Kapitel 31

 

Forsch trat Jérémie in das Verhörzimmer. „Guten Tag Monsieur Depruit. Wie geht es Ihnen heute?“

„Eigentlich gut. Ich verstehe nur nicht, was ich schon wieder hier soll?“

„Sie wollen also gleich zur Sache kommen? Soll mir recht sein. Warum haben Sie gelogen?“

„Was?“ Henry verstand nicht.

„Sie kennen Dina Clement, alias Dina Alert nicht erst seit wenigen Wochen, stimmt’s?“

Die Haltung von Henry veränderte sich. „Was wollen Sie damit andeuten?“

„Dina trug in ihrer Brieftasche ein Foto mit sich, auf dem Sie ganz eindeutig mit ihr zusammen abgebildet sind. Nur ist das Foto nicht erst einige Wochen alt, wie man eigentlich annehmen müsste, sondern es hat rund achtundzwanzig Jahre auf dem Buckel! Wie erklären Sie mir das?“

Der Ausdruck auf Jérémies Gesicht liess Henry wissen, dass er aus dieser Sache nicht mehr so leicht herauskam. In Ordnung, Sie haben Recht. Ich habe Dina vor vielen Jahren schon kennengelernt.“

„Warum haben Sie mir das verschwiegen?“

„Ich hielt es nicht für wichtig. Ausserdem bin ich der Meinung, wir haben schon genug Ärger am Hals, wegen meines Betrugs an meiner Frau und Dinas Tod.“

„Tatsächlich?“ Die Ironie, die in Jérémies Stimme mitschwang, war nicht zu überhören. „Wo haben Sie sie kennengelernt? War sie verheiratet? Hat sie sich mit dem Namen Alert vorgestellt? Warum ist sie weggegangen? Als Sie sich vor einiger Zeit wieder begegneten, hat sie Ihnen da erzählt, dass sie wieder ihren Mädchennamen angenommen hat? Erzählen Sie, und diesmal lassen Sie nichts aus, verstanden?“

Ich werds versuchen. Wir haben uns damals auf einer Party kennengelernt. Sie ist mir aufgefallen und ich habe sie angesprochen. Von Anfang an erzählte sie mir, dass sie verheiratet war. Das entmutigte mich anfangs, doch wir verstanden uns so gut, dass wir uns wieder trafen und sich eine Freundschaft entwickelte. Unter diesen Umständen entstanden dann auch einige Fotos. Mit der Zeit erzählte sie mir, dass ihre Ehe auf der Kippe stand und sie nach England gehen würde, ohne ihren Mann. Dies geschah dann auch so. Seither hatte ich nichts mehr von ihr gehört, der Kontakt brach vollständig ab, bis wir uns vor einigen Wochen zufällig wieder begegnet sind. In dieser Zeit hat sie aber nur erwähnt, dass die Scheidung durch war und sie auch nicht mehr geheiratet hatte. Welchen Nachnamen sie inzwischen trug, war mir egal. Sie war Single und obwohl nun ich verheiratet war, wurden durch unsere Begegnung die alten Gefühle wieder erweckt, nur diesmal schienen sie auch erwidert zu werden. Den Rest der Geschichte kennen Sie.“

„Warum haben wir keine von den besagten Fotos bei ihnen gefunden?“

„Ich habe sie vernichtet. Schon damals hätte ich mir gewünscht, dass aus meiner Bekanntschaft mit Dina mehr werden würde, nachdem sie gegangen war, war ich der zurückgebliebene Trottel mit gebrochenem Herzen. Diesen Frust musste ich irgendwie abladen, worunter die Bilder dann gelitten haben.“

„Und weshalb haben Sie Dina umgebracht, wenn alles so gut lief?“ Jérémie versuchte es mit direkter Konfrontation.

„Wie bitte? Ich soll sie umgebracht haben?“

„In Dinas Körper wurde der Arzneistoff Diazepam gefunden, der ihr in die Halsschlagader gespritzt wurde. In Ihrem Haus wurde exakt das gleiche Medikament gefunden und Sie wurden beim illegalen Kauf von Tabletten gesehen. Das weiss ich aus zuverlässiger Quelle. Wie erklären Sie sich das?“

„Das ist absolut unmöglich.“

„Gestehen Sie.“

„Es gibt nichts zu gestehen!“ Henry setzte sich verzweifelt zur Wehr. „Gut, ich habe die Tabletten meiner Frau vor Kurzem gefunden. Aber als ich sie damit konfrontierte, schwieg sie. Der Anruf bei ihrem Hausarzt ergab ebenfalls nichts. Also habe ich sie beschattet. Eines Tages beobachtete ich, wie jemand ein Päckchen an der Hintertür unseres Hauses im Gebüsch versteckte. Als diese Person sich wieder aus dem Staub machen wollte, bin ich ihr kurzerhand gefolgt. Ich landete auf diese Weise in einer einschlägigen Gegend. Dort verlor ich ihn dann aber aus den Augen und weil mir die Umgebung nicht geheuer war, kehrte ich schleunigst nach Hause zurück."

