Kapitel 36
Mit eindeutig überhöhter Geschwindigkeit raste Jérémie zurück nach Nizza. Unterwegs hatte er versucht, Paul zu erreichen, aber er war zu sehr damit beschäftigt, das Auto zu lenken, dass er dieses erfolglose Unterfangen aufgab. In der Rekordzeit von einer Stunde erreichte er die Polizeistation und trat voller Tatendrang ein.
“Paul? Gibt es etwas Neues?“
„Nein, es hat sich noch nichts getan. Sollen wir die Frau jetzt fragen, ob sie etwas von Henry gehört hat?“
„Nein, wartet noch. Bedenke, wenn wir sie fragen, weiss sie, dass etwas nicht stimmt. Sie soll aber solange wie möglich im Glauben gelassen werden, dass alles in Ordnung ist, damit sie ihren gewohnten Tätigkeiten nachgeht und uns vielleicht einen Grund liefert, sie zu verhaften.“
Irene hatte das gehört und sie verstand sofort. „Wenn sie verhaftet wird und Henry gefunden und ebenfalls eingebuchtet werden kann, ist Beth wieder in Sicherheit und kann zurückkommen. Richtig?“
Jérémies Blick nach zu urteilen, war er im Augenblick nicht besonders gut auf Irenes romantische Ader zu sprechen. „Ein potentielles Opfer wäre ausser Gefahr gebracht, nicht mehr und nicht weniger.“
„Ich habe nichts anderes behauptet!“ Eigentlich hätte Irene diesem Satz noch angehängt, dass er sich schliesslich auf ihren Kommentar hin begonnen hatte zu rechtfertigen und etwas hineininterpretierte. Aber diese Fussnote liess sie wohlweislich weg und zog ab.
Paul hatte sich durch die kleine Zwischenszene nicht irritieren lassen. „Könnten wir Larissa nicht anhängen, dass sie etwas mit dem Verschwinden ihres Mannes zu tun hat und sie aufgrund dieses Verdachts einsperren?“
Anerkennend nickte Jérémie. Aus Pauls Mund waren solche Intrigen neu. „Nein, das ist zu dünn. Wir könnten sie möglicherweise nicht lange genug hierbehalten. Diesen schleimigen Anwalt dürfen wir auch nicht vergessen, der würde in Nullkommnichts hier auftauchen.“
„Würde er nicht. Der ist auf den Bahamas oder Hawaii oder so etwas.“
„Wo? Was macht er dort?“
„Hat sich für unbestimmte Zeit wegen Unterschlagung aus dem Staub gemacht. Die Spur verliert sich in Honolulu.“
„Das ist jetzt ein Witz! Oder?“
„Dachte ich zuerst auch, aber es ist absolut ernst.“
Ungläubig suchte Jérémie nach einer ungewöhnlichen Regung in Pauls Gesicht, die ihn verraten hätte, aber es war alles unverändert. Das legte den Entschluss nahe, dass sich der Anwalt der Depruits tatsächlich ins Ausland abgesetzt hatte und ihm nicht die Pläne durchkreuzen würde. Eine unverhofft gute Nachricht.
„Dennoch, die Entführungsgeschichte wenden wir erst im äussersten Notfall an, wenn uns überhaupt nichts mehr anderes einfällt. Wo haben wir schon gesucht?“
„Überall. Bars, Restaurants, Nischen, Winkel, Gassen, Strassen, öffentliche Verkehrsmittel usw. Sein Auto steht bei ihm zu Hause vor der Tür.“
„Dann kommen jetzt die umliegenden Wälder, Grünanlagen, Parks und all das Zeug dran. Wir müssen ihn finden.“
Gesagt, getan. Paul mobilisierte noch mehr Einsatzkräfte, während Jérémie froh war, über das rege Treiben. So hatte er wenigstens keine Zeit, über andere Dinge nachzudenken.
Auf einmal klingelte Jérémies Telefon.
„Inspecteur, die Zielperson hat vor einiger Zeit das Haus verlassen. In diesem Moment trifft sie sich mit einem Typen, dessen Gesicht ich nicht erkennen kann, der aber bestimmt wie ein richtiger Arschkriecher aussieht. Nimmt sich selbst superwichtig, ist aber nur ein winziger Wurm in einem Gebilde, das er nicht versteht.“
„So denken Sie, sieht er aus?“, hakte Jérémie nach.
„Genau so.“
„Und seit wann sind Sie Hobbypsychologe? Sagen Sie mir lieber, was es mit diesem Treffen auf sich hat.“
„Natürlich Inspecteur. Sie gehen jetzt in eine abgeschiedene Strasse. Mich juckt das Gefühl, dass der Kerl ein Päckchen mit sich rumschleppt, das nicht unbedingt legalen Inhalt beherbergt. Es geht los! Melde mich wieder!“ Dann hatte der Polizist aufgelegt. Ungeduldig marschierte Jérémie auf und ab. Immer wieder warf er einen Blick auf sein Telefon. Er hoffte auf die befreiende Nachricht, dass Larissa in Gewahrsam genommen wurde. Als der ersehnte Klingelton dann endlich durch den Raum hallte, nahm Jérémie das Gespräch so hastig an, dass ihm das Telefon beinahe wieder aus der Hand gerutscht wäre. Kurz hörte er zu und legte dann wieder auf. Angespanntes Schweigen schien sich im gesamten Revier auszubreiten. Alle hoben die Köpfe und starrten Jérémie an, um zu hören, was er zu sagen hatte.
