Kapitel 12
Der nächste Tag begann nicht sonderlich verheissungsvoll. Beth erwachte bereits um acht Uhr, aus einem Traum, den sie hoffte, schnell wieder vergessen zu können. Denn wenn es nach den nächtlichen Ausflügen ihrer Gedanken ging, wäre sie jetzt ebenfalls gestorben und im Körper ihrer Tante wiedergeboren. Nur, dass der Körper ihrer Tante bereits verwest war und sie wie ein Zombie durch Nizza schlich und ihre Eltern suchte, die aber nie in Frankreich angekommen waren, weil es im Eurotunnel einen Unfall gegeben hatte und daraufhin der Zugverkehr eingestellt worden war. Jérémie hatte sich ebenfalls in diesen grässlichen Traum verirrt. Er hatte das zweifelhafte Vergnügen, vermehrt auf sie zu schiessen, als sie ihn als verweste Leiche auf der Suche nach ihren Eltern um Hilfe bitten wollte. Einmal mehr fragte sich Beth, weshalb manche Träume nicht einmal bewusst wahrgenommen wurden, andere dafür umso intensiver hängen blieben und auch im Wachzustand noch klar abgerufen werden konnten. Vor allem fragte sie sich aber, weshalb ausgerechnet die Bilder dieses Traumes wie eine Filmszene vor ihrem inneren Auge vorbeizogen, so als wäre sie noch nicht aufgewacht. Sie kam zum Schluss, dass genau dies die Lösung war. Sie schlief noch und träumte, wie sie geträumt hatte. Also zwickte sie sich in den Arm und schrie auf. Das hatte weh getan. Nein, sie war vorher schon wach gewesen und nach dieser Aktion war sie es erst recht. Fluchend, dass sie sich so fest hatte kneifen müssen, stieg sie aus dem Bett. Auf dem Weg in die Küche machte sie sogleich die nächste unerfreuliche Entdeckung. Eine riesige Wasserlache präsentierte sich in der Morgensonne glitzernd unter dem Wohnzimmerfenster.
„Das gibt es doch nicht!“ Beth ging zum Fenster und betrachtete das Missgeschick. Nicht genug damit, dass es in der Nacht geregnet hatte, sie hatte tatsächlich vergessen, das Fenster zu schliessen! Bereits zum zweiten Mal ärgerte sie sich und sie war erst seit knappen zehn Minuten wach. Sie stapfte in die Küche und holte einen Lappen.
„Jeder Vollidiot hätte in die Wohnung einsteigen können, das nächste Mal kann ich gleich ein Schild an die Haustür hängen ‚Liebe Diebe, Massenmörder und Vergewaltiger, in dieser Wohnung ist der Eintritt frei, ich freue mich auf Ihren Besuch’. Damit auch jeder mit der Nase drauf gestossen wird, wie unachtsam und unvorsichtig die Bewohnerin dieser vier Wände sich verhält.“ Weiter über sich selbst herziehend, putzte sie die Lache unter dem Fenster weg. Nach und nach wischte sie sich in Richtung des Fernsehtisches vor. Dort angekommen, wäre ihr das Herz vor Schreck beinahe stehen geblieben. Direkt unter dem Fernsehtisch, so dass sie es vorher nicht sehen konnte, lag eine tote Taube. Der Schrei blieb Beth im Hals stecken. Mit weit aufgerissenen Augen setzte sie sich dort auf den Boden, wo sie war. Dann schloss sie die Augen, atmete einige Male tief ein und aus, öffnete die Augen wieder und biss die Zähne zusammen, als sie sah, dass die Taube immer noch dort lag. Die Feststellung, dass es keine Einbildung war, verschlimmerte ihr Ekelgefühl nur noch. Den Würgereiz hinunterkämpfend, stand sie auf, holte eine kleine Schaufel und einen Abfallsack und tat, was getan werden musste. Sie schaufelte die Taube in den Abfallsack und verschloss diesen mit einem festen Knoten. Ohne Umschweife brachte sie den Abfallsack nach unten und warf ihn in die grosse Mülltonne. Nachdem sie die Mülltonne wieder geschlossen hatte, schüttelte es sie am ganzen Körper. Diese dämliche Taube hatte bestimmt schon lauernd vor der Wohnung gehockt und gewartet, bis das Fenster offen blieb und die Luft rein war, um in das Wohnzimmer zu fliegen und dort zu sterben. „Verflucht noch eins.“ Sie kickte an die Mülltonne um ihrem Unmut Luft zu machen. Dieses Mistvieh hatte ihr wirklich einen riesigen Schrecken eingejagt.
