16. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

Adriana schläft zwischen der hinteren Reihe der Sitzkästen und dem Deich. Der Traum ist wieder da. Vater breitet die Arme aus: »Ich bin es nicht!« Sie schreckt hoch, schnappt nach Luft. War da ein Geräusch? Eine Möwe, die einen Plastikbecher über den Strand zerrt. Adriana fühlt sich verklebt. Überall Sand.

Sie steht auf, wischt Sandkörner aus der Nase, aus den Augen. Überprüft, ob ihre Uhr stehengeblieben ist. Nein, wirklich noch so früh. Dann geht sie barfuß hinüber zu dem Toilettenwagen und zieht vorsichtig am Griff. Die Tür ist offen.

Erleichtert stellt sie sich vor das Waschbecken und zieht ihre Bluse aus. Sie wäscht sich, dann die Bluse und die Unterhose. Bis sie zur Arbeit muss, werden sie im Wind getrocknet sein. Sie wickelt sich das Schultertuch eng um den Körper.

Zurück an ihrem Schlafplatz, hängt sie die Bluse und die Hose über das schützende Gebüsch, das auf dem Deich wächst. Sie setzt sich in die Kuhle, in der sie geschlafen hat, und holt das Fahrtenbuch aus der Tasche. Die Seiten sind ein wenig feucht. Adriana glättet sie sorgfältig mit der Hand, bevor sie eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht streicht und weiterliest.

»20/06/1992. Meine liebe Adriana, das Haus ist leer ohne euch hier in Turnu Severin. Jedes Mal, wenn ein Auto vorüberfährt, huschen die Schatten über die Wände. Es ist still, selbst die Hunde sind nicht mehr da. Ich frage mich, ob es richtig war, dass wir alle unsere Häuser verlassen haben und nach Norden gezogen sind. Häuser brauchen Menschen, die in ihnen leben, sonst sterben sie. Ich habe das Gefühl, um mich herum stirbt das ganze Viertel.«

Adrianas Tränen fallen auf das Papier. Schnell wischt sie mit dem Tuch die Tropfen weg. Die Schrift darf nicht zerstört werden. Das Erbe ihres Vaters, so anfällig gegen Wind und Wetter und Zerstörung. Sie ordnet den Stapel noch einmal. Steht auf, geht wieder zum Toilettenwagen. Legt zwischen die einzelnen Seiten jeweils ein Papierhandtuch. Geht zur Mülltonne, sucht vorsichtig mit der einen Hand darin herum. Zieht eine Plastiktüte heraus, prüft, ob sie sauber und trocken ist, und legt das Fahrtenbuch hinein. Die Plastiktüte verschwindet in der Umhängetasche.

Obwohl die Bluse noch nass ist, zieht sie sie wieder an, ebenso die Unterhose. Die Stiefel warten direkt hinter dem Sitzkasten. Fühlen, ob Tiere sich darin verstecken. Nein. Das Messer ist noch da. Adriana wirft einen letzten Blick zurück. Nichts deutet darauf hin, dass hier jemand geschlafen hat. Außer der leichten Vertiefung im Sand, die ihr Körper hinterlassen hat. Sie läuft los, sieht auf die Uhr. Halb sechs. In einer halben Stunde soll sie anfangen zu putzen. Sie muss etwas essen. Früher gab es am Bahnhof einen Kiosk, der rund um die Uhr geöffnet hatte. Mit schnellen Schritten erklimmt sie den Deich.

Fünfzehn Euro hat die Telefonkarte gekostet. Plus dreißig Cent für ein trockenes Brötchen. Wird ihr Geld reichen, bis der Mörder ihr gibt, was ihnen zusteht? Außerdem bekommt sie Lohn für das Putzen. Sie weiß nicht, wann. Nach einer Woche? Einem Monat? Egal, sie bereut es nicht. Die Karte an die Brust gepresst, geht sie über die Brücke und sucht nach einer Telefonzelle. Hier stand früher eine. Nicht mehr da. Weiter. Drüben bei der Kaufhalle, drei nebeneinander. Auch weg. Adriana fühlt die Panik kommen. Nicht hektisch werden, sie darf nicht auffallen. Sie läuft weiter. Sieht auf die Uhr. Noch fünfzehn Minuten. Der Kirchturm. Vor der Kirche hat sie manchmal mit der Großmutter auf der Bank gesessen. Rechts, an der Ecke zum Pfarrhaus. Zwei Telefonzellen. Schneller. Der Kirchplatz, das Pfarrhaus. Noch da! Erleichtert zerrt sie an der Tür. Offen. Hebt den Hörer ab. Freizeichen. Schiebt die Karte hinein.

»Hallo! Wer spricht?«

Ruhig, sie darf sich nichts anmerken lassen.

»Lili?«

»Mama! Es ist Mama! Wo bist du?«

Bevor sie antworten kann, ertönt hinter Lili vielstimmiges Geschrei. Adriana lächelt. »Lili? Hörst du mich?« Keine Antwort. Sie hört das Geräusch von Schritten. Lili rennt mit dem Telefon über den Hof.

Ihr Blick wandert durch das Fenster der Telefonzelle zum Pfarrhaus. Noch ein Fenster hinter dem Fenster. Eine Frau, die vorsichtig Wasser in eine Kanne füllt. Die Pastorin! Sie ist immer noch hier.

»Adriana! Frau! Wo bist du, was hast du getan?« Florin. Adriana schluckt die aufsteigenden Tränen herunter.

»Du bist zurück.« Es ist gut, dass er bei den Kindern ist. »Gab es keinen Vertrag mehr für dieses Jahr?«

»Wo bist du? Warum bist du fortgelaufen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin bald bei euch, Florin. Es wird alles gut.«

Seine Stimme klingt jetzt ruhiger. »Deine Mutter ist krank vor Sorge. Wann kommst du?«

Sie kann die Tränen nicht länger zurückhalten. »Bald«, flüstert sie und legt auf.

Einen Augenblick lang steht sie einfach da, an die kühle Glaswand der Telefonzelle gelehnt. Dann zieht sie die Karte aus dem Schlitz, geht nach draußen. Sieht zum Pfarrhaus hinüber. Beim Anblick der Pastorin ist ihr eingefallen, dass die Großmutter hier begraben liegt. Die Stiefel wollen nach links, zum Friedhof. Am Grab sitzen, der Großmutter erzählen, was geschehen ist. Warum sie allein in Deutschland zurückgeblieben ist. Doch die Großmutter muss warten. Adriana nimmt sich vor, mit der Pastorin zu sprechen. Was kostet es, die Großmutter nach Hause zu bringen? Es war Vaters Wunsch. Später. Noch hat sie das Geld nicht. Noch muss sie putzen.

Als sie an der Garage des Mörders vorbeikommt, bleibt sie kurz stehen, lauscht. Es ist kein Ton zu hören. Sie läuft weiter, öffnet die Tür am Ende der Reihe mit dem Schlüssel, den sie an einer Schnur um den Hals trägt. Die Neonröhre flackert auf. Sie nimmt den Kittel vom Haken, hängt stattdessen ihr Schultertuch daran und die Umhängetasche. Zieht den Kittel an. Steckt den Schlüssel in die Tasche, um sich das Kopftuch festzubinden. Hält inne.

In der rechten Kitteltasche steckt ein Zettel. Adriana holt ihn heraus, stellt sich direkt unter die Neonröhre. »Heute Abend, 23 Uhr. In der Wohnung.« Sie liest die Worte noch einmal. Ein drittes Mal. Ihr Herz klopft.

»Bald«, flüstert sie wieder. Bald wird sie auf dem Weg nach Hause sein.

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