Kapitel 39

 

Zurück in der Polizeistation setzte Paul als erstes frischen Kaffee auf, wohl wissend, dass es eine sehr lange Nacht werden würde. Währenddessen breitete Jérémie die Besitztümer von Henry auf dem grossen Sitzungstisch vor sich aus.

„Wonach suchen wir eigentlich?“ Paul stellte die beiden dampfenden Tassen auf dem Tisch ab.

„Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, antwortete Jérémie und beugte sich wieder über die vor ihm liegenden Gegenstände.

„Das nenn ich eine gute Voraussetzung.“ Seufzend zog Paul als erstes Henrys Hose zu sich, um sich an den Taschen und deren Inhalt auszutoben.

Jedes einzelne Stück wurde bis ins kleinstmögliche Detail auseinander genommen und zu den Sachen auf dem Tisch gelegt. Jérémie war inzwischen mit der Brieftasche beschäftig. Die Kreditkarten, Visitenkarten und das Papiergeld lagen bereits in Reih und Glied vor ihm. Als nächstes zog er ein Foto von Larissa heraus und drehte es hin und her. Währenddessen nahm Paul die Jacke genauer unter die Lupe, weil aus den Hosentaschen nicht viel zu entnehmen gewesen war.

„Es gibt hier nichts, was nicht absolut normal wäre. Keine Visitenkarten mit auffälligen Namen oder Mustern, keine Quittung, keine besonderen Fotos oder verdächtige Fremdwährung, kein Geheimfach, wie in anderen Brieftaschen, nichts!“ Frustriert legte Jérémie die Versicherungskarte beiseite und stützte den Kopf in die Hände. „Alles in dieser Brieftasche ist wie schon vor einigen Tagen. Nicht einmal neue Visitenkarten hat es gegeben. Die Leute, die ich darauf ansetzte, denjenigen Personen, deren Namen auf den vorhandenen Karten auftauchen, auf den Zahn zu fühlen, haben auch nichts herausgefunden.“

Paul liess den Schlüssel sinken, den er soeben als letztes aus der Henrys Jacke gezogen hatte und wollte jene beiseite schieben, als seine Finger etwas Hartes umschlossen. „Moment mal!“ Aufgeregt tastete er die Jacke genauer ab. Jérémie erhob sich leicht von seinem Stuhl, um besser sehen zu können. Unten am Saum angekommen griff Paul nach einem Messer und Schnitt das Futter auf. Erstaunt starrten die beiden den Gegenstand an, der klirrend auf der Tischplatte landete.

„Wie kommt der in das Innenfutter?“ fragte Jérémie.

Paul griff zur Jacke und präsentierte Jérémie einen kleinen Riss im Stoff der Innentasche. „Hier.“

„Wieso trug Henry einen grossen Bund mit sich und dann noch zusätzlich einen einzelnen Schlüssel?“ Damit formulierte Jérémie die Frage laut, die unausgesprochen im Raum hing.

„Wo befindet sich das passende Schloss zu diesem Schlüssel? Sieht mir nach einem Briefkastenschlüssel aus.“

„Oder…“ Jérémie sprang auf und eilte in sein Büro. Dort blätterte er hastig die Akten durch, die seit dem Ausflug in das Krankenhaus auf seinem Tisch lagen. Fündig geworden, zog er ein Stück Papier aus der Akte und ging zurück zu Paul, dem er es dann vors Gesicht hielt.

„Was ist das?“

Eine Visitenkarte aus dem Hause Depruit. Die Adresse darauf war durch und durch eine Sackgasse. Es handelte sich um einen Kosmetiksalon, nichts weltbewegendes wenn man sich den Wunschtraum von Larissa Depruit vor Augen hält. Dieser Salon stellt unter anderem Garderobenfächer für die Kunden zur Verfügung. Diese handgeschriebene Nummer neben der Adresse war identisch mit einer der zur Verfügung gestellten Fächer. Da die Fächer keine fixen Mieter hatten, sondern jeder einfach ein leeres nehmen konnte, haben wir, wie erwartet nichts gefunden. Damit hatte sich diese Spur mit den Zahlen für uns erledigt. Aber möglicherweise gehörten die Zahlen überhaupt nicht zu dem Spint in dem Kosmetiksalon. Denn mit diesem Ding hier eröffnet sich uns eine neue Möglichkeit.“ Er hielt den Schlüssel hoch und drehte ihn hin und her, so dass er grell im Schein der Deckenlampe aufblitzte. „Es sind Zahlen zu einem Schliessfach.“

In Ordnung. Und wo finden wir dieses Schliessfach?“

„Spontan würde ich sagen, wir beginnen bei der Poststelle und zwar gleich morgenfrüh, wenn sie öffnet.“

 

Gesagt, getan. Noch bevor die Poststelle offiziell die Tore öffnete, wartete Jérémie bereits am Eingang auf den ersten Angestellten. Als dieser dann mit gesenktem Kopf zielstrebig auf die Tür zusteuerte, heftete sich Jérémie an seine Fersen.

„Monsieur, wären Sie so freundlich, mich ebenfalls bereits hereinzulassen?“

„Wie bitte? Es tut mir leid, aber genauso wie alle anderen können auch Sie zu den normalen Öffnungszeiten ein und ausgehen, wie sie wünschen. Aber solange müssen Sie sich noch gedulden.“

Es verwunderte Jérémie nicht, dass der Postangestellte seine Meinung ganz schnell änderte, nachdem ihm die Dienstmarke entgegengestreckt wurde.

Missmutig schielte der Postbeamte an der Dienstmarke vorbei. „Ist es jetzt üblich, dass die Polizei ohne Uniform ahnungslose Angestellte auf deren ersten Schritten in der Firma verfolgt?“

„Bisher noch nicht, wenn allerdings besagte ahnungslose Angestellte weiter so mürrisch sind, könnte es sein, dass diese Überwachung eingeführt wird. Und jetzt machen Sie schon auf.“

„Ist ja gut. Ich frage mich nur, wer hier mürrischer ist.“

Jérémie schlüpfte hinter dem Angestellten durch die offene Tür und folgte jenem.

„Was wollen Sie eigentlich?“

„Zu den Schliessfächern.“

„Und warum kann das nicht bis in einer Stunde warten?“

Diese unverhohlene Neugier verärgerte Jérémie zunehmends. Da er nun aber bereits in die Post eingetreten war, würdigte er den Wunderfitz keines weiteren Blickes mehr und trat energisch auf die Schliessfächer zu. Er zog den Zettel mit der Nummer aus seiner Hosentasche und suchte nach dem entsprechenden Schild an einem der Türchen vor ihm. Ein bisschen kam es ihm vor, als wäre er ein Kind, das vor einem überdimensionalen Adventskalender steht. Nachdem er fündig geworden war, steckte er den Schlüssel ins Schloss und wartete schon beinahe darauf, dass er nicht passte. Seine Befürchtung erfüllte sich nicht. Der Schliessmechanismus gab der Drehung reibungslos nach und das Türchen schwang wie von selbst auf. Gespannt darauf, was er vorfinden würde, äugte Jérémie in das Innere des Faches. Er dachte, er hätte mit allem gerechnet. Nun musste er feststellen, dass er sich in dieser Annahme gründlich getäuscht hatte. Wütend und laut fluchend schlug er das Türchen wieder und zückte sein Mobiltelefon.

 

 

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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