Kapitel 58

 

„Könntest du mir bitte nicht so auf den Leib rücken?“ Beth schubste Silvan etwas unsanft weg und ging weiter.

„Ich weiss nicht, was du vor hast, also weiche ich dir keinen Millimeter von der Seite.“

Der Blick, den Silvan dafür kassierte, hätte die Weltmeere einfrieren lassen. „Sag mir lieber, wo ich jetzt noch an Blumen komme!“

„Blumen? Wofür brauchst du die?“

„Wo?“ Energisch verlieh Beth ihrer Frage noch einmal Nachdruck.

Laden!“, brüllte Silvan zurück. „Mensch, du bist ein eigensinniges Ding!“

„Danke. Wo ist der nächste Blumenladen oder Laden mit Blumen?“

„Dort, wo die Bienen fliegen.“

„Wie witzig. Soll ich jetzt die ganze Stadt auf eigene Faust absuchen, was für dich sehr anstrengend werden könnte, weil du mich ja nicht aus den Augen lassen möchtest, oder sagst du mir direkt, wo ich finde, was ich suche?“

Kurz wog Silvan die beiden Möglichkeiten ab. „Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht vernünftiger wäre, dich in der Stadt herumirren zu lassen, einfach nur damit du dein Vorhaben nicht weiterverfolgen kannst.“

„Na dann, du hast es nicht anders gewollt.“ Stur stapfte Beth los.

Dafür hatte Silvan nur ein Augenrollen übrig. „Die andere Richtung.“

Abrupt blieb Beth stehen, dann drehte sie sich um und stolzierte an Silvan vorbei in die andere Richtung.

„Weiber.“ Mit den Händen in den Hosentaschen nahm Silvan die Verfolgung auf.

 

„Bist du jetzt zufrieden?“

„Ja, danke.“ Mit einem beinahe frischen Bund gelber Rosen verliess Beth den kleinen Laden und strebte geradewegs ihr nächstes Ziel an.

Silvan hatte tatsächlich ein wenig Mühe ihr zu folgen. Mehrfach hätte er sie schon fast aus den Augen verloren. Doch er liess nicht locker, weder mit seiner Verfolgung, noch mit seinen Fragen. „Sagst du mir jetzt, was du im Schilde führst?“

„Nein.“

„Das war deutlich.“

Beth war den Weg, den sie ging, am Anfang ihres Aufenthalts einige Male gegangen, weshalb er zu einer Selbstverständlichkeit geworden war. Aber jetzt, nach Dinas Tod, fühlten sich die Strassen, die Häuser, die ganze Umgebung seltsam an. Ihr mulmiges Gefühl schien auf Silvan überzugreifen. Inzwischen hatte sie nicht mehr das Gefühl, dass er sie beschützen wollte, sondern eher, dass sie ihm Deckung geben musste.

„Du bist verrückt. Es wird bereits dunkel und du führst uns in diese Gegend!“ Selbst sein kaum hörbares Flüstern erschien Silvan noch zu laut.

„Silvan, wenn es deine Angst nicht zulässt, mich zu begleiten, dann lass es.“ Eigentlich war Beth froh um seine Gesellschaft und sie fand Gefallen daran, ihn ein wenig zu necken.

„Ssssht! Nicht so laut!“

„Warum nicht? Befürchtest du, die Zombies könnten dich hören?“

Ein leises Geräusch aus einem Hauseingang liess Silvan derart zusammenzucken, dass Beth einen Schritt zu Seite machen musste, um nicht zu stürzen. Das brachte sie zum Lächeln.

„Findest du das etwas witzig? Hättest du nicht morgen diese dämlichen Blumen holen können? Jetzt haben wir schon einen berühmten Blumenmarkt, aber Madame bevorzugt es halb verwelkte zu kaufen und damit in der Abenddämmerung in einer der schlimmsten Gegenden Nizzas herumzuirren. Hier gibt’s doch nichts weiter als arme Menschen, Gangs, Verbrecher und den Fried…“ Silvan blieb wie gelähmt stehen und hielt Beth fest. „Das kann jetzt nicht dein Ernst sein!“ Inzwischen hatte er sein Vorhaben, leise flüsternd nur das Allernötigste zu sagen, vollkommen vergessen.

„Jetzt mach hier nicht so einen Aufstand. Wie du selbst schon sagtest, es dämmert erst. Also ist noch Tageslicht da. Ausserdem weißt du ja, dass ich das alleine machen werde. Du wirst also draussen warten müssen. Und ja, ich möchte das jetzt tun, weil ich das Gefühl habe, meinem Onkel etwas zu schulden. Der Kerl liegt seit Ewigkeiten hier begraben und hat noch nie Besuch von seiner Nichte bekommen. Das ist traurig.“

„Die Nichte konnte ihn nicht besuchen, weil sie vor gar nicht allzu langer Zeit noch überhaupt nichts von seiner Existenz wusste!“ Eine leichte Hysterie schien die Oberhand über Silvans Stimme zu erlangen.

Genau. Und darum ist es jetzt allerhöchste Zeit.“ Beth löste sich aus Silvans Griff und setzte ihren Weg fort.

„Warte! Lass mich hier nicht alleine!“

Wieder musste Beth grinsen, als sie den Kopf leicht zur Seite neigte und sah, wie Silvan ihr hinterher rannte.

„So, da wären wir. Du wartest hier.“

„Das werde ich nicht tun. Ich bin doch kein Hund, den man einfach vor dem Kaufhaus ankettet!“ Silvan plusterte seine Brust wie ein Hahn auf und marschierte auf das Tor zu. Aber als er daran rüttelte, geschah nichts. „Oh, so ein Pech. Geschlossen!“ Mit gespielter Enttäuschung liess er von dem Tor ab. „Dann müssen wir doch bis morgen warten.“

Ein mitleidiges Lächeln war alles, was Beth für Silvan übrig hatte. Dann griff sie selbst nach dem Riegel und wie durch Zauberhand glitt das Tor auf. „Na, so ein Zufall!“ Der Sarkasmus war nicht zu überhören und Silvans Laune verschlechterte sich sofort wieder. Mit dunkler Miene folgte er Beth auf das Friedhofsgelände. Zwischenzeitlich war der Himmel von einem kräftigen Rot in ein dunkles Graublau übergegangen, das die finstere Nacht ankündigte. Der Mond glomm bereits sanft auf und hing wie von Geisterhand gehalten in der Luft. Mit der Dämmerung zog ein kühler Wind auf, der Silvan frösteln liess. Als dann auch noch das Blätterwerk der Bäume mit dem Wind seinen rauschenden Gesang aufnahm, verlor Silvan endgültig die Nerven. Wie ein gehetztes Kaninchen zuckte er zusammen, als im Unterholz in seiner unmittelbaren Nähe ein leises Glucksen zu vernehmen war. Einige Male öffnete er den Mund und schloss ihn wieder, bis endlich ein zittriger Ton herauskam. „Ich glaube, ich warte doch lieber draussen…“ Noch bevor er den Satz beendet hatte, hatte er bereits den Rückzug angetreten.

„Angsthase. Ist doch klar, dass die Tiere der Nacht langsam aus ihren Verstecken kommen.“

Vielleicht wäre Beth nicht so unbekümmert weitergegangen, wenn sie gewusst hätte, dass nicht nur die Tiere der Nacht aus ihren Löchern gekrochen kamen.

 

 

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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