14. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

Nach dem Zusammentreffen mit Nils ist sie am Strand entlanggewandert bis zu dem Dorf, in dem früher das Atomkraftwerk stand. Die hohen Türme ragen immer noch hinter den Bäumen auf. War es nicht abgeschaltet worden, damals? In einem Supermarkt hat sie Sonnenblumenkerne, Wasser und ein Brot gekauft. Draußen vor dem Laden war ein Stand mit Kleidung aufgebaut, kurze Röcke und Shorts. Damit würde sie weniger auffallen. Der Chinese hinter dem Stand hat ihr zugelächelt. Doch der lange Rock gehört zu ihr wie ihre Haare und die Stiefel.

Der Strand war nicht voll, ein paar alte Menschen saßen nackt in den Dünen, weiß der Himmel, was sie da trieben. Adriana hat sich im Nadelwald versteckt, bis sie endlich nach Hause gingen. Dann ist sie bis zu den Knien ins Meer gewatet und hat sich gewaschen. Ein einzelner Sitzkasten stand dort herum, er war nicht mit einem Gitter verschlossen. Darin hat sie geschlafen.

Adriana kann am besten nachdenken, wenn sie läuft. Die Sonne geht gerade auf, als sie den Strand vor den Ostseeterrassen erreicht. Sie hat keine Ahnung, wie Uwe Jahn aussieht. Sie kann nicht weiter in der Siedlung herumschleichen. Nils wird sie finden, oder jemand anders ruft die Polizei. Aber wenn der Mann dort arbeitet, müssen ihn die Leute doch kennen.

Um fünf Minuten nach neun betritt Adriana das Büro von Nordhaus Immobilien, ein Ladengeschäft auf der vom Meer abgewandten Seite der Siedlung. Vor dem Schaufenster wehen grüne Fahnen mit dem Zeichen, das auch auf dem Prospekt ist. Eine Frau hinter einem Computer-Bildschirm telefoniert. Sie ist tiefbraun, hat schwarz gefärbte Haare und grellrote Fingernägel. Adriana setzt sich auf einen grünen Plastikstuhl und wartet.

»Nein, hier in den Ostseeterrassen ist alles verkauft. Aber wenn der AKW-Rückbau dieses Jahr abgeschlossen ist, wird Nordhaus in Wolfshagen ein neues Projekt aufziehen. … Ich versichere Ihnen, die Wasserqualität ist hervorragend. … Wissen Sie denn nicht, dass Deutschland weltweit führend im Rückbau von Atomkraftwerken ist? … Natürlich ist das Ihre Gesundheit. Wenn Sie doppelt so viel investieren möchten, kann ich Ihnen gern eines unserer Objekte weiter westlich in Ostseenähe –« Ein genervter Blick auf den Hörer. »Geizkragen.« Dann sieht sie hoch. Erschrickt, weil sie Adriana nicht bemerkt hat. Adriana sieht sie an. Es folgt das Übliche. Die Haare. Der Rock. Ablehnung.

»Entschuldigung. Was kann ich für Sie tun?« Vorsicht in der Stimme.

»Ich suche Uwe Jahn.« Sie hat den Satz geübt, auf dem Weg am Strand entlang.

Überraschung in den Augen. »Jahn? Der ist doch schon drei Jahre in Rente. Sie kommen wegen des Putzjobs?«

Adriana hat keine Ahnung, was ein Putzjob ist. Sie nickt. Die Frau ruft etwas nach hinten, und ein junger Mann mit sehr kurzen Haaren kommt aus einer Tür in den Laden. Er trägt einen grünen Overall, schließt gerade den Reißverschluss über der Brust.

»Das ist Darek, der Hausmeister. Darek, hier ist jemand wegen des Jobs.« Damit verschwindet sie hinter ihrem Bildschirm.

Adriana ist aufgestanden. Darek sieht sie von oben bis unten an. »Sprechen Sie Deutsch?«

»Ich bin hier zur Schule gegangen.«

»Na, dann kommen Sie mal mit.« Er geht mit ihr zu den Garagen. Eine öffnet er, drinnen hängen Kittel an der Wand, Eimer und Putzmittel stehen ordentlich in Regalen.

»Sind Sie Türkin?« Er reicht ihr einen Kittel.

»Nein. Aus Rumänien.«

Darek brummt, nimmt einen Eimer und legt Putzmittel und Wischlappen hinein. »Nehmen Sie den Wischmopp.« Draußen zeigt er ihr einen Wasserhahn, ein altes Becken und ein Abflussgitter. »Hier können Sie frisches Wasser holen. Und immer hier reingießen, nicht einfach auf die Erde. Kapiert?«

Ein Pritschenwagen fährt aus einer Garage an ihnen vorbei. Er hupt kurz. Darek hebt die Hand. »Waidmanns Heil, Jahn!«

Adrianas Kopf schnellt in die Höhe, sie sieht gerade noch einen Arm, der aus dem Fenster grüßt. Kariertes Hemd.

Er lebt! Und er ist hier! Der Mörder ihres Vaters.

»So, jetzt putzen Sie mal eine Stunde zur Probe hier im Haus Austernfischer, dann sehe ich mir das an, und dann entscheide ich, ob Sie den Job haben. Aber mehr als vier Euro gibt’s nicht. Bar auf die Hand.«

Adriana nimmt den Eimer und öffnet die Tür. Sie wird so gut putzen wie noch nie in ihrem Leben.

Grenzfall
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