Kapitel 2
Auf ihrer Fahrt im Gatwick Express zum gleichnamigen Flughafen lehnte Dina gedankenverloren den Kopf an das kühle Glas des Fensters. Den ganzen Tag lang war kein Wort mehr über die Nizza-Geschichte gefallen. Eigentlich war sie auch vollkommen damit einverstanden, dass Beth nachkommen wollte und sie freute sich, dass der vorherige Abschied nicht von langer Dauer sein würde. Dennoch kreisten ihre Gedanken immer und immer wieder um die gleichen drei Fragen. War es nicht besser, die Vernunft über die Gefühle siegen zu lassen und Beth die ganze Reiseidee wieder auszureden? Sie konnte einige Gründe vorbringen, um zu versuchen sie von Nizza fernzuhalten. Diese Überlegung führte allerdings unumgänglich zu der zweiten Frage. Warum sollte Beth sich von Nizza fernhalten lassen, wenn sie selbst zurückkehrte um sogar dort zu Leben? Mit diesem Gedanken waren alle plausiblen und auch weniger plausiblen Gründe, die gegen Beths Aufenthalt in Nizza sprachen, so gut wie nichts mehr wert. Doch die dritte Frage beschäftigte sie beinahe am meisten: War sie selbst wirklich bereit, wieder zurückzukehren und Nizzas Pflaster unvoreingenommen zu betreten? Noch während sie angestrengt über Richtig und Falsch nachgrübelte, fuhr der Gatwick Express in den Flughafen ein und kam mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Seufzend legte sich Dina ihre Handtasche, das letzte Gepäckstück, das nicht bereits eingecheckt war, über die Schulter und betrat das Flughafengebäude. Die folgenden Stunden verliefen wie geplant. Sie passierte den Zoll, konnte rechtzeitig in ihr Flugzeug einsteigen und sie fand auch auf Anhieb ihren Platz in der Maschine. Der Start und die Landung waren etwas holprig, aber nach zwei Stunden Flugzeit fand sie sich sicher auf französischen Boden wieder. Müde und froh, beinahe am Ziel zu sein, verliess sie das Flugzeug. Da sie so gut wie alle ihre Habseligkeiten bereits vorausgeschickt hatte, musste sie nur noch einen Koffer bei der Gepäckausgabe holen. Doch auch nach einer halben Stunde war ihr Koffer nicht in Sicht. Inzwischen stand sie alleine am Gepäckband und es dämmerte ihr, dass ihre Ankunft nicht so glatt laufen würde wie ihre Abreise. Sie wartete noch weitere zehn Minuten, dann gab sie es auf. Frustriert ging sie zum Schalter, an dem sie die Angaben für ihr verlorenes Gepäck machen konnte. Dort angekommen, musste sie sich ans Ende einer langen Schlange stellen. Eine geschlagene Stunde später war sie endlich an der Reihe. Beim Anblick des Herrn hinter dem Schalter fragte sich Dina, ob es so etwas wie Gesichtsmuskelkater gab. Nach dem eingefrorenen Lächeln zu urteilen, war Dina überzeugt, dass ihr Gegenüber diese Frage ohne weiteres beantworten könnte.
„Bonsoir Madame. Wie kann ich Ihnen helfen?“ Die Mundwinkel zuckten kaum und die Falten in den Augenwinkeln veränderten sich nicht, lediglich die Lippen bewegten sich, als der Mann sie begrüsste.
„Bonsoir Monsieur. Es scheint, als hätte mein Koffer ein anderes Reiseziel gewählt, als ich es tat.“
„Ein verlorenes Gepäckstück also.“ Flink tippte der Mann irgendwelche, für Dina nicht sichtbare Informationen in den Computer neben sich ein. „Ich brauche Ihre persönlichen Angaben, wie Name und Adresse, zu der der Koffer dann geliefert werden soll, sobald wir ihn ausfindig gemacht und erhalten haben.“ Bereitwillig gab Dina, was von ihr verlangt wurde. Der Mann nickte und begann wieder auf die Tastatur einzuhämmern, bis er einen kurzen Moment lang mitten in seiner Arbeit inne hielt. Dina hätte sich darüber keine Gedanken gemacht, hätte der Mann nicht ganz plötzlich die Kontrolle über sein angeklebtes Lächeln verloren. Doch diese Unachtsamkeit war nur von kurzer Dauer.
„Mit welchem Flug sind Sie angekommen?“
Dina legte ihre Boardingcard vor. Sie war gleichermassen angewidert und fasziniert von der Art und Weise wie dieser Mensch mit seinem aufgesetzten Gesicht versuchte, Höflichkeit und Professionalität zu versprühen, aber nicht mehr erreichte, als dass Dina sich an einen Kühlschrank erinnert fühlte.
„So, dann müsste ich noch eine Beschreibung Ihres Koffers haben.“
„Natürlich. Er ist von Samsonite, mittelgross, aus Stoff, hat zwei Rollen und einen ausziehbaren Griff. Die Tragriemen sind grau eingerahmt. Der Rest des Koffers ist schwarz. Als besonderes Erkennungsmerkmal für mich persönlich habe ich einen Schlüsselanhänger in Form einer lachenden Sonne an den Riegel des Hauptreissverschlusses gehängt.“ Während Dina erzählte, wurde der Computer wieder kräftig in Anspruch genommen. Nachdem das klackende Geräusch dann endlich ein Ende genommen hatte, entschuldigte sich der Herr hinter dem Schalter, stand auf und ging weg. Verdutzt schaute Dina dem Flughafenangestellten nach. Einige Minuten später kam er dann wieder zurück, begleitet von zwei breitschultrigen, grossgewachsenen Flughafenpolizisten mit Schlagstöcken an ihrem Gurt. Dina hoffte inständig, dass die beiden Herren wirklich nur Schlagstöcke bei sich trugen.