Jérémie hatte nicht ernsthaft erwartet, dass Henry in der Drogenszene zugegen gewesen war, weshalb ihn die gehörte Geschichte doch einigermassen überraschte. Aber wenn er nun schon soweit war, wollte er versuchen noch mehr solch ungeahnte Geständnisse aus Henry herauszukitzeln. „Wenn das alles stimmt und dies wirklich der Grund dafür ist, weshalb sie in dieser Gegend gesehen wurden, können sie mir dann den Päckchenkurier beschreiben?“

„Nein. Ich habe ihn nur von hinten gesehen.“

„Wie ist das möglich? Normalerweise sind diese Leute sehr darauf bedacht, nicht verfolgt zu werden, weshalb sie sich andauernd umdrehen, um sich dessen zu versichern.“

„Manchmal hat er schon einen Blick nach hinten riskiert, dabei konnte ich aber knapp sein Seitenprofil sehen. Erkennen konnte man aber nichts, weil das Gesicht gut durch eine Mütze und den Kragen seiner Sportjacke verdeckt wurde.“

Dagegen hatte Jérémie nichts einzuwenden, denn das war eine typische Masche dieser Kerle. Manche, die clever genug waren, schafften es auf diese Weise lange Zeit unerkannt zu bleiben. „Na gut. Aber was ist mit den Anschlägen auf Dina Clements Nichte?“

„Welche Nichte?“

„Wollen Sie mir weiss machen, dass Dina nie etwas von der Nichte erzählt hat, die bei ihr zu Besuch war?“

„Ah, Moment, doch ich erinnere mich. Sie hat mal etwas erwähnt. Aber das war in einem Gespräch, quasi eine Randnotiz. Das Thema wurde nicht weiter vertieft. Eigentlich haben wir sowieso kaum über Familiäres gesprochen. Diese Gespräche wären vielleicht erst noch gekommen, wenn sie nicht…“ Henry brach ab und drückte sich die Finger an seine Schläfen. Jérémie sah, wie Henry wässrig glänzende Augen bekam. Dennoch bohrte er weiter.

„Sie sagen also, Sie haben vergessen, dass da noch eine Nichte ist? Wie kommt es dann, dass Sie sie zweimal fast getötet hätten?“

„Stehe ich hier eigentlich bereits vor Gericht? Erst soll ich Dina getötet haben und jetzt auch noch ihre Nichte?“

„Oh, ich muss Sie enttäuschen, auch ihren Versuch die Kleine den Berg hinunterzustossen hat sie überlebt. Sie müssen sich schon etwas Besseres einfallen lassen. Auch wenn man es ihr nicht ansieht, sie scheint ein zähes Wesen zu sein.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Aber ich kann Ihnen versichern, ich habe nichts dergleichen getan.“

Wenn das so ist, können Sie mir bestimmt noch kurz beweisbar aufzeigen, wo Sie heute gewesen sind.“

„Dort, wo mich die Polizei heute angetroffen hat und das war zuhause. Ich habe mich seit der ganzen Sache bei der Arbeit krank gemeldet und bin seither kaum mehr aus dem Haus gegangen.“

„Kann Ihre Frau bezeugen, dass Sie immer brav zu Hause warteten?“

„Nein. Sie ist sehr beschäftigt mit ihren Wohltätigkeitsveranstaltungen, Teepartys und so weiter. Deshalb bin ich auch meistens alleine zu Hause.“

„Also kann niemand bezeugen, dass Sie heute wirklich nur das Sofa gehütet haben?“

„Nein.“

„Aha. Sie scheinen auch nicht besonders erfreut zu sein, dass Ihre Frau sich gemeinnützigen Tätigkeiten verschrieben hat?“

„Den Leuten zu helfen, finde ich eine gute Sache. Ihre Motive gefallen mir aber nicht. Sie will in die oberen Gesellschaftsschichten, mit diesen Figuren und dem Getue kann ich persönlich aber nichts anfangen.“

„Sorgt das bei Ihnen öfter für Streit?“

„Durchaus, ja. Wahrscheinlich war ich deshalb so empfänglich für die Affäre mit Dina und zu schwach, um sie zu beenden.“

„Weshalb sie einfach Dinas Leben beendet haben. Damit war alles vorbei und die Probleme gelöst, richtig?“

„Nein! Ich hätte ihr nie etwas antun können!“ Die Worte brachen in einem heftigen Gefühlssturm aus Henry hervor.

