3. Juni 2012, nördlich
von Zaragoza
Aragonien, Spanien
Adriana Voinescu Ciurar steht auf dem höchsten Punkt des Dorfes und sieht hinunter auf die Plantagen. Das Grün in der Nähe des Flusses verliert sich nach und nach in helleren Brauntönen, die in die weißen Häuser des Dorfes übergehen. Am Himmel kreisen zwei Geier, ihr Geschrei übertönt sogar das Gerede der Frauen hinter Adriana. Ein uraltes Dorf, weiter unten wohnen die Spanier, oben die Gitanos. Im Sommer vermieten sie ihre alten Häuser an die Erntearbeiter aus dem Osten.
»Adriana, Schwester.« Die alte Pilar hat sich angeschlichen, ohne dass sie es gemerkt hat. Wie immer in Schwarz, aufrecht, Augen wie die Geier über ihr. Sie erinnert Adriana an die Großmutter.
»Wie lange wollt ihr bleiben?« Sie vergeudet keine Worte, Pilar.
»Du weißt doch, wir warten auf die Verträge.« Jeder weiß es. Alle warten. Es ist ihr zehnter Sommer hier in Spanien. Sobald in Rumänien der Winter vorüber ist, fahren sie los. Sie würde die drei Töchter lieber mitnehmen, aber Florin sagt, sie brauchen nur Platz, das kostet Geld, sie können noch nicht mitarbeiten. Also bleiben sie bei Adrianas Mutter in Turnu Severin. Sie telefoniert einmal am Tag mit Lili, ihrer Ältesten.
Jedes Jahr haben sie die Verträge bekommen. Der Mann von der Plantage geht von Haus zu Haus, guckt sich die Arbeiter an. Erst der Vertrag für die Äpfel, dann die Birnen, und wenn sie Glück haben, noch die Mandeln. Genug Geld, um in Rumänien über den Winter zu kommen.
»Er wird nicht kommen«, sagt Pilar.
Adriana will ihren Blick nicht von der Ferne auf die Enge der Straße wenden. Schließlich dreht sie sich doch um. Vor den Häusern sitzen sie. Rauchen. Warten. Frauen und Männer. Ganz hinten, vor ihrem Haus, Florin zusammen mit Liviu und dessen Schwager. Sie überlegt, was sie Pilar antworten soll, die sie fixiert.
»Wie lange habt ihr gearbeitet?« Sie spricht langsam, wie zu einem Kind, um sicherzugehen, dass Adriana sie versteht.
»Einen Monat.«
»Einen Monat, jeden Tag zehn Stunden. Warum sollen sie die müden Arbeiter nehmen, wenn sie frische haben können?«
»Wir haben immer gut gearbeitet. Sie kennen uns.«
Die Alte lacht. »Sie können Spanier haben für das gleiche Geld. Es ist Rezession. Und von euch kommen auch immer mehr.«
Adriana merkt, wie sich trotz der Hitze eine Gänsehaut auf ihren Armen bildet. »Wann brauchst du meine Antwort?«, fragt sie.
»Morgen«, antwortet Pilar. »Es sind welche aus Ungarn gekommen, eine große Familie. Sie mussten ihr Dorf verlassen. Sie wollen das ganze Haus mieten.«
Adriana lässt Pilar stehen. Sie fühlt die Blicke von beiden Seiten. Niemand wird ihr etwas ansehen. Sie hat gelernt, ihre Gefühle zu verschließen. Sie hebt die Unterkante ihres Rocks, damit sie schneller laufen kann. Die Absätze ihrer Stiefel knallen auf die Pflastersteine. Florin und Liviu sind am Auto und bemerken sie nicht. Sie läuft schneller, die Dorfstraße entlang. Bergab, immer weiter.
Zwischen den Apfelbäumen macht sie Pause. Tief Luft holen. Da hängt noch ein Apfel am Baum, vergessen bei der Ernte. Erst als sie schon reingebissen hat, wird ihr klar, dass sie gerade gestohlen hat. Angewidert wirft sie die überreife Frucht ins Gras. Wer keinen Vertrag hat, darf nicht von den Früchten essen.