„Madame Clement?“ Der ältere der beiden Polizisten sprach sie mit breitem südfranzösischem Akzent an. Seine Augen liessen keine Aufschlüsse über seine Gedanken zu.
„Ja?“ Dina erwiderte den Blick des Polizisten, doch ihre Augen zeigten deutlich ihre Skepsis.
„Würden Sie uns bitte begleiten?“
Jetzt wurde Dina übel.
Die beiden Polizisten warteten keine Antwort ab. Sie bauten sich links und rechts von Dina auf und marschierten los. Dina traute sich nicht, sich zur Wehr zu setzen und beschloss, dass es wohl vernünftiger wäre, ihnen zu folgen und sich anzuhören, was sie zu sagen hatten. Die Polizisten führten Dina in einen Bereich an dem „Nur für Personal“ angeschrieben stand. Dort, geschützt hinter einer leicht vorversetzten Wand lag eine Tür, die in einen kleinen, spärlich eingerichteten Raum führte. Der jüngere der beiden Polizisten deutete Dina an, sich auf einen der beiden Stühle zu setzen. Sie tat wie geheissen. Dann liess man sie wieder alleine. Auch bei genauerer Betrachtung des Raumes konnte sie keinen Charme erkennen. Neben der äusserst zweckmässigen Einrichtung in Form zweier Stühle und einem Tisch gab es noch ein niedriges Regal an der Wand. Die Wände waren gräulich gestrichen und es roch nach Zigarettenrauch. Ihr ging durch den Kopf, dass dieser Raum bestimmt als Vorlage für die Verhörräume diente, die die Polizei in den Filmen immer benützten. Oder aber, es war genau umgekehrt. Die Tür öffnete sich wieder und sie schaute zu dem Polizisten auf, der den Raum betrat. Besorgt musste sie feststellen, dass es keiner der beiden von vorhin war. Auf einmal fühlte sie sich winzig klein und vollkommen unterlegen. Schuld an diesem Gefühl hatte bestimmt die Situation, dass sie sass und er stand, aber richtig eingeschüchtert fühlte sie sich von seinen harten, kalten Augen, die sie zu durchdringen schienen. Zu ihrer Überraschung erklang aus dem harten Mund mit den kaum sichtbaren Lippen eine seltsam hohe, fast weibliche, aber dennoch freundliche Stimme. „Sie können gehen.“ Mehr sagte er nicht.
„Machen Sie Witze?“ Dina wusste, dass sie sich beinahe hysterisch anhörte, aber es war ihr egal. Was dachten sich diese Typen eigentlich wer sie waren? Zuerst erschreckten sie sie dermassen und dann konnte sie ohne nur ein Wort der Erklärung einfach wieder gehen, das war die Höhe!
„Nein Madame, ich scherze nie.“
„Oh, welch ein trauriges Leben Sie doch führen müssen. Aber hätten sie wenigstens die Güte, mir mitzuteilen, wie ich zu der Ehre kam, durch die Meldung meines verlorenen Koffers in Ihrem Verhörzimmer zu landen?“
„Madame Clement, ich verstehe Ihren Unmut durchaus, das gibt ihnen aber noch lange nicht das Recht in dieser gereizten Art und Weise mit mir zu sprechen. Ich kann nichts an der Tatsache ändern, dass das Flughafenpersonal seine Arbeit ernst nimmt und korrekt ausführt. Aber ich kann Ihnen versichern, es lag ein Irrtum vor. Als der Herr am Schalter Ihren Namen in den Computer eingab, erhielt er von unserem System eine Fahndungsmeldung. Damit Sie uns nicht entwischen, hat er vorsorglich das Sicherheitspersonal gerufen und man hat Sie hierher gebracht. Als nächstes haben wir den Hintergrund der Meldung nachgeprüft und erstaunlicherweise nichts gefunden. Wie es zu diesem Missverständnis kam, können wir Ihnen leider auch nicht beantworten, also fragen Sie nicht danach.“
Das war alles äusserst seltsam, aber Dina beschloss, wie geheissen, den Mund zu halten. Sie stand auf und ging zur Tür. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Monsieur…“ Dina hielt inne, denn sie musste feststellen, dass es dieser Polizist nicht einmal für nötig gehalten hatte, sich vorzustellen.
Dieser bemerkte ihr Zögern und half ihr höflich auf die Sprünge. „Bertrand.“
„Aha. Einen schönen Abend Monsieur Bertrand und vielen Dank für die Gastfreundschaft.“ Sie hatte es einfach nicht lassen können. Wenigstens hatte sie nicht ihrem erstem Impuls nachgegeben und ihm einen scherzlosen Abend gewünscht.
„Das wünsche ich Ihnen auch, Madame Clement.“
Zutiefst verwirrt verliess Dina den Flughafen und hoffte, dass sie wenigstens jetzt ohne grosse Umschweife in ihrer neu angemieteten Wohnung ankam und keine Überraschungen auf sie warteten. Tatsächlich schaffte sie es ohne weitere Zwischenfälle in ihre Wohnung. Nach dem Eintreten schloss sie die Tür hinter sich ab, legte den Schlüssel auf den Schuhschrank neben der Wohnungstür, warf ihre Jacke über den darüber hängenden Kleiderhaken und ging durch den breiten Torbogen in die offene Wohnküche. Dort liess sie sich auf einem der drei Barhocker nieder, bewegte ihren Kopf hin und her, um die aufkeimenden Schmerzen zu verscheuchen und atmete tief durch. Wenigstens hatte sie jetzt die Antwort auf eine ihrer drei Fragen erhalten. Sie hatte Nizza nicht unvoreingenommen betreten können und das hatte sich umgehend gerächt.