Kapitel 9

 

Alles war vorbereitet und gepackt. Die Fluggesellschaft hatte zwar für eine Abreise gleichentags keine Tickets mehr, aber die Dame am Telefon hatte versichert, dass sie Tickets für den nächsten Tag bereitstellen würde. In Anbetracht des dadurch entstehenden Zeitverlustes entschied sich Susanna aber dagegen. In Gedanken ging sie noch einmal die nötigen Papiere durch um sicherzugehen, dass sie nichts vergessen hatte. Gerade kam ihr in den Sinn, dass sie die Nachbarin noch fragen musste, ob sie die Katze füttern konnte, als sie durch ein lautes Poltern aus dem ersten Stock abgelenkt wurde.

„Jake? Alles in Ordnung?“

Da sie keine Antwort erhielt, ging sie auf die Treppe, die in die oberen Etagen führte, zu. Noch einmal rief sie nach ihrem Mann. Es dauerte noch einen Moment, dann konnte sie einen gepressten Fluch vernehmen.

„Sag mal, was machst du da oben?“

„Nichts!“

„Genau danach hat es sich auch angehört.“ Der Sarkasmus war deutlich zu hören. „Kann ich dir helfen?“

„Nein verdammt!“

Das war Susannas Stichwort. Sie ging die Treppe hoch, marschierte durch den Gang und fand ihren Mann schliesslich im Badezimmer, neben seinem Rollstuhl liegend. Die in der Wand eingelassene Stange fest umklammert, versuchte er sich hochzuziehen. Sein Kopf war bereits ganz rot angelaufen und er schwitzte.

„Sag mal, was hast du vor?“

„Nichts. Ich habe doch gesagt, ich brauche keine Hilfe.“

„Natürlich, von nichts und niemandem. Sind wir wieder dort angekommen? Ich dachte, diese Egomasche hättest du nach so vielen Jahren überwunden.“

Geduldig ging sie auf ihn zu, ging in die Knie, schob ihren Oberkörper unter seine Schulter, legte seinen Arm um ihren Hals und half ihm, sich zurück in den Rollstuhl zu setzen. Seine Versuche, sich gegen ihr Einmischen zu wehren, ignorierte sie vehement und erfolgreich.

Ich will nicht mehr an diesen besch… Rollstuhl gefesselt sein. Der Arzt sagte damals, mit viel Übung könnte ich es schaffen. Ich übe seit 26 Jahren und es klappt immer noch nicht. Es muss aber klappen!“

„Warum muss es denn ausgerechnet heute sein?“

„Weil ich meiner Tochter in ihrer wohl schlimmsten Zeit wie ein ganzer Vater und nicht wie ein Krüppel beistehen will. Immer habe ich das Gefühl, euch nicht so unterstützen zu können, wie ich es will, weil mich meine Beine nicht tragen und dieser blöde Stuhl im Weg ist.“

Einmal mehr schöpfte Susanna aus ihrem schier unendlich vorhandenen Vorrat an Geduld.

„Mein Schatz, du kennst meine Antwort auf deine Zweifel. Du hast deine ganze Familie mehr unterstützt als so mancher Mann, der in vollem Besitz seiner körperlichen Fähigkeiten ist. Vielleicht ist das so, gerade weil du ohne deine Beine zurecht kommen musst. Möglicherweise hast du dich deshalb umso mehr bemüht.“ Zwischenzeitlich hatte sie sich auf den Toilettendeckel gesetzt, um mit ihm auf einer Höhe zu sein und ihn direkt ansehen zu können. Sie streckte eine Hand nach ihm aus und streichelte zärtlich über seine Wange. Allmählich beruhigte er sich wieder. „Trotzdem. Mein Mädchen ist ganz alleine, hat das erste Mal eine Leiche gesehen, die sie zu allem Übel noch kannte und liebte und musste dann auch noch deren Identität bestätigen.

