Kapitel 21
Paul sprang von seinem Stuhl auf, als er Jérémie kommen sah. „Inspecteur, wo waren Sie denn?“
„Zu Hause.“
„Haben Sie bereits mit Madame Clement gesprochen? Hatte sie aufschlussreiche Informationen über den Nachnamen ihrer Tante?“
„Oh scheisse, das habe ich vollkommen vergessen!“
„Wie bitte?“ Paul folgte Jérémie in das Büro und schloss die Tür. „Inspecteur Russeau, was haben Sie vergessen?“
Erst stützte sich Jérémie mit gesenktem Kopf auf seinem Schreibtisch ab. Dann hob er den Kopf und blickte Paul direkt in die Augen. „Ich habe sie nicht gefragt.“
„Inspecteur, bei allem Respekt, ich muss Ihnen jetzt die Meinung sagen. An diesem Fall stimmt etwas nicht und darum ist es wichtig, dass Sie zu zweihundert Prozent dabei sind. Allerdings beginnt Ihre Aufmerksamkeit in letzter Zeit gefährliche Löcher aufzuweisen. Ich bitte Sie deshalb, sich zusammenzureissen. Zusätzlich wäre ich Ihnen noch dankbar, wenn Sie mir mitteilen könnten, was genau Sie so aus der Bahn wirft? Diese Nichte scheint wirklich eine aussergewöhnliche Frau zu sein, aber Sie werden sich kaum von persönlichen Interessen leiten lassen, dafür sind Sie viel zu sehr Polizist. Aber wenn es das nicht ist, was ist es dann?“
„Paul, ich schätze Ihren Einsatz und Ihren Ehrgeiz. Der erste Teil Ihres Vortrages über meinen Konzentrationsverlust sowie die Beurteilung über Beth Clement sind Treffer mitten ins Schwarze. Normalerweise haben Sie auch eine ausgezeichnete Menschenkenntnis, was unter anderem ein Grund dafür ist, dass ich Sie gerne an meiner Seite habe. Doch dieses eine Mal irren Sie sich.“
Pauls Körper spannte sich an, wie immer wenn er seine Aufmerksamkeit noch einmal um einiges steigerte. Er roch Gefahr und wusste noch nicht aus welcher Richtung. „Worin besteht mein Irrtum?“
„Ihre Einschätzung bezüglich meiner Professionalität.“ Jérémie machte eine Pause. „Ich lasse sie bei mir übernachten.“
Einerseits entspannte sich Paul wieder andererseits hatte er das Gefühl, sein Vorgesetzter wäre verrückt geworden und das sagte er ihm auch.
„Paul, Sie haben vollkommen Recht. Ich habe keine Ahnung, was in mich gefahren ist. Ich verspreche Ihnen aber, ich werde mich auf das Wichtigste zurückbesinnen und wir werden diesen Fall bis ins letzte Detail knacken.“
„Inspecteur, ich nehme dies als Versprechen und ich vertraue Ihnen, aber halten Sie diese Frau auf Distanz, sie benebelt Ihre klare Sicht der Dinge.“
„Tatsächlich? Vielen Dank für die wertvolle Information, Paul.“ Die Ironie war kaum zu überhören.
Die Art, wie Paul aus dem Büro stürmte, zauberte auf Irenes schmale Lippen ein breites Lächeln. „Der Vogel ist gelandet.“ Ihren Erfolg auskostend, tippte sie friedlich weiter das Protokoll über einen Einsatz in einem Elektronikmarkt ab. Bis die Tür des Büros erneut aufschwang. „Irene, kommen Sie sofort hierher.“
„Zu früh gefreut.“ Irene stand auf und wackelte in Jérémies Büro.
„Was haben Sie sich dabei gedacht?“ Kaum war die Türe zu, zitterte Irene um ihre Kaffeepause, denn sie befürchtete eine endlose Standpauke. Doch Jérémie stellte nur diese eine Frage. Dafür musste sich Irene die Antwort gut überlegen, denn wenn sie etwas Falsches sagte, würde die Standpauke möglicherweise doch noch folgen. Da Irene aber leider ein Mensch war, der Lügen verabscheute, vor allem aus dem eigenen Mund, versuchte sie es, Kaffeepause hin oder her, dennoch mit der Wahrheit.
„Inspecteur, ich habe gesehen, wie Sie der Kleinen nachgeschaut haben und sie ist wirklich ein hübsches Ding. Also dachte ich, dass das perfekte Mädchen gekommen ist, um unseren Inspecteur wieder in die Spur zu hieven. Sie waren lange genug deprimiert. Kommen Sie zurück ins Leben!“
„Irene, ich mag Sie und das wissen Sie. Aber wagen Sie es nicht noch einmal sich in mein Privatleben einzumischen, ansonsten werde ich dafür sorgen, dass Sie in Zukunft irgendwo bei den Pinguinen Polizistin spielen können. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“
„Glasklar.“
„Gut. Dann gehen Sie.“
Irene zögerte nur kurz, weil sie nicht glauben konnte, dass sie so einfach davongekommen war. Sie hatte wesentlich schlimmere Attacken erwartet, als in Zukunft den Verkehr bei den Frackträgern regeln zu müssen.
Madeleine war das Schauspiel nicht entgangen, weshalb sie bereits an Irenes Schreibtisch wartete, als jene zurückkam. „Und? Eine Woche Kloputzdienst?“
„Nein, Verkehrsdienst bei den Pinguinen war dran.“
„Wie jetzt, nur Arschkälte, sonst nichts? Mensch, du hast eine Frau bei ihm eingeschmuggelt und du hast ihm, wie ich dich kenne, bestimmt die Wahrheit über deine Motive gesagt und du bekommst nur Eiszapfen angedroht? Das ist krass.“ Madeleine war vollkommen aus dem Häuschen. „Weißt du was Irene, vielleicht hattest du ja sogar Recht. Ich bin jedenfalls auf morgen gespannt.“ Kopfschüttelnd zog Madeleine ab.
„Ich auch, Madeleine, ich auch.“