Wieder zurück in der Wohnung schloss sie das Fenster, versicherte sich mehrfach, dass es auch wirklich verschlossen war und ging in die Küche, um ihrem morgendlichen Kaffeeritual zu frönen. Sie wollte dem Tag noch eine Chance geben, also überlegt sie, wie sie den Rest gestalten konnte, um den vermasselten Anfang wieder wett zu machen. Während sie an der Theke lehnte und Schluck für Schluck das Koffein auf sich wirken liess, überlegte sie, was sie als Nächstes tun sollte. Zuerst würde sie duschen und die bereits vergangenen Ereignisse abwaschen. Ja, das würde dann quasi ein Neuanfang in den Tag geben, als wäre das vorher nicht gewesen. Dann würde sie ihre Tasche packen und entgegen Jérémies Anweisung Nizza verlassen und nach Monaco fahren, um sich Monte Carlo anzusehen. Ob das eine gute Idee war, nachdem die bisherige Stunde ein einziges Missgeschick war? Womöglich würde sie verhaftet werden, weil man sie bestimmt dabei erwischte, wie sie gegen die Anweisungen eines Beamten verstiess. Es würde zum Tagesanfang passen. Aber hatte sie nicht eben noch beschlossen, dem Tag eine zweite Chance zu geben? Und ob sie das hatte, also schritt sie zur Tat und stellte sich unter die Dusche.
Erfrischt und geläutert trat Beth eine halbe Stunde später auf die Strasse. Den Weg zum Bahnhof nützte sie als Aufwärmtraining für Monaco und ging deshalb zu Fuss. Am Bahnhof angekommen versuchte sie sich an den Billetautomaten und sie war erstaunt, wie schnell sie das Billett in Händen hielt, obwohl sie aufgrund ihrer Unkenntnis der Funktionen mit mehr Komplikationen gerechnet hatte. Beschwingt durch diesen Erfolg entwertete sie das Ticket und ging auf den Bahnsteig, den sie sich bereits herausgesucht hatte. Es waren schon einige Leute versammelt und Beth fragte sich, wie voll der Zug bei seiner Ankunft wohl sein mochte. Die Antwort auf ihre Frage rollte zwei Minuten später in den Bahnhof ein. Er war eindeutig gefüllter, als sie angenommen hatte. Nun denn, dachte sie sich, da muss ich wohl durch. Sie stieg ein und wurde beinahe von der gestauten Hitze erschlagen. Die gesammelte Feuchtigkeit kroch unverzüglich an ihr hoch und ihr frisch gewaschenes Gefühl versteckte sich unter einem klebrigen Schweissfilm, als hätte sie sich in Honig gewälzt. Den zum zweiten Mal an diesem Tag aufsteigenden Ekel ignorierend, quetschte sie sich in die Menschenmenge, wild entschlossen, diesen Ausflug zu geniessen. Natürlich fand sie keinen Sitzplatz, aber immerhin entdeckte sie einen freien Halteriemen, an dem sie sich dankbar festhielt. Auf der Fahrt bekam sie andeutungsweise eine Ahnung davon, wie sich ein Eiswürfel im Cocktailshaker fühlen musste. Zum Schütteleffekt kam noch der regelmässige Lichtausfall dazu. Ironischweise immer dann, wenn der Zug