Kapitel 44

 

Schon bald begann Beth ihren überstürzten Aufbruch zu bereuen. Der kleine Lichtstrahl, den das Fahrrad auf den Boden vor ihr warf, reichte kaum einen Meter weit und war so schwach, dass sie bei jedem Tritt in die Pedal befürchten musste, einem grösseren Hindernis in unmittelbarer Nähe zum Opfer zu fallen. Ironischerweise gab es davon einige, denn der Weg führte am Rand eines schier undurchdringlichen Waldes entlang. Die Beschwerlichkeit ihres Unterfangens barg aber auch Vorteile. Sie hatte kaum Zeit, um über die Gefahren nachzudenken. In den kurzen Momenten, in denen Beths Konzentration dennoch nachzulassen drohte, glomm kurz aber heftig immer ein Fünkchen Angst auf. Angst, vor der Dunkelheit, davor, was in dem Wald alles lauerte, Angst, zu stürzen und sich zu verletzen, Angst, es nicht bis an ihr Ziel zu schaffen. Nach und nach liessen sie die stetige Belastung und die Willenskraft, nicht aufzugeben, in eine Art Trance verfallen. Ganz automatisch führten die Beine in einer scheinbaren Leichtigkeit ihre Aufgabe aus. Beth hatte das Gefühl, noch ewig so weiterfahren zu können. Doch bald musste sie merken, dass das ein Trugschluss war. Fest in die Pedale tretend fuhr sie Meter für Meter. Nur mühsam konnte sie die vom Wetter geglätteten Steine bezwingen. Und dann kam, was kommen musste. Beth erwischte einen der Steine nicht richtig, das Rad verlor den Halt und rutschte ab. Ganz automatisch streckte Beth ihren Arm aus, um den Sturz abzufangen, dennoch prallte sie hart auf der Erde auf. Mit schmerzverzerrtem Gesicht kroch sie unter dem Fahrrad hervor und rappelte sich wieder auf.

„Verfluchte Scheisse!“, rief sie in den dunklen Wald und kickte dabei wütend an den Stein. Die Schultern langsam rollend versicherte sich Beth, dass all ihre Gliedmassen noch dran waren und deren Funktionstüchtigkeit weiterhin gewährleistet war. Dann hob sie das Fahrrad auf und lief bei dessen Anblick rot an. Das Vorderrad hatte sich zu einem perfekten Hühnerei verformt. „So ein verdammter Mist! Was mach ich denn jetzt?“ Frustriert liess Beth das Fahrrad wieder fallen und sich selbst auf einen Fels am Wegrand plumpsen. Ihren Kopf in die Hände gestützt starrte sie das Metallgestell an. Okay. Denk nach Elisabeth Clement, denk nach. Entweder, du marschierst jetzt zurück in das Kloster und bettelst um Absolution. Oder du wartest, bis die ersten Touristen kommen und bettelst um eine Mitfahrgelegenheit. Um die Wartezeit tot zu schlagen, kannst du dir dann überlegen, was genau mit Mama und Papa geschehen ist.“ Warum Beth laut mit sich selbst sprach, wusste sie nicht genau, aber irgendwie schien sich das ungute Gefühl, Rotkäppchens Wolf müsste demnächst mit fletschenden Zähnen aus dem Wald springen, ein wenig zu legen. „Oder, du läufst jetzt weiter und hoffst, dass du diese absolute Dummheit nicht bereuen wirst und sich die Unvernunft nicht rächen wird.“ Und obwohl sie es sich selbst mit diesen Worten eigentlich hätte ausreden wollen, stand ihr Entschluss bereits fest. Zögerlich hob sie erneut das Fahrrad auf und marschierte los. Die deformierten Räder und die geringe Geschwindigkeit vermochten den Dynamo kaum anzutreiben, so dass das schwache Licht etwa soviel beleuchtete wie ein einzelnes Glühwürmchen. Aber Beth war nicht bereit das Fahrrad loszulassen. Immer weiter bewegte sie sich den Berg hinunter, in die Richtung von Zivilisation und - so hoffte sie - auch in diejenige der Antworten auf die quälenden Fragen.

 

 

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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