Kapitel 25

 

Beth wartete wie verabredet vor der Polizeiwache. Jérémie parkte das Auto und stieg aus.

„Wir gehen zu Fuss.“

„Wohin?“, wollte Beth wissen, denn die Informationen am Telefon waren gelinde gesagt, äusserst rar ausgefallen.

„Das wirst du schon sehen. Sind deine Nerven einigermassen stabil?“

„Ja, aber warum?“ Sie bekam keine Antwort. Schweigend schritt er eilig durch die Gassen, bog hie und da ab und langsam kamen sie in Gefilde, die Beth nicht mehr geheuer waren. Nach wie vor bewegte sich Jérémie aber selbstsicher und flink vorwärts. Sie hatte alle Mühe ihm auf den Fersen zu bleiben und ihr kam der Gedanke, dass er scheinbar wirklich jeden Winkel seiner Stadt kannte, wie man es einem guten Polizisten auch nachsagte. Zwischenzeitlich ertappte sie sich dabei, wie sie zur Seite schielte und die Bilder, die ihr Gehirn registrierte, gefielen ihr nach und nach weniger. Die Gassen wurden schmutziger und enger. Abfall stapelte sich an den Mauern der Häuser, die schon lange keine Pflege mehr erfahren zu haben schienen.

Jérémie, was tun wir hier? Geh doch wenigstens etwas langsamer!“ Krampfhaft versuchte sie ihn aufzuholen und an seine Seite zu treten.

„Es dauert nicht mehr lange.“

„Super, danke für die informative Antwort!“

Er blieb so abrupt stehen, dass sie geradewegs in seine Arme rannte. „Oh, entschuldige.“

Indem Jérémie sie an den Schultern packte, schob er sie von sich. „Scht!“ Er hielt den Finger vor den Mund um Beth zum Schweigen zu bringen und öffnete dann eine Bretterwand vor sich, die wohl als Tür diente. Ohne zu zögern verschwand er in der Dunkelheit, die sich vor ihnen auftat. Ein mulmiges Gefühl nur schwer unterdrückend, folgte Beth seinem Beispiel. Von völliger Finsternis umschlossen, konnte sie sich nicht orientieren. Panik stieg in ihr auf, denn sie hatte keinen Anhaltspunkt, wo Jérémie war. Irgendetwas streifte ihre Füsse. Für den Bruchteil einer Sekunde empfand sie Dankbarkeit darüber, dass sie nicht sehen konnte, was es gewesen war. Und dann durchbrach plötzlich ein gellender Schrei die Dunkelheit. Wild um sich schlagend begriff Beth nur langsam, dass sie es gewesen war, die geschriehen hatte. Etwas hatte nach ihr gegriffen und hielt sie nach wie vor fest. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht befreien. Im Gegenteil, sie wurde nur noch stärker festgehalten. Grob wurde Beth weggezerrt. Sie wollte nach Hilfe rufen, doch die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Dann, auf einmal, konnte sie ein wenig Licht ausmachen. Die Quelle blieb ihr noch verborgen, doch es reichte aus, um erkennen zu können, wer sie fest in seinen Händen hatte. Sie wollte etwas sagen, doch ihr wurde der Mund zugehalten. Erst einige Meter durch feuchte Korridore und Räume weiter, lösten sich die Hände von ihr. „Verdammt noch mal, du hast mich zu Tode erschreckt!“

„Glaube mir, so war es das Beste. Die Bewohner dieser Räumlichkeiten, wenn man es so nennen kann, hätten uns als Eindringlinge entlarvt und wenn das passiert, schrecken sie vor nichts mehr zurück. Eigentlich können wir froh sein, nach deinem ohrenbetäubenden Schrei noch am Leben zu sein.

„Sind wir denn jetzt nicht immer noch Eindringlinge?“ Beth wurde das ungute Gefühl nicht los, direkt hinter sich jemanden stehen zu haben, den sie aber nicht sehen konnte.

„Doch.“ Und damit ging er davon.