„Ich weiss, was du meinst. Aber denkst du im Ernst, dass du schneller bei ihr sein könntest, wenn du diese Behinderung nicht hättest?“

„Natürlich nicht. Ach, ich weiss doch auch nicht.“ Ratlos verwarf Jake seine Hände. „Es ist einfach nur ein schrecklich elendes Gefühl, nichts Vernünftiges unternehmen zu können.“

„Das weiss ich und ich verstehe dich. Es geht mir doch auch nicht anders. Und genau aus diesem Grund brechen wir jetzt auf.“

Susanna nahm Jake in den Arm. „Kommst du zurecht?“

„Ich denke schon.“

„Gut, dann gehe ich jetzt wieder hinunter und packe die Sachen in das Auto.“

Jake hielt sie an den Handgelenken fest und schaute sie einen Moment schweigend an. Zögerlich brachte Susanna ein Lächeln zustande und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann kehrte sie ihm den Rücken zu, verliess das Badezimmer und wandte sich zur Treppe. Noch einmal drehte sie sich zum Badezimmer um. Sosehr wünschte sie sich, er könnte endlich seinen Frieden mit der Vergangenheit schliessen. Vielleicht war dies jetzt die Chance dazu. Sie beschloss, dass es an der Zeit war, nachzusehen, was aus Frankreich geworden war. Wieder unten angekommen, nahm sie in jede Hand einen Reisekoffer und zog diese zur Tür. Kurz hielt sie inne, um zu lauschen. Sie dachte, sie hätte wieder etwas rumpeln gehört. In der Hoffnung, dass ihre Sinne sie täuschten, ging sie weiter in Richtung der Haustür. Der Schritt ins freie wurde dann doch noch von einem lauten Scheppern begleitet, das sie definitiv gehört hatte. Aber sie biss die Zähne zusammen und ging weiter zum Auto. Wenn Jake unbedingt beim Versuch auf seinen Beinen zu stehen, hunderte Male hinfallen wollte, dann sollte er doch. Sie hatte alles getan was sie konnte. Den restlichen Kampf musste er alleine mit sich austragen.

 

Das Auto war schnell gepackt. Die zwei Koffer fanden ihren Platz im Kofferraum. Eine Kühltasche, gefüllt mit Nahrungsmitteln und Getränken für die Reise, stellte Susanna hinter den Beifahrersitz. Dann ging sie zu der Nachbarin. Da Linda nicht zu Hause zu sein schien, schnappte sich Susanna kurzerhand einen Zettel, notierte ihre Bitte, die Katze füttern sowie nach dem Rechten zu sehen und schrieb ebenfalls, dass ihr Rückreisedatum noch in den Sternen stand. Dann stellte sie noch ein leckeres Abendessen als Lohn für die Mühe in Aussicht, schob den Zettel durch den Briefschlitz und kehrte zu ihrem Haus zurück. Tatsächlich schien Jake seine Versuche aufgegeben zu haben, denn als Susanna wieder in der eigenen Einfahrt ankam, sass er bereits im Auto auf dem Beifahrersitz. Der Rollstuhl stand einsam und verlassen daneben. Susanna liess sich nicht zwei Mal bitten. Sie ging darauf zu, schnappte sich den Riegel, um die Arretierung des Rollstuhls zu lösen und klappte ihn flink zusammen. Diese Handgriffe beherrschte sie im Schlaf und entsprechend schnell war das unliebsame Gefährt ebenfalls im Auto verstaut. Anschliessend ging sie zurück zum Haus und nahm ihre Handtasche, die alle wichtigen Dokumente beherbergte. Nachdem sie sich versichert hatte, dass alle elektronischen Geräte ausgeschaltet waren, trat sie erneut ins Freie, schloss die Tür hinter sich und setzte sich ans Steuer. Jake sprach kein Wort. Er starrte nur Löcher in die Luft. Seufzend beschloss Susanne, ihm eine Schonfrist zu gewähren, damit er in Ruhe Trübsal blasen konnte. Gleichzeitig startete sie den Motor und lenkte den Wagen rückwärts aus der Einfahrt.

 

 

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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