Es ist Mittagspause. Gedämpftes Lachen dringt an ihr Ohr. Das sind die Bulgaren, weiter unten am Fluss. Sie geht wieder schneller. Gut, dass sie Stiefel trägt, wegen der Schlangen. Sie lässt den Lastwagen mit den Obstkisten durch, der Fahrer winkt ihr zu. Sie kennen uns.
Weiter zum Fluss. Das ist ihre Stelle. »Unser Pool«, haben sie diesen Ort im ersten Sommer getauft. Hier hat sie unzählige Mittagspausen verbracht, sich abgekühlt, gegessen, ihre Wäsche gewaschen. Noch hat niemand den Platz erobert, doch lange wird es nicht dauern, wenn sie erst fort sind, auf dem Weg zurück nach Rumänien, mit nicht mal einem Drittel des Geldes in den Taschen.
Adriana zieht die Stiefel aus, hebt den Rock höher und geht bis zu den Knien ins Wasser. Es ist noch nicht zu warm im Juni. Sie beugt sich vor und betrachtet sich. Vierunddreißig Jahre, keine Falten, es ist gut, wenn man nicht so dünn ist. In der Verzerrung des Wassers wirkt es dennoch fremd. Ein Gesicht, in dem die Traurigkeit zu Hause ist, nicht das Lachen. Sieht sie ihrem Vater ähnlich? Sie kann sich kaum erinnern, wie er aussah.
Sie taucht die Hände ein und spritzt sich Wasser ins Gesicht. Gedankenstopp. Sie will nicht daran denken. Niemand will das. Sie sprechen zu Hause nicht davon, das bringt Unglück. Doch manchmal ist es anstrengender, nicht daran zu denken. Die Erinnerung verschwindet, das beunruhigt sie.
Als Adriana die steile Böschung hochsteigt, spürt sie die Schwere ihrer Beine. Sie will jetzt noch nicht den Berg hinaufgehen. Es ist zu heiß. Sie legt sich in den Schatten der tief herabhängenden Weide und schließt die Augen.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren hat sie wieder den Traum. Sie steht zwischen den Bäumen am Rand des Feldes, durch das Getreide weht der Wind. Plötzlich erhebt er sich aus dem Feld, sie lacht. Vater kommt zurück. Er ruft ihr etwas zu: »Ich bin es nicht!« Sie lacht. Natürlich ist er es! Er breitet die Arme aus. Sie rennt auf ihn zu. Doch bevor sie ihn erreicht, versagen ihre Beine, der Boden unter ihr gibt nach. Und schon liegt sie im Feld, zwischen den Halmen, allein.
Adriana genießt für einen Moment die orangefarbene Wärme auf den Lidern, dann öffnet sie die Augen und lässt die Wirklichkeit Stück für Stück in ihr Bewusstsein einsickern. Das harte Sonnenlicht. Die Stimmen der Bulgaren. Keine Verträge. Kein Holz für den Winter.
Warum ist der Traum zurückgekehrt? Sie empfindet ihn wie eine Folter, Vater ist lange tot, nichts kann ihn wieder lebendig machen. Der Traum raubt ihr die Kraft. Sie setzt sich auf und streckt die Schultern. Versucht den Traum abzuschütteln.
Vielleicht liegt es daran, dass Liviu gestern angekommen ist. Er hat ein Auto für Florin gebracht, der seins zu Beginn des Sommers verkaufen musste, um die Miete zu bezahlen. Liviu verbringt den Sommer auf den Autobahnen, überall aus Europa rufen ihn die Leute an, wenn einer ein Auto braucht. Er ist ehrlich, seine Hände können selbst einem Wrack noch Leben einhauchen. Livius Familie ist diesen Sommer in Berlin, weil sie aus Frankreich verschwinden mussten. Man hört, dort lässt es sich ganz gut leben.
Adriana ist wütend. Die Wut ist ihr Begleiter, seit sie denken kann. Liegt ein Fluch über ihrer Familie? Was will Vater ihr sagen? Der Polizist hat ihn abgeschossen wie ein Tier. So oft hat sie daran gedacht, wie es wäre, den Mann zu töten. In endlosen Nächten, in denen sie nicht schlafen konnte vor Angst, dass die Mutter sich das Leben nimmt. Vom einen Paar Stiefel zum nächsten ist das Messer gewandert, und jedes Mal hat sie es geschliffen, so scharf sie konnte. Ist es das, was Vater will?