Keine Sekunde wollte Beth hier alleine bleiben, also heftete sie sich erneut an seine Fersen.

„Tripolis.“ Jérémie war stehengeblieben und sprach in die Finsternis. Vollkommenes Unverständnis ergriff Besitz von Beth. Sie stellte sich leicht versetzt hinter ihn und starrte mit ihm in die Dunkelheit. Beinahe wäre ihr das Herz stehengeblieben. Sie meinte eine Bewegung gesehen zu haben, doch da schien nichts zu sein, ausser düsterer Finsternis. Dann, bevor ihr Bewusstsein es richtig registrieren konnte, nahmen die Schatten Gestalt an. Beths Puls raste. Bei genauerem Hinsehen, war die gruselige, unheimlich Gestalt ein gebeugter, wenig beeindruckender und extrem schmutziger Mann mit schlechten Zähnen und zittrigen Händen.

„Was willst du hier?“, krächzte der Mann Jérémie an. Der Mundgeruch war bis zu Beth riechbar.

„Tip, ich brauche deine Hilfe.“

„Zu welchem Preis?“

Jérémie drückte dem Mann Geld in die Hand, Beth konnte nicht sehen, wie viel. Der Mann schien zufrieden. „Wer ist die Kleine? Kann ich die dazu haben?“

„Du kennst die Antwort. Ansehen, aber nicht anfassen.“

„Ein hübsches Ding, wirklich.“ Es war Beth unangenehmen, wie der Mann sie musterte, sie hatte aber eins und eins zusammengezählt und liess ihn gewähren, obwohl sie nicht verstand, was ihr Anblick mit dem geschlossenen Deal zu tun hatte.

„Genug jetzt.“ Jérémie lenkte die Aufmerksamkeit des Mannes wieder auf sich.

„Ist dir zu Ohren gekommen, dass in letzter Zeit jemand einer hübschen Madame zu tiefem Schlaf verholfen hat?“

Tiefschlaf für eine Madame? Nö, davon weiss ich nichts.“

„Streng dich an, Tip. Ist in letzter Zeit etwas Besonderes vorgefallen?“

„Naja, ich glaube in den hinteren Korridoren hat einer der Unterhändler erzählt, dass vor nicht allzu langer Zeit ein Neuer auftauchte und nach Wunderpillchen verlangte. Soll ein geschniegelter Typ gewesen sein, nur mit grossen Scheinen bewaffnet.“

Geht doch. Wann war das genau?“

„Weiss ich nicht mehr, so vor ein paar Wochen?“

„Kam er seither regelmässig?“

„Jep, scheint aber auch auf Vorrat gekauft zu haben.“

„Wie kommst du darauf?“

„Naja, der Unterhändler prahlte damit, dass er nach einigen einzelnen Röhrchen plötzlich zwei gekauft hat. Da blieb natürlich doppelt so viel Kohle hängen.“

„Die doppelte Kohle kam nur ein einziges Mal?“

„Hab jedenfalls nichts mehr in die Richtung gehört.“

„Du kannst den Kerl nicht zufällig beschreiben?“

„Wo denkst du hin, kenn ihn ja nur vom Hörensagen. Aber da fällt mir ein, der Verkäufer hat noch erzählt, dass der Kerl echt ein Neuling sein musste, denn er hatte wohl das Gefühl, seine Stimme verstellen zu müssen, was, wie mir zugetragen wurde, wie ein Junge vor dem Stimmbruch klang und abgesehen davon fragte er ihn scheinbar, wie viel man von dem Zeug nehmen muss, um sich zu tilten und ob es noch andere Einnahmemöglichkeiten gäbe, damit das Zeug noch schneller wirkt.“

„Tatsächlich?“

„Natürlich. Willst du mir etwa sagen, dass ich lüge?“

„Nein, du bestimmt niemals.“ Ironisch zog Jérémie seine Augenbraue hoch. „Gibt’s noch mehr? Hat der Verkäufer vielleicht auch noch mit den Antworten geprahlt, die er dem Kerl gegeben hat?“

„Und ob! Er hat ihm so Scheisse über zerkleinern und in Alk auflösen erzählt, ist ja nur schwer wasserlöslich und weil wir ja gute Berater sind, hat er auch noch erklärt, dass es nicht von Vorteil ist, ein ganzes Röhrchen auf einmal zu nehmen. Wenn der sich wegschiesst, wollen wir schliesslich nichts damit zu tun haben. Nicht einmal, wenn der Kerl selbst danach gefragt hat.

