14. Juli 2012, Turnu Severin
Walachei, Rumänien

Sie steht morgens als Erste auf. Das Haus gehört dann ihr, bevor die anderen aufwachen. Adriana geht über den Hof. Die Erde ist noch kühl unter den Füßen. Ihre Stiefel trägt sie in der Hand.

Sie ist schon fast bei der Dusche. Ein Geräusch aus der Küche – Musik. Sitzt so früh jemand vor dem Fernseher? Leise geht sie zurück, bleibt im Türrahmen stehen.

Liliana hat den alten Spiegel auf einen Stuhl gestellt. Irgendwo hat sie ein paar Vorhänge aufgetrieben, die sie um sich herumdrapiert hat. Sie studiert eine Tanzszene der neuen DVD ein. Adriana hat den Film noch nicht gesehen.

Koi jaane na Niemand weiß
Yeh kaisi naag hai Was das für ein Feuer ist
Mere dil ko dasta Das an meinem Herzen frisst
Yeh kaisa naag hai Was für eine Schlange

Sie hält den DVD-Player an und spielt dieselbe Stelle noch mal ab. Im Spiegel überprüft sie, ob ihre Bewegungen exakt genauso aussehen wie die von Priyanka Chopra auf dem Fernseher, die auch mit solchen Schleiern herumwirbelt.

»Yeh kaisa naag hai!«, singt Lili laut. Adriana tritt von hinten an sie heran. Das Mädchen erschrickt, dann erkennt sie, wer hinter ihr steht. »Mama.«

Sie betrachtet ihre Tochter im Spiegel. Bald wird sie eine Frau sein. Vorsichtig zieht sie die goldenen Ohrringe aus der Tasche ihres Rocks und befestigt sie in Lilis Ohrlöchern, erst rechts, dann links. Lilis Mund steht offen.

»Mama, für mich? Ein Geschenk?«

Adriana lächelt. »Von deinem Großvater.«

»Ist Großvater nicht schon lange tot?« Lili hat sich umgedreht.

Adriana lächelt. »Für wen übst du? Habt ihr eine Vorführung in der Schule?«

»Nein.« Lili betrachtet sich im Spiegel. Sie ist verlegen, meidet die Augen ihrer Mutter. »Diese Frau aus Deutschland, die hier war. Mattie. Kennst du sie?«

»Ja.« Meti. »Was ist mit ihr?«

»Ich will mit ihr skypen und ihr meinen Tanz vorführen. Sie kennt Leute in Indien, die solche Filme machen.«

»In Indien?« Adriana kommt nicht ganz mit.

»Mama.« Lili stemmt die Hände in die Hüften. »Mattie ist Indiana, verstehst du? Ihr Vater kommt aus Bombay. Sie ist eine von uns.«

Meti? Eine von uns? Adriana schüttelt den Kopf. Niemals.

Sie braucht eine Dusche. Dann wird sie Frühstück machen. Vorräte überprüfen. Den Hof fegen. Es gibt immer zu tun. Und noch was. Adriana will alle Fahrtenbücher von Vater lesen, bevor Georgel sie mitnimmt. Sie hat sie gestern noch vor dem Schlafengehen aus dem Regal geholt. Den Staub abgewischt. Nach Jahreszahlen geordnet.

»Kannst du mir später helfen, Tochter?«

Lili nickt.

Adriana will ihrer Tochter beibringen, Brot zu backen.

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