29. Juni 1992, Peltzow
Adriana klappte die Sonnenblende herunter, die nur noch an einer Seite befestigt war. Innen befand sich ein kleiner Spiegel. Das Dämmerlicht gab ihren Zügen etwas Geheimnisvolles, das ihr gefiel. Die großen Augen, umrahmt von einer Flut dunkler Haare. Sie schüttelte leicht den Kopf. Liviu, der den Wagen fuhr, sah zu ihr herüber und pfiff anerkennend. Sie wusste, dass er wusste, dass sie kein Kind mehr war.
Ihre Mutter hatte sich Gott weiß wohin verabschiedet, seit der Vater weggefahren war. Sie lag da im Bett wie ein riesiger Fisch und wartete. Adriana blieb nichts anderes übrig als zu kochen, Brot zu backen, die Wäsche zu waschen und sich um die Brüder zu kümmern. Sie hatte es ein paarmal nicht zur Schule geschafft. Es war niemandem aufgefallen. Die Unterschrift ihrer Mutter ließ sich leicht nachmachen. Die konnte ja nicht mal richtig schreiben.
Vor der Mutter ekelte es sie, obwohl sie versuchte, es nicht zu zeigen. Wenn sie ihr morgens die Plastikschüssel mit Wasser brachte, damit sie sich waschen konnte, sah sie die hängenden Brüste durch den Stoff des Nachthemds. Dann kämmte sie ihr die dünn gewordenen Haare. Am Scheitel fielen sie am stärksten aus, jeden Morgen hatte Adriana büschelweise davon im Kamm. Bald würde die Mutter kahle Stellen auf dem Kopf bekommen. Am meisten störten sie jedoch die Augen. Sie waren tot. Tote Fischaugen.
Adriana unterteilte ihre eigenen Haare geschickt in drei Strähnen und flocht sich einen Zopf. Vater würde es so lieber mögen. Erst als sie fertig war, sah sie zu Liviu und lächelte. Sie hatte keine Angst, nachts allein mit ihm im Auto durch die Gegend zu fahren. Ihr Vater beschützte sie, selbst wenn er nicht da war. Niemand würde es wagen, sich mit Marius Voinescu anzulegen, niemand würde seine Tochter anfassen. Zumindest niemand aus Turnu Severin. Und Liviu war einer ihrer Nachbarn, nur ein paar Jahre älter als sie.
Draußen wurde es heller. Sie fuhren durch ein Dorf, ein hübsches stilles Dorf mit einem See. Eine Kirche ohne Turm. In so einem Dorf würde Adriana gerne leben. »Wie spät ist es?«, fragte sie Liviu. Der seufzte und sah auf die Uhr.
»Es ist fünf Minuten später als beim letzten Mal«, sagte er. »Sieben Minuten nach vier.«
»Wir sind zu spät«, stellte sie fest. »Kannst du nicht ein bisschen schneller fahren?«
»Nicht im Dorf«, antwortete Liviu, »wenn wir angehalten werden, gibt es Ärger.«
Adriana schwieg. Sie wusste, dass er recht hatte. Wäre ihr Vater da gewesen, hätte er niemals erlaubt, dass sie mitfuhr. Diese Touren waren nicht ungefährlich, denn wer seinen Leuten half, illegal über die Grenze zu gehen, galt als Menschenhändler. Adriana faszinierte dieses Wort. Menschenhändler. Einer der mit Menschen handelte wie mit Vieh. Ein gruseliges Wort. Es passte nicht zu Liviu, der neben ihr saß und eine alte Melodie vor sich hin pfiff.
Sie musste ihm ein selbstgebackenes Brot versprechen, damit er sie mitnahm. Das war seine Schwachstelle. Seine Eltern waren in Turnu Severin, zu alt, um nach Deutschland zu kommen, und eine Frau hatte er noch nicht. Er aß nur das, was er von seinen Gutscheinen in dem kleinen Laden neben dem Heim kaufen konnte. Die hatten da nicht mal frisches Brot.
Die Straße machte eine scharfe Rechtskurve. Adriana sah unter sich die Autobahn. Plötzlich riss Liviu das Steuer herum und wich im letzten Moment einem entgegenkommenden Wagen aus. In der Einfahrt eines Feldwegs kamen sie zum Stehen.
»Verdammt, das war knapp!« Liviu hielt immer noch das Lenkrad fest. Direkt vor der Windschutzscheibe hing eine Brombeerranke. Die Früchte waren schon dran, noch grün.
»War das Polizei?«, fragte Adriana leise.
»Ich glaube schon.« Liviu startete den Wagen wieder und setzte zurück. »Die Grenzpolizei fährt solche Jeeps.«
Adriana merkte, wie Angst in ihr aufflammte. Wenn sie die Gruppe nun erwischt hatten?
Sie waren wieder auf der Straße. Liviu fuhr noch langsamer und ohne Licht.
»Wo ist der Treffpunkt?« Sie reckte sich auf dem Sitz, als könnte sie dadurch weiter sehen. Vor ihnen erstreckte sich ein Sandweg zwischen Bäumen. Noch ein paar Häuser, dann kam links ein Feld. Rechts sah sie ein Waldstück, davor eine Wiese. Dort stand jemand an der Straße und winkte!
Adriana war aus dem Wagen, noch bevor er stand, suchte die Menge ab, sah ihn nicht gleich. Jemand rief etwas, deutete auf das Feld. Sie rannte los, hinein in das Getreide, ihre Stiefel zertraten die Halme. Sie konnte nichts sehen, die Sonne ging auf und blendete sie. Da war eine Lücke im Getreide, da vorn!
Auf den letzten Metern stolperte sie und fiel hin. Was war denn los? Warum hockte er da? Warum war er nicht bei den anderen? Da war noch einer, sie hörte sein Stöhnen. Bestimmt war er krank, und Vater war bei ihm geblieben. Erleichtert rappelte sie sich auf und schoss vorwärts. Griff nach der Hand mit der Armbanduhr. »Vater!«
Sie fuhr zurück. Der Kopf, da stimmte was nicht. Die Hälfte seines Kopfes fehlte! Sie drehte sich um, als suche sie danach, erblickte den zweiten Mann. Aus seinem Mund lief Blut, er sah sie an, oh Gott, er sah ihr direkt in die Augen!
Sie schrie, schrie, schrie, bis sie keine Luft mehr bekam und die Beine unter ihr wegsackten. Sie fiel zwischen das Korn, immer noch hörte sie ihre eigene Stimme, doch sie fühlte nichts mehr. Ihre Augen sahen nur noch Halme, ein Meer von Halmen. Darin ertrank sie.