„Verstehe, der Ehrenkodex.“

„Ganz richtig.“

„Tip, du hast mir sehr geholfen. Lass dich nicht wegputzen.“

Jérémie wandte sich zum gehen, als Tip in zurückrief. „Deal gilt noch?“

Jérémie drehte sich für die Antwort nicht mehr um. „Wenn alles wahr war.“

Mit Erstaunen hatte Beth die Szene verfolgt. Diesmal setzte sie sich nicht zur Wehr, als Jérémie sie am Arm mitzog. Noch einmal schaute sie kurz zurück. Doch hinter ihnen war nichts mehr zu sehen, ausser Dunkelheit.

 

Unbeschadet schafften sie es, das seltsame Gebäude wieder zu verlassen. Wieder im Freien warf Beth neugierig noch einmal einen Blick zurück, konnte aber ausser einer Wand und ein paar Holzbrettern in einer schrecklichen Gegend nichts Aussergewöhnliches erkennen.

„Sag mal, was war das denn eben?“

„Was war was?“ Jérémie schaute aus Augen, gefüllt mit kindlicher Unschuld. Beinahe so, als wäre nichts gewesen. Nur hatte Beth keine Lust dieses Spiel mitzuspielen.

„Na da drin! Woher kennst du den Kerl? Was für ein Deal, wieso hast du ihm erlaubt, mich so zu mustern, alleine schon wie ihr miteinander gesprochen habt, die Fragen, die du ihm stelltest… Irgendetwas scheint hier absolut an mir vorbei gegangen zu sein und ich denke, wenn du mich hierher schleppst und wie eine Sklavin vor dem Verkauf beäugen lässt, habe ich das Recht ein bisschen genauer informiert zu werden.“

„Nicht hier und nicht jetzt. Komm schon.“

Der naive Ausdruck hatte gänzlich einer besorgniserregenden Unruhe Platz gemacht. Beth stellte fest, dass dieses Unbehagen ansteckend wirkte. Nicht genau wissend weshalb, hatte sie jetzt nur noch stärker das Bedürfnis, die Gegend zu verlassen, als bis anhin.

 

Zügigen Schrittes kamen sie an einem Mann vorbei, der lässig an die Wand lehnte, eine Mütze tief ins Gesicht gezogen hatte und mit der rauchenden Zigarette im Mund an einen Cowboy im falschen Jahrzehnt erinnerte.

„Hallo Jérémie. Nett dich wiederzusehen. Hattest wohl Sehnsucht, was?“ Beth hatte nicht erwartet auf einmal angesprochen zu werden, weshalb sie erschrocken zusammenzuckte, als die raue Stimme des Mannes die Luft durchschnitt.

Jérémie blieb betont langsam stehen. Aus harten, kalten Augen funkelte er sein Gegenüber an. Ohne den Blick abzuwenden schob er Beth schützend ein Stück hinter sich. Alarmiert reagierte Beth auf den leichten Druck, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

„Wohl kaum.“ Es waren nur zwei Worte. Aber in diesen zwei Worten schien sich die gesamte Wut eines Lebens zu entladen. Beth spürte überdeutlich, wie Jérémie krampfhaft um Beherrschung rang. Der andere blickte ihm mit einem spöttischen Grinsen herausfordernd direkt in die Augen, doch Jérémie liess sich nicht hinreissen. Er nahm Beths Hand und zog sie mit sich fort. Sein Griff war so fest, dass es beinahe schmerzte, aber sie sagte nichts. Sie war sich jetzt sicher, dass die Bekanntschaften mit den Menschen hier nicht nur rein beruflicher Natur waren.

 

 

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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