Wehmut in Zorn um. „Verdammt richtig. Es hätte das Kinderzimmer werden sollen. Bist du jetzt zufrieden? Ist deine Neugierde gestillt und sind deine Nerven wieder beruhigt? Kannst du jetzt aufhören in fremden Häusern an geschlossenen Türen zu rütteln?“
Sie sah ihm deutlich an, dass er stocksauer war, dennoch liess sie es darauf ankommen. „Also entschuldige mal, du hast mich hierher eingeladen und mich alleine gelassen.“
„Ach, also trage ich die Schuld?“ Wutentbrannt trat er auf sie zu. Unweigerlich hob Beth schützend den Arm vor ihr Gesicht, doch Jérémie liess sich nicht aufhalten. Grob packte er ihr Handgelenk und riss ihren Arm nach unten. Überrascht holte Beth im Affekt mit der freien Hand zum Schlag aus, der von Jérémie aber mit Leichtigkeit abgewehrt wurde. Wieder war es der Griff nach ihrem Handgelenk, welcher sie handlungsunfähig machte. Ihre Hände hinter den Rücken drückend, stand er jetzt direkt vor ihr und funkelte sie aus dunklen Augen an. Beth erschauerte, zwang sich aber, seinem Blick mit trotzig erhobenem Gesicht standzuhalten. Da sie nicht wusste, was jetzt passieren würde, stieg mit wild pochendem Herzen langsam Panik in ihr auf. Aber was dann geschah, damit hatte sie nicht gerechnet.
Mit fest zusammengebissenen Zähnen und angespannter Halsmuskulatur, fast so, als müsste er unglaublich um Fassung ringen, stand er einfach da. Und dann küsste er sie. Der Kuss war intensiv, leidenschaftlich und wütend zugleich. Trotz der deutlichen Härte wirkten seine Lippen weich und sanft, während seine Zunge forsch ihresgleichen forderte und auch fand. Eine Woge des Begehrens drohte sie mitzureissen, doch genauso überraschend wie er seinen Mund auf den ihren gepresst und sie zur Reaktion gezwungen hatte, liess er auch wieder von ihr ab. Beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren, doch sie wagte nicht, sich mehr als nötig zu bewegen, geschweige denn, die Augen zu öffnen. Erst als sie hörte, wie die Tür hinter ihr laut zugeknallt wurde und Beth sich selbst überlassen zu sein schien, holte sie tief Luft. Sie versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, was sich aber bald als Vergeblich herausstellte. Also sagte sie das erste, was ihr einfiel, um dann aufstehen und ins Bett gehen zu können. „Wow, ist das abgedreht.“ Alles in allem betrachtet, wusste sie, dass dies noch gelinde ausgedrückt war, zu mehr war sie aber nicht mehr fähig.
Jérémie konnte nicht schlafen. Hellwach lag er im Bett und versuchte, seine rotierenden Gedanken zum Schweigen zu bringen. Sie zu küssen war ein riesiger Fehler, aber er hatte den Impuls nicht unterdrücken können. Wie sollte er weiter an diesem Fall arbeiten, wenn er sich von ihr sosehr aus dem Konzept bringen liess? Was war in ihn gefahren, ihr sein Gästezimmer anzubieten? Was, wenn sie morgen immer noch nicht zurück in die Wohnung konnte? Sie wühlte alles wieder auf, was er solange versucht hatte zu vergessen, sie ruinierte innert kürzester Zeit seine gesamte hart antrainierte Selbstbeherrschung. Wie sollte er das auch nur einen weiteren Tag aushalten? Eines stand fest: Morgen musste sie raus. Sie war ein Teufelsweib und sie schlief nur eine Tür weiter. Wie hatte er das nur zulassen können?
Der Tag war noch nicht angebrochen, als Beth hörte, wie die Haustüre knarrte. Offenbar hatte er genauso wenig ein Auge zugetan wie sie selbst. Ihre Schlaflosigkeit hatte sie aber wenigstens zu einem Resultat geführt: Sie konnte keine Nacht länger in diesem Haus bleiben.