durch einen Tunnel fuhr, was zur Folge hatte, dass der Zug in völlige Finsternis getaucht wurde. Ein kleines Kind weiter vorne im Wagen hatte es sich zum Spass gemacht, immer wenn das Licht ausging, die Spukgeräusche eines Gespenstes nachzuahmen. Als die plötzliche Dunkelheit ein drittes Mal einsetzte, erwartete man bereits die Geräusche des Kindes. Doch der Zug wurde nicht mehr von dem glockenhellen Stimmchen des Kindes erfüllt. Stattdessen herrschte unheimliches Schweigen. Bis vollkommen unerwartet ein lautes „Buh!“ die Stille zerriss. Die Passagiere jaulten auf vor Schreck. Gleich darauf wurde es wieder hell und die Leute im Wagen schauten sich unsicher an und begannen nervös zu lachen. Dieser Streich hatte gesessen. Doch Beth war nicht wegen der imitierten Geisterstunde zusammengezuckt. Für einen kurzen Augenblick hatte sie eine Bewegung wahrgenommen, die sich irgendwie nicht richtig anfühlte. Es war jemand hinter ihr gewesen und genau so schnell wie er gekommen war, war er auch wieder weg. Dachte sie zumindest, denn was sie nicht wusste, war dass dieser Mann keinen halben Meter von ihr weg stand und sie unverwandt anstarrte. Beth beschlich ein ungutes Gefühl und trotz der gestauten Hitze bekam sie eine Gänsehaut.
Die restliche Fahrt verlief ohne weitere Zwischenfälle. Im unterirdischen Bahnhof Monaco - Monte Carlo endete schliesslich Beths Reise. Diesmal blieb das Licht im Zug aber an. Beth stieg aus und sah sich um. Sie hatte gewusst, dass es sich bei diesem Bahnhof um eine besondere architektonische Leistung handelte, aber was sie sah, beeindruckte sie weit mehr, als sie erwartet hatte. Staunend wanderte sie durch die Halle und am liebsten hätte sie jede einzelne der vielen Rolltreppen ausprobiert. Die Aussicht, auf diese Art die Erzählung über die Erlebnisse in Monaco auf den Bahnhof beschränken zu müssen, hielt sie aber davon ab. Sie wandte sich in Richtung des Ausgangs und verliess das Bahnhofsgebäude. Der Weg in den Hafen führte über einige Treppenstufen und schliesslich vorbei an einer kleinen Kirche. Unten angekommen drehte sich Beth noch einmal um. Der Anblick, der sich ihr bot, war beeindruckend. Vor ihr schmiegte sich der Bahnhof hoch erhoben und etwas zurückversetzt in den Fels. Die grossen Bogenfenster liessen an Brücken denken, während die Kirche direkt vor Beth den Eindruck vermittelte, mit ihren spitzen Formen die Bogen durchbrechen zu wollen. Die schroffe Felswand zur Linken erinnerte an die Natürlichkeit der ursprünglichen Umgebung. Abgerundet wurde das Gesamtbild vom künstlich angelegten wie aber auch vom natürlichen Grün der umliegenden Pflanzen. „Wenn das so weitergeht, komme ich wirklich nie vom Fleck“, murmelte sie zu sich selbst und begab sich dann auf die Spuren von Grace Kelly.
