Kapitel 4

 

Einige Tage und viele Streifzüge später war sie richtiggehend vernarrt in diese Stadt, die ihr vorübergehend Unterschlupf gewährte. In der letzten Zeit war es ihr zur Gewohnheit geworden, den Schlossberg zu besuchen. Den Ausblick, der er ihr bot, genoss sie immer wieder von neuem. Aber eine ganz eigene Faszination übten die Friedhöfe auf sie aus. Wohlwissend, dass es genügend Parkanlagen gab, die Ruhe und Entspannung versprachen, genoss sie die mystische Stille auf den sonnigen Friedhöfen besonders. Manchmal fragte sie sich, welche Geschichte des Lebens diese Leute, die hier begraben lagen, erzählen würden, wenn sie es könnten. Erklären konnte sie sich dieses Interesse nicht richtig, aber sie ging davon aus, dass es mit den Mythen um die Verstorbenen in ihrer Heimat zu tun hatte.

Es war an einem Samstagmorgen, als Beth ihre Gedanken wieder einmal bei einem Friedhofspaziergang schweifen liess, bis sie an einem Grab das Schwarzweiss-Portrait einer Frau entdeckte. Das Bild interessiert musternd, malte sich Beth aus, dass diese Frau auf eine katholische Klosterschule gegangen sein könnte und ihre Familie gut betuchte Leute gewesen sein mussten. Ihre Aufmachung zeugte von Geschmack und Reichtum. Die Haare waren glatt nach hinten frisiert, der sichtbare Teil ihres Oberteils war gerade geschnitten und die Ärmel mit dezenten Rüschen verziert, so, dass ein schöner Blick auf die Hals- und Schulterpartie freigegeben wurde. Um den Hals trug sie eine Kette mit einem Kreuz als Anhänger, das den Anschein machte, teuer gewesen zu sein. Nur etwas trübte den scheinbar vorsichtig gewahrten Schein. Diese Frau hatte die Augenlieder geschlossen. Augenscheinlich war das Bild nach ihrem Tod aufgenommen worden, was Beth äusserst merkwürdig fand. Anhand der Inschrift auf dem Grabstein liess sich erkennen, dass die Frau im Alter von 35 Jahren gestorben ist und dies ein Jahr vor Beths Geburt. Wehmütig dachte Beth, wie hübsch diese Frau zu ihren Lebzeiten gewesen sein musste, wenn sie auf dem Bild bereits so stilvoll wirkte.

Hübsche Louisa, was hat dich bloss so jung in den Tod getrieben?“ Flüsterte Beth fragend dem Bild zu. Als sie bemerkte, dass sie fast schon eine Antwort erwartete, wurde ihr plötzlich unheimlich zumute. Blinzelnd schüttelte sie ihren Kopf um die düsteren Gedanken wieder loszuwerden und entfernte sich rasch von der Grabstätte.

 

Was Beth nicht wusste, war dass Dina zur gleichen Zeit ebenfalls auf diesem Friedhof war. Geschützt von einer Trauerweide kniete sie an einem Grab. Mit viel Mühe eingravierte geschwungene Lettern zierten den Stein, die zusammen den Namen des Toten formten. Pierre Clement. Dina wischte sich mit einem Taschentuch über die feucht glänzenden Augen. Der Schmerz hatte zwar nach so langer Zeit nachgelassen, aber an diesem Ort trieb ihr alleine die Tatsache des eigentlichen Verlusts die Tränen in die Augen.

„Na, wie geht es dir heute? Ich habe dir Veilchen mitgebracht. Ach ja, und Jake lässt dich bestimmt lieb grüssen. Du weißt ja, er kann nicht so einfach nach Nizza zurückkommen, aber ich glaube, er vermisst dich genauso wie ich. Natürlich weiss ich, dass du dir deinen Herzfehler nicht ausgesucht hast, aber gleich daran zu sterben wäre nun wirklich nicht nötig gewesen.“ Liebevoll legte sie die Veilchen nieder.

Seit Dina das Grab regelmässig besuchte, war es für sie eine Art Ritual geworden, mit dem Toten zu sprechen. Sie hatte das Gefühl, ihm so etwas näher sein zu können, fast so, als wäre er noch da. Darum warf sie ihm auch gerne vor, seinen Herzfehler, den er seit seiner Geburt gehabt hatte, für ein frühes Ableben ausgenutzt zu haben, nur damit er der ewige Sieger bei den alltäglichen Zankereien bleiben konnte. Dieser Gedanke hatte etwas Makaberes, das wusste Dina, aber es half ihr ein bisschen, sich besser zu fühlen, weshalb sie sich nicht gegen diese Einbildung wehrte.

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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