Kapitel 8
Obwohl das Thermometer bereits wieder über 20 °C geklettert war, fröstelte es Beth auf ihrem Weg durch die schmalen Gassen. Sie zog ihre Strickjacke fester um die Schultern und ging mit gesenktem Kopf weiter. Unfähig dem Strudel unaufhörlich wirbelnder Gedanken Einhalt zu gebieten, stellte sie sich immerzu dieselben Fragen. Warum war Dina ausgerechnet auf dem Friedhof? Weshalb war sie gestorben? Was hatte sie getötet? Sie war doch kerngesund! Hatte sie jemand überfallen? Aber warum waren dann ihre Geldbörse und ihr Schmuck noch da gewesen? Bei der Identifizierung hatte sie genau gesehen, dass alles noch da war. Ein goldener Ring am Mittelfinger der linken Hand, die filigrane Uhr, die sie ebenfalls links trug, die Ohrringe mit den weissen Perlen und das goldene Kreuz mit den roten Rubinen. Bei einem Raubüberfall hätte der Räuber doch ganz bestimmt nicht dieses Kreuz dagelassen, auch wenn er bei seiner Tat überrascht worden wäre. Es war ein Leichtes, nach der Kette zu greifen und während man sich auf die Flucht begab daran zu reissen. Während sie über diese Szene nachdachte beschlich sie ein seltsames Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht, aber was? Da sie wusste, dass sie in diesem Gemütszustand keine Lösung auf diese Frage finden konnte und auch nicht auf alle anderen Fragen, wollte sie nun doch versuchen, die immerzu wiederkehrenden Gedanken wegzuschieben. Am einfachsten erschien es ihr, an etwas anderes zu denken. Also begann Beth, das Haus, in dem die Polizeistation untergebracht war, in ihrem Kopf zu rekonstruieren. Tatsächlich war diese geistige Arbeit eine willkommene Ablenkung und wirkte zugleich beruhigend. Mit dieser Ruhe war es aber bereits wieder vorbei, als Beths Gehirn sie in das Innere des Reviers führte. Die Tische, Stühle und Menschen tauchten vor ihrem inneren Auge auf, was ihre Gedanken unumgänglich zu Inspecteur Jérémie Russeau führte. Nicht der üble Nachgeschmack der Umstände ihres Kennenlernens, sondern schlicht die Tatsache, dass sie über den ganzen Geschehnissen nicht bemerkt hatte, wie gut er aussah, konnte sie kaum fassen. Jetzt hatte sie aber genügend Zeit, ihn sich ganz bewusst als Mann vorzustellen. Beinahe schämte sie sich ein wenig, als ihre Gedanken wie von selbst die Konturen seines markanten, sonnengebräunten Gesichts formten. Wie auf dem Zeichenbrett malte ihre Vorstellung eine volle Unterlippe und eine etwas schmalere Oberlippe. Die Nase war eher unauffällig geformt. Dazu kamen oberhalb der Wangenknochen grün-braune Augen mit breiten dunkelbraunen Brauen. Die feinen Fältchen in den Augenwinkeln zeugten davon, dass er schon einiges gesehen hatte. Sie stellte sich vor, wie sie tiefer werden mussten, wenn er lächelte. Dabei fiel ihr auf, dass er während der letzten Stunden nicht einmal gelächelt hatte. In Gedanken rügte sie sich sofort und mahnte sich zur Vernunft. Liebe Güte, das war ja absurd, dieser Mann hatte die letzten paar Stunden konzentriert einer aufgelösten, beinahe hysterischen Kuh gegenüber gesessen und sie wunderte sich, dass er nicht gelächelt hatte? Manchmal verhielt sie sich wirklich wie ein Teenager.
Beth war sosehr mit ihrem Ablenkungsmanöver beschäftigt, dass sie beinahe an dem Haus, in dem Dina wohnte, vorbei gelaufen wäre. In der Wohnung und damit auch wieder in der Realität angekommen, begann sie, getrieben von der Unruhe, rastlos durch alle Zimmer zu wandern. Dabei brachen die gewaltsam unterdrückten Tränen wieder hervor und liefen unaufhaltsam über ihr Gesicht. Irgendwann, sie wusste nicht, wie lange sie so umhergelaufen war, kam sie vor Dinas Bett zu stehen. Der Anblick, der sich Beth bot, versetzte ihr erneut einen Stich. So, als hätte sich ihre Tante nicht schnell genug in ihre Freizeitkleidung stürzen können, war die weisse Arbeitsbluse achtlos auf das Bett geworfen worden. Dort lag sie jetzt zerknittert in ihrer unschuldigen Farbe und würde nie wieder Dinas Körper einhüllen. Mechanisch griff Beth nach dem Stück Stoff und liess zärtlich ihre Hand darüber gleiten. Auf einmal war Beth vollkommen erschöpft, sie spürte, wie ihre Beine sie nicht mehr tragen wollten und ihre Arme so schwer wurden, dass ihr beinahe die Bluse entglitten wäre. Langsam liess sie sich auf das Bett sinken und nahm das Kleidungsstück wie einen Teddybären in den Arm. Der Geruch von Dinas Parfüm haftete noch daran, der die Illusion, dass Dina im nächsten Moment zurückkommen musste, nur noch verstärkte. Beth erlag diesem Trugschluss nur zu gerne. Wie eine Katze rollte sie sich zusammen und schloss die Augen. Wehmütig ergab sie sich der Erinnerung an all die schönen Dinge, die sie mit Dina hatte erleben dürfen.