„Der, mit dem sie sich getroffen hat, ist unerkannt entwischt, aber sie haben Larissa!“ Die Freude über diese Nachricht war gross, aber es galt, keine Zeit zu verlieren.
Kurze Zeit später sass Larissa Depruit erneut im Verhörraum. Wie ein Tiger schlich Jérémie um sie herum, damit die einschüchternde Wirkung etwas verstärkt wurde.
„Schön, Sie wiederzusehen, Madame.“
„Geht mir genauso. Ich hätte Sie allerdings lieber unter anderen Umständen wieder getroffen.“ Unverhohlen begann Larissa mit Jérémie zu flirten. Sie machte kein Geheimnis daraus, dass sie ihn äusserst attraktiv fand. Diese Rechnung hatte sie aber ohne Jérémie gemacht.
„Falsche Zeit, falsches Dope. Ich stehe nämlich nicht auf Drogenmädchen, die sind zu unberechenbar.“
Die anfängliche Flirtbereitschaft schlug in frostige Ablehnung um.
„Wissen Sie eigentlich, wie schwer es ist, zu der gehobenen Gesellschaft zu gehören? Als kleiner Fisch andauernd darauf bedacht zu sein, keinen Fehler zu machen, sich immer zu bemühen, ewig zu lächeln und doch nie akzeptiert zu werden? Endlich hätte ich es geschafft. Ich hatte eine Einladung zu einer wichtigen Party in Monaco. Es war die Rede davon, dass selbst die Fürstenfamilie sich blicken lassen würde. Doch dann hat mein ehrenwerter Gatte nichts Besseres zu tun als dieses kleine Flittchen zu vögeln! Wenn das herausgekommen wäre, wäre ich das Gespött der Leute geworden! Wissen Sie, was man gesagt hätte? Wie will die Frau sich in dieser glitzernden Welt unverzichtbar machen, wenn sie nicht einmal in der Unterschicht ihren Mann unter Kontrolle hat!“
„Und dann beginnen sie mit Tabletten? Ebenfalls sehr unklug. Unter der Wirkung von Medikamenten kann man leicht die Kontenance verlieren. Das hätte Sie ebenfalls zu Fall gebracht.“
„Bestimmt nicht. Ich habe den Konsum durchaus unter Kontrolle und ich kann jederzeit aufhören.“
„Die Worte einer Süchtigen. Nun denn, Sie haben diese Drogen gekauft. Dabei haben wir Sie soeben erwischt und deswegen werden Sie auch angeklagt. Ich würde auch sagen, Sie bleiben einen Moment hier, denn wir können nicht ausschliessen, dass Sie auch dealen. Wie Sie sich ausserdem sicherlich erinnern, handelt es sich bei den Wirkstoffen in den bei Ihnen gefunden Tabletten zufällig auch um diejenigen, die Dina Clement das Leben gekostet haben. Sie werden also auch noch des Mordes an ihr verdächtigt. Dann darf man nicht vergessen, dass Sie Ihren Mann verschwinden liessen oder ihm dabei geholfen haben, abzuhauen. Also haben Sie sich mitschuldig gemacht.“
„Meinen Mann? Was ist mit ihm?“
„Tja, er ist weg. Und tun Sie jetzt nicht so, als wüssten Sie das nicht. Sie haben ihm doch geholfen!“
„Nein! Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen!“ Die angeschlagene Tonlage von Larissa Depruit tat Jérémie beinahe weh in den Ohren. Er hoffte, sie könnte das noch steigern, dann würden nur noch die Hunde leiden.
„Ach nein? Wollen Sie mir etwa weis machen, Sie wüssten nichts davon, dass ihr Mann Madame Beth Clement bei ihr zuhause aufgesucht hat und sie tätlich angriff?“
„Himmel, nein!“
„Dann wissen Sie auch nicht, dass wir ihn suchen und er nicht auffindbar ist?“
„Das wird immer besser. Nein, das weiss ich nicht, aber er kann ruhig dableiben, wo der Pfeffer wächst. Dann hätte ich ein Problem weniger.“ Auf einmal war sie wieder ruhig und gefasst, als hätte sie jemand mit kaltem Wasser abgespritzt.
„Wenn das so ist, dann sprechen wir doch noch kurz über Ihren Mord an Dina. Haben Sie sich damit auch einem dieser lästigen Problem entledigt?“
„Herrgott noch mal, jetzt fangen Sie nicht schon wieder damit an! Ich habe nichts damit zu tun!“
„Das Valium in Ihrem Haus, das Valium in Dinas Körper? Die Art, wie dieses Medikament in Dinas Körper kam? Das sagt Ihnen alles nichts? Sind Sie sich da sicher? Wenn Sie jetzt gestehen, kann ich vielleicht noch etwas für Sie tun.“
Larissa blickte Jérémie aus harten, kalten Augen an. „Ich kann nichts gestehen, das ich nicht getan habe. Deshalb habe ich auch nichts zu befürchten und bin auf Ihren Deal nicht angewiesen. War’s das?“
„Fürs Erste. Sie werden jetzt eine hübsche Zelle beziehen und nach Lust und Laune dürfen Sie mir immer wieder ein paar Fragen beantworten.“
„Da ist mein Anwalt bestimmt anderer Meinung.“ Siegessicher stand Larissa auf.
„An Ihrer Stelle wäre ich mir da nicht so sicher. Ich gehe eher davon aus, dass der momentan damit beschäftigt ist, sein Geld zu zählen.“
Ein verständnisloser Blick war die Antwort. Dann öffnete sich auch schon die Tür und Larissa wurde von einem Polizisten in ihr vorübergehendes Domizil geführt.