Jérémie beschloss, es dabei bewenden zu lassen. Als er das Verhör beendete und Henry wieder gehen konnte, wollte er zurück in seine Büro. Er hatte bereits die Türfalle in den Händen, bereit, sie herunterzudrücken, da vernahm er Beths Stimme aus dem Innern des Zimmers. Da Paul und Irene brav an ihren Schreibtischen sassen, ging Jérémie davon aus, dass Beth endlich seinem Rat gefolgt war und mit ihren Eltern sprach. Um sie nicht zu stören, liess er von seinem Plan ab und ging zuerst zu Paul um zu berichten was in dem Verhörraum vorgefallen war.

 

„Und jetzt wird sich Henry Depruit voraussichtlich sinnlos betrinken. Dann wird er zu Hause seinen Rausch ausschlafen, um morgen früh seiner Frau zu erzählen, was ich ihm alles vorgeworfen habe“, schloss Jérémie seinen Bericht.

„Und was erhoffen Sie sich davon?“

„Dass sich das liebe Frauchen indirekt ertappt fühlt, davon ausgeht, dass, wenn wir ihren Mann so verdächtigen, es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis wir ihr auf die Schliche kommen und sie sich durch eine daraus resultierende Handlung verrät.“

„Nicht einmal so übel.“ Sofort bereute Paul diese unachtsame Aussage, die Respektlosigkeit vermuten lassen könnte und hoffte, dass Jérémie darüber hinwegsehen würde. Diesen Gefallen tat Jérémie ihm aber nicht.

„Danke für das grosszügige Kompliment, Paul.“ Eine deutliche Zurechtweisung schwang in Jérémies Kommentar mit. „Könnten Sie dafür sorgen, dass Larissa Depruit im Auge behalten wird? Natürlich nur, wenn Sie dies ebenfalls für eine gute Idee halten.“ An Pauls Gesichtsausdruck erkannte Jérémie, dass sein kleiner Seitenhieb angekommen war.

Inspecteur, erlauben Sie mir die Bemerkung, dass Madame Depruit bereits beschattet wird.“

„Ganz so förmlich muss der Ton nun auch nicht sein. Aber ja, ich erlaube die Bemerkung. Ich will aber, dass wir sie rund um die Uhr keine Sekunde aus den Augen lassen. Klar? Und wenn sie auf die Toilette geht, dann geht einer von uns mit. Haben wir uns verstanden?“

Paul verkniff sich die Bemerkung, dass dies kaum möglich sein würde, denn er begriff, dass Jérémie ihm mit dieser Aussage noch einmal einen Fauxpas wie gerade eben entlocken wollte.

Wohlwissend, dass es nicht ganz fair war, einen unerfahrenen Polizisten im Umgang mit seinem Vorgesetzten ins Boxhorn zu jagen, amüsierte sich Jérémie dennoch köstlich auf Pauls Kosten. Möglicherweise bereitete es ihm deshalb diebische Freude Paul ein bisschen hoch zu nehmen, weil er ihn mochte. Er war stets darauf bedacht, korrekt zu sein, was ihn manchmal ein wenig unbeholfen wirken liess. Aber er war tüchtig, aufmerksam und bisher hatte er immer gute Arbeit abgeliefert.

Inspecteur, ich werde Leute vor ihrem Haus postieren, die jeden ihrer Schritte im Bereich des möglichen verfolgen werden.“

„Gut pariert.“ Jérémie konnte sein Grinsen kaum unterdrücken. Wieder etwas ernster setzte er dann noch nach: „Tun Sie das, ich hoffe, es wird uns weiterhelfen.“

Paul auf die Schulter klopfend, stand Jérémie auf und startete noch einmal einen Versuch, sein Büro zurückzuerobern.

 

 

Wenn nichts mehr ist, wie es war
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