Kapitel 3

 

Eine Woche später öffnete Beth Dinas Wohnung mit dem Schlüssel, der wie verabredet in einem Spalt zwischen Türrahmen und Boden, hervorgerufen durch die exakte Arbeitsweise der französischen Bauarbeiter, gelegen hatte. Gemäss der Erklärung ihrer Tante, ging sie in das Zimmer, das rechts vom Eingang lag. Sie trat in einen grossen, einladend eingerichteten Raum. Gleich gegenüber der Tür, direkt unter dem Fenster stand ein grosses Doppelbett, welches von weissen bodenlangen Vorhängen eingerahmt wurde. Den Schrank hatte Dina an der rechten Wand aufgebaut. Ein niedriges Bücherregal hatte seinen Platz auf der linken Seite des Raumes, gleich neben der Tür zum Badezimmer, gefunden. Dina hatte sich wirklich Mühe gegeben und Beth musste beim Anblick des Zimmers lächeln. Sie stellte ihre Reisetasche neben das Bett, schnappte sich ihre Sonnenbrille und ihre kleine Handtasche, wandte sich wieder zur Tür und wollte gerade die Wohnung wieder verlassen, als Dina nach Hause kam. „Ah, du bist angekommen!“ Dina nahm Beth in den Arm. „Und du willst schon wieder weg?“

„Ja, ich wollte ein bisschen Sightseeing betreiben. Ich kann es kaum erwarten mehr von dieser Stadt zu sehen!“

„Gut, ich habe etwas Zeit, ich werde dich auf einen Kaffee begleiten.“

Gemeinsam traten sie auf die Strasse. Beth hakte ihren Arm bei Dina unter und so schlenderten sie in Richtung Altstadt.

Im Café angekommen, setzten sich die beiden an einen freien Tisch.

„Ah, salut Dina!“ Kaum hatten sie die Stühle zurechtgerückt, kam auch schon der Kellner herbeigeeilt. „Das Übliche?“

„Gerne, aber heute hätte ich es gerne zwei Mal.“

„Oh, wir sind in Begleitung! Darf ich fragen, wer die hübsche Dame ist?“

„Nein, eigentlich nicht, aber ich werde sie dir trotzdem vorstellen. Beth, das ist Silvan, Silvan, das ist Beth. Sie ist meine Nichte und sie ist aus England. Sie bleibt auch einige Zeit bei mir, aber mach dir keine Hoffnungen, sie wohnt in meiner Wohnung und ihr Schlafzimmer liegt gegenüber von meinem. Ich werde also merken, wenn du versuchst, dich in ihr Zimmer zu schleichen.“

Schmunzelnd hauchte Silvan Beth einen Kuss auf ihren Handrücken und schaute ihr dabei tief in die Augen.

„Madame, ich bin entzückt, Sie kennenzulernen. Ich hoffe, Sie werden Ihren Aufenthalt in Frankreich geniessen. Wenn Sie etwas brauchen, dann fragen Sie mich einfach. Ich habe nämlich auch eine eigene Wohnung.“

Beths Lippen kräuselten sich zu einem kecken Lächeln. „Silvan, Sie sind seit meiner Ankunft der erste Mann, mit dem ich mehrere Worte, die nicht mit Passkontrollen oder Einkäufen zu tun haben, gewechselt habe. Aus diesem Grund können Sie sich meiner Zuneigung sicher sein. Doch sollte mich das Bedürfnis beschleichen, auch nur einen Fuss in Ihre Wohnung zu setzen oder gar Sie zu mir einzuladen, werde ich augenblicklich das nächste Flugzeug besteigen.“

„Autsch… Dina, deine Nichte hat mir soeben das Herz gebrochen. Scheinbar liegt das aber in der Familie. Ach, wo wir doch gerade dabei sind, wie geht es Henry?“

Mit einem kurzen Blick zu Beth antwortete Dina: „Danke, Silvan, jetzt hast du mich in Verlegenheit gebracht. Aber um deine Frage zu beantworten, es geht ihm gut. Danke der Nachfrage und vielen Dank für den denkbar ungünstigen Zeitpunkt.“

„Heisst das, wir sind jetzt quitt?“

„Ja, ich würde sagen das sind wir, bis es um die Trinkgeldfrage geht. Ich tippe darauf, dann wieder 1:0 in Vorsprung zu gehen.“

Natürlich hatte Beth ganz genau zugehört. Das Grinsen, das sie seit, sie angekommen war nicht mehr aus dem Gesicht bekam, verbreiterte sich zusehends. „Wer ist Henry?“

„War ja klar, dass du das fragst…“ Dina machte eine abwehrende Geste. „Silvan übertreibt. Henry ist ein netter Herr, der mich einmal hierher begleitet hat. Aber das wird nicht wieder vorkommen.“ Etwas lauter fügte sie hinzu: „Weil ich ihn nämlich nie wieder in dieses Lokal führen werde. Die Kellner hier tratschen zu viel!“ Wohlwissend, dass Silvan zugehört hatte, wartete sie sein typisches Schnauben ab und fuhr dann fort: „Ich habe ihn am Montag, nachdem ich angekommen war, kennengelernt. Ich holte mir einen Kaffee für unterwegs und als ich nach dem Zucker griff, waren da eben schon seine Hände an der Zuckerdose. Tja, am Abend gingen wir essen.“

