10. Juli 2012, Kreuzberg
So, Madita Junghans. Du hast eine superschicke Dachwohnung in Kreuzberg mit Terrasse. Du hast eine geregelte Arbeit. Ein Rennrad. Einen Hund. Einen Bus, um am Wochenende rauszufahren.
Dann mal los.
Mattie sitzt auf der Terrasse und starrt vor sich hin.
Quincy liegt auf dem Rücken.
Wie geht das jetzt, so ein Leben.
Ein Blick auf das Handy. Nick ist seit zwei Stunden weg. Jetzt steigen sie gerade ins Flugzeug. Zwischenlandung in Frankfurt. Dann weiter nach Mexico City.
So weit weg.
Stopp. Noch mal von vorn.
Es ist acht Uhr morgens. Wie lautet dein Plan, Mattie?
Aufstehen. Erledigt. Duschen. Erledigt.
Mit dem Hund rausgehen. Zeitung kaufen. Nach der Post sehen. Frühstücken. Um zehn in die Kanzlei.
Sie geht in die Küche und macht sich noch einen italienischen Kaffee. Wenn das so weitergeht, ist sie schon auf hundertachtzig, bevor sie im Büro ankommt.
Die Treppen runter. Quincy japst vor Aufregung. Sie packt ihn in den Fahrradkorb und fährt in den Treptower Park. Keine VW-Busse mehr, die Leute vom Ordnungsamt sind wieder auf dem Parkplatz gewesen. Liviu hat einen neuen Platz ausfindig gemacht, irgendwo im Wedding. Quincys Geschwister wurden auf dem Flohmarkt verkauft. Fünfzig Euro das Stück.
Wo Nadina steckt, weiß der Himmel. Sie hat sie nicht mal nach ihren Plänen gefragt, als sie aus der Kanzlei kamen. In Gedanken war sie längst dabei, den Chef vom Dienst beim Ostseekurier von der Putzfrauen-Geschichte zu überzeugen.
Du bist nicht für alle verantwortlich.
Soziale Erschöpfung.
Es wird ein paar Tage dauern, ihre Batterien wieder aufzuladen. Die Wunden zu lecken, die Nick ihr geschlagen hat. Sie läuft über die große Wiese. Das Gras ist feucht vom Tau. Ihre Füße werden nass. Es tut gut, etwas zu spüren.
Haustür aufschließen. Briefkasten aufschließen. Das fühlt sich schon ziemlich echt an. Echtes Leben. Sogar ein Brief für sie ist dabei. Mattie steigt in den Fahrstuhl und reißt den Umschlag auf. Bestimmt wieder Werbung. Schließen Sie eine Zusatzversicherung ab.
Der Fahrstuhl hält. Die Tür geht auf.
Zu.
Auf.
Mattie sitzt in der Kabine auf dem Boden. »Sehr geehrte Frau Junghans, leider mussten wir ein Adressen-Ermittlungsverfahren einleiten, da Ihre Meldeadresse …«
Hinnarck hatte eine Lebensversicherung. Er hat sie auf Matties Namen abgeschlossen, weil er wusste, dass sie für Emma sorgen würde. Die Summe auf dem Papier verschwimmt vor ihren Augen.
Mattie stürmt in die Wohnung. Wo ist das Handy?
»Hallo, hier ist Madita Junghans. Ich möchte bitte meine Mutter sprechen. Zimmer 218.«
»Madita.« Emmas schleppende Stimme katapultiert Mattie in eine Rolle rückwärts. Als würde die Zeitrechnung noch mal von vorne beginnen. Was sie ja auch tut.
»Emma, wusstest du, dass Hinnarck eine Lebensversicherung hatte?«
Stille.
»Emma!«
»Hinnarck sagt, vergiss nicht, die Versicherung ist in der Schublade von dem Sekretär.«
»Und warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Nicht schreien!«
Mattie atmet.
Emma raucht. Sie kann das Saugen an der Zigarette hören.
»Du hast nicht gefragt.«
»Du hast gesagt, da ist nichts Wichtiges mehr.«
Emma weint.
Mattie atmet.
»Schon gut, Emma. Weißt du was? Du kannst da bleiben, in dem Heim. Ist das nicht toll?«
Emma schnieft.
»Du kannst bei Schwester Lisa bleiben, Emma.«
»Schwester Lisa ist weg. Hat gekündigt.«
Mattie lacht. Bestimmt hat Emma was damit zu tun. Alles Gute, Schwester Lisa. Viel Erfolg auf Ihrem weiteren Lebensweg.
»Du kannst hundert werden, Emma. Und du brauchst nie mehr umziehen!« Sie kann nicht aufhören zu kichern.
Emma kichert gleich mit. Lachen ist ansteckend. »Die Zigaretten sind alle.«
»Ich schick dir so viele du willst.« Mattie kriegt kaum noch Luft.
»Jetzt ist Bingo. Tschüs, Madita.«
Emma hat aufgelegt.
Ein persönliches Gespräch zwischen Mutter und Tochter.
Mattie fühlt sich, als hätte man ihren Stecker rausgezogen.
Power Cut.