Beth schlenderte ein Stück am Hafen entlang, bog manchmal ab in die Gassen und Wege Monacos, um dann wieder zurück zum Hafen zu spazieren. Auf diese Art bewegte sie sich langsam in die Richtung des ältesten Stadtbezirks von Monaco. Unten an der felsigen Halbinsel angekommen, erwartete Beth eine ganze Anzahl von Treppen. Der Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass sie aber diesen direkten Weg wählen musste, um noch pünktlich der Wachablösung vor dem Palais du Prince um 11.55 Uhr beiwohnen zu können. Der Aufstieg war anstrengend und sie spürte, wie sich die Schweissperlen in kleinen Rinnsalen einen Weg zwischen ihren Brüsten hindurch hinunter zu ihrem Bauchnabel bahnten. Die salzigen Tropfen ignorierend, erklomm sie den Fels Stufe für Stufe und kam schliesslich rechtzeitig oben an. Es hatte sich bereits eine Menschentraube versammelt, um das Spektakel zu beobachten. Sie suchte sich ein Plätzchen, von dem aus sie einigermassen etwas sehen konnte und schaute dem Prozedere der Wachablösung zu. Faszinierender fand sie allerdings den Anblick des Palastes. Es war ein Prachtbau in Sandgelb und weiss gehalten, zum Teil verputzt, zum Teil waren noch die rohen Steine sichtbar. Bevor sie in Versuchung geriet, sich länger mit den Details des Palastes aufzuhalten, setzte sie ihren Weg fort. Zum Pflichtprogramm eines jeden Touristen gehörte schliesslich die Kathedrale Notre-Dame-Immaculée. Nicht nur die Kathedrale selbst, auch die Menschen, die darin ihre letzte Ruhestätte fanden, waren ein einziges Gedicht. Auch Beth reihte sich in der Kathedrale in die Schlange der Besucher ein. Im Gänsemarsch ging es vorbei an den Grabplatten der verstorbenen Mitglieder der Fürstenfamilie, bis am Ende das Grab des berühmten Fürsten Rainier und seiner wahrscheinlich noch berühmteren Frau wartete. Beth war nicht erstaunt, das Grab von Grace Kelly nach wie vor mit frischen Blumen übersäht vorzufinden. Nach dem Verlassen dieses erwürdigen Ortes steuerte Beth in die Richtung des Ozeanographischen Museums. Trotz ihres Interesses hatte sie nicht vor, das Museum zu besuchen. Stattdessen genoss sie die Anblicke weiterer Gebäude, die ihr Architektenherz höher schlagen liessen und atmete tief die Luft der vielen Blumen und die salzige Meeresbrise, die die Felsen hinaufwehte, ein. Nach einiger Zeit kam sie an die Strasse, die wieder hinunter in den Hafen führte. Ohne Eile nahm sie diesen Weg in Angriff, nur um am Hafen vorbei, auf der anderen Seite wieder den Berg hinauf zu laufen. Das Kasino und was sie von den Autos gehört hatte, die davor hielten, konnte sie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Erst viel später gönnte sie sich im idyllisch angelegten japanischen Garten ein bisschen Ruhe und beobachtete die Fische.
Nachdem die Sonne sich bereits in einem wundervollen Sonnenuntergang verabschiedet hatte und die finstere Nacht sich über das Fürstentum gelegt hatte, machte sich Beth auf den Rückweg. Der Bahnhof war schnell erreicht und wie es das Glück so wollte, kam auch der Zug herangerauscht, als sie den Bahnsteig betrat. Ein kurzer Blick auf die Uhr, verriet ihr, dass sie sich glücklicher schätzen konnte, als geahnt, denn die Geisterstunde war nahe und bei diesem Zug handelte es sich um den letzten an diesem Tag. Kaum hatte sie auf einem freien Sitz Platz genommen, da fielen ihr dann auch schon die Augen zu. Gerade spazierte sie noch durch den Palast und bewunderte den Carrara-Marmor, als sie das Klingeln des Mobiltelefons ihres Sitznachbarn aus ihren Träumen zurückholte. Verwirrt rieb sie sich die Augen und sah sich um. Der Moment des Begreifens war gleichzeitig ein Schock. Sie sprang von ihrem Sitz auf und konnte im letzten Moment noch den Zug verlassen, bevor dieser bereits Anstalten machte, den Bahnhof Nizza wieder zu verlassen. „Liebe Güte, das wäre es jetzt noch gewesen…“
Das Zusammenspiel der Ereignisse hatte sie vergessen lassen, dass ein klingelndes Mobiltelefon für ihr rechtzeitiges Erwachen gesorgt hatte. Deshalb kam sie auch nicht auf die Idee, auf das Display ihres eigenen Mobiltelefons zu sehen. Denn dann hätte sie bemerkt, dass es wild blinkte und jemand bereits mehrfach versucht hatte, sie zu erreichen.