Beth machte grosse Augen. „Was? Du bist an dem Tag, an dem du ihn kennengelernt hast, auch gleich mit ihm essen gegangen? Du hast quasi das Frühstück und das Abendessen bereits innerhalb von rund 12 Stunden hinter dich gebracht? Wow, wenn das kein Speed-Dating ist, dann weiss ich auch nicht!“ Beth nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. „Wie ging es weiter? Ging es überhaupt weiter?“

„Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen am Ort des Kennenlernens und noch während wir den Kaffee schlürften, wurde ein Mittagessen daraus und während dem Mittagessen wurde es plötzlich ein Abendessen. Nach dem dritten Tag in diesem Rhythmus verlagerten wir das Abendessen zu ihm nach Hause. Und Beth, glaube mir, der Mann kann kochen! Das hast du noch nicht erlebt!“

„Nur kochen?“ Fragte Beth mit einem gemeinen Grinsen.

„Nein, auch abwaschen, gab Dina zurück. Die Schamesröte, die ihr dabei ins Gesicht stieg, lies Beth unweigerlich laut herauslachen.

So, genug von mir. Jetzt erzähl du. Wie war die Reise?“

Beth rührte in ihrem Kaffee und begann fröhlich zu erzählen. „Eleganter Themenwechsel, aber ich werde es nicht vergessen! Aber gut. Sie war unspektakulär. Alles lief glatt. Ich bin nur kurz einmal an einem Zeitungsstand angerempelt worden, aber der Herr sah aus, als wäre er in Eile und hat sich auch ganz freundlich entschuldigt. Mir ging dann durch den Kopf, dass manche Dinge wohl in jedem Land genau gleich passieren. Ich fand, dieser Gedanke hat etwas Beruhigendes, wenn man bedenkt, dass ich noch nie hier war und den Weg bis in deine Wohnung alleine bewältigen musste, ohne auch nur die kleinste Ahnung zu haben, was einen erwartet.“

„Na, tu jetzt nicht so. Diese Reise war ganz alleine deine Idee und ich habe dich bestimmt nicht mit Informationsmangel gestraft!“

„Natürlich hast du recht. Genügend Infos hin oder her, ich bin immer etwas nervös, wenn ich die Umgebung nicht kenne und mich zuerst alleine orientieren muss, um mich zurechtzufinden. Aber ich bin ja da und es hat alles super geklappt.“

„Genau.“ Dina machte Anstalten aufzustehen. „So Liebes, ich muss mich mal wieder auf den Weg machen. Kommst du alleine zurecht?“ Sie kam nicht umhin, diese Bemerkung etwas neckisch klingen zu lassen.

„Haha, sehr witzig. Ich muss nicht alleine zurechtkommen.“ Bei dieser Aussage äugte Silvan hoffnungsvoll hinter dem Türrahmen hervor. “Ich habe Herrn Polo dabei, Marco Polo. Er wird mir treu ergeben sein und sicheres Geleit bieten.“ Enttäuscht zog sich Silvan wieder zurück.

Dann kann ja nichts mehr schief gehen.“ Sie gab Beth einen Kuss auf die Wange, bezahlte den Kaffee, gab Silvan mehr Trinkgeld als normal und verschwand mit einem zufriedenen Lächeln in einer kleinen Gasse.

Beth tat es ihr einige Minuten später gleich. Sie öffnete ihren Marco Polo und steuerte mit seiner Hilfe ihr erstes Ziel an.

Entspannt und neugierig schlenderte sie durch die Altstadt, vorbei am Blumenmarkt, durch die verwinkelten Gassen bis hin zum Place Rosetti. Dort gönnte sie sich ein Eis und schlug dann den Weg zum Schlossberg ein. Der steile Aufstieg und die Treppen brachten sie ganz schön ins Schwitzen. Mehrfach fragte sie sich, weshalb sie sich das antat, doch als sie schwer atmend oben ankam, entlöhnte der atemberaubende Ausblick all ihre Mühe. Sie liess sich lange Zeit, den Berg zu erkunden. Den verwinkelten Wegen folgend liess den Blick in die Ferne schweifen. Der Anblick der saftig grünen Hügel, zwischen denen die Stadt eingebettet worden war und dem Hafen auf der einen Seite sowie dem Promenade des Anglais auf der anderen, war schlicht wundervoll. Vor ihr glitzerte friedlich die unendliche Weite des dunkelblauen Meeres und hinter ihr breitete sich die Vielfalt saftig grüner Wälder durchbrochen von schroffen Felswänden aus. Nach einiger Zeit kehrte sie zu ihrem Anfangspunkt zurück und stattete zum Abschluss ihres Rundgangs dem alten jüdischen Friedhof einen Besuch ab. Die grossen Grabdenkmäler in allen Formen, Farben und Materialien faszinierten sie derart, dass sie sich fest vornahm, auch die anderen Friedhöfe Nizzas zu besuchen. Schliesslich sagte sogar ihr Marco, dass unter anderem der Besuch der letzten Ruhestätte im Ortsteil Cimiez ein absolutes Muss